Autopsie der dünnen Krimis -1-

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Es mag Zufall sein, dass meine Krimilektüre der letzten Wochen vorwiegend aus sogenannten „dünnen Romanen“ bestand, zwischen 149 und knappen 220 Seiten stark. Dass mir die vier Werke ausnahmslos zusagten, ist wohl ebenfalls Zufall, denn die Aussage, ein dünner Krimi sei zugleich ein gelungener Krimi, taugt natürlich ebenso wenig zur ernsthaften These wie die Mutmaßung, mit der Zunahme der Seitenzahl nehme die Qualität eines Werkes ab. Aber betrachten wir uns die „Dünnen“ etwas genauer.
Es sind die folgenden: Hannelore Cayre, „Der Lumpenadvokat“ (149 Seiten, Besprechung folgt), James Sallis, →„Driver“ (159), Mechtild Borrmann, →„Morgen ist der Tag nach gestern“ (222) sowie Joe R. Lansdale →Rumble Tumble“ (218).

Von einer Renaissance der dünnen Krimis kann dennoch nicht die Rede sein. Nach wie vor erfreut sich das Dickleibige größter Beliebtheit, was – man glaubt es kaum, aber es ist wohl wirklich so – auch eine Frage der Kosten-Nutzen-Rechnung ist. Wenn ich 400 Seiten für 7,95 bekommen kann – warum soll ich dann 8,95 oder mehr für 200-Seiter bezahlen?

Das war nicht immer so. Bis in die achtziger Jahre hinein galt zumindestens in Deutschland die Regel, ein Krimi sei nur als Taschenbuch sowie bei einem Umfang von 160-200 Seiten genießbar. Dies traf u.a. für die berühmte Schwarze Rowohlt-Reihe zu, aber auch für Bastei- und Ullsteinkrimis. In seiner editorischen Notiz zum neuaufgelegten „Umweg zur Hölle“ (über 400 Seiten und trotzdem hervorragend!) von Ross Thomas schreibt Erstherausgeber (1984) Martin Compart:

„Eines Tages entdeckte ich, daß mein Vorgänger als Herausgeber der Ullstein-Krimis einen Titel von Ross Thomas ausgelassen hatte: Chinaman’s Chance. Der Grund war simpel: Das Buch war zu umfangreich. Das war eine Zeit, in der ein Reihentitel nicht mehr als 5,80 DM kosten durfte. Zuvor hatte man sich sich von 2,80 DM darauf hochgearbeitet. Aus diesem Grunde gab es in den 70er Jahren auch eine Periode, in der jeder Ullstein-Krimi (…) nur acht Druckbogen haben durfte.“

Der Krimi als billige, nur bis zu einer gewissen finanziellen Schmerzgrenze vom Publikum tolerierte Lektüre – diese Zeiten sind vorbei. Dass, um in diese Schablone zu passen, so manches Werk von harter und mehr oder weniger unbeholfener Hand zurechtgeschnitten werden musste, hoffentlich auch.

Es hat sich also etwas getan, was das Ansehen, den Wert von Kriminalliteratur anbetrifft. Und das wiederum ist mit eine Erklärung für das immer voluminöser werdende Format des Krimis. Positiv: Er brauchte sich nicht mehr auf die Verarbeitung der üblichen Versatzstücke zur Spannungserzeugung zu beschränken. Negativ: Er driftete immer weiter auf das Gebiet des „Nichtnurkrimis“ und bediente sich des Kriminellen lediglich als Vehikel für etwas anderes, literarisch scheinbar Höherwertiges.

Doch bevor wir dies näher untersuchen wollen, seien zunächst die Parameter benannt, die das Volumen eines literarischen Werkes bestimmen. Ganz simpel: WAS WIE WOZU WARUM geschrieben wird.

Kommen wir zunächst zum WAS. Es scheint auf der Hand zu liegen, dass komplexe Inhalte und verwickelte Plots nur in Langtexten jenseits der 300-Seiten-Marke zu bändigen sind. Als Referenzwerk sei meine aktuelle Lektüre herangezogen, Bernadette Calonegos „Unter dunklen Wassern“. Eine Schweizer Historikerin reist nach Kanada, um eine Ausstellung zum Werk der Dichterin Elsa Seel vorzubereiten, die 1927 Berlin verließ, um einen ihr bis dato völlig unbekannten Trapper zu heiraten und ihm in die Wildnis zu folgen. DIe Reise der Historikerin hat jedoch noch einen zweiten Grund. Vor drei Jahren starb just in der Nähe von Seels Wohnort der Mann unserer Protagonistin bei einem mysteriösen Flugzeugabsturz.

Hier greifen also zwei Plots ineinander: die Suche nach Lebenszeugnissen der Dichterin und dem „Geheimnis“ ihres Ausstiegs aus der Zivilisation sowie die eigentliche Krimihandlung, die rasch zu einem Geflecht von Intrigen und „höheren Interessen“ anschwillt. Kein Wunder, dass hier locker 380 Seiten zusammenkommen, man hat dergleichen schon in wesentlich dickeren Schaden zur Kenntnis nehmen müssen.

Unsere vier Dünnen jedoch stehen dieser Komplexität kaum nach. In Sallis’ „Driver“ geht es um ein komplettes Welt-Bild; Cayre beschreibt die Mechanismen eines korrupten und zynischen Rechtssystems; Lansdale lässt seine Helden ähnlich unstet und verwicklungsreich durch den US-amerikanischen Süden und Mexiko reisen wie Calonego ihre Historikerin durch den kanadischen Norden. Und Mechthild Borrmann beleuchtet die Hintergründe eines Brandanschlags gleich aus drei verschiedenen Perspektiven.

Wo also liegt der Unterschied? An Calonegos Text fällt auf, dass ständig gefragt wird. Es geschehen mysteriöse Dinge, es kommen Rätsel ans Tageslicht, alles, aber auch wirklich alles wird „hinterfragt“. Das ist nicht durchgängig überflüssig, sondern entspricht der tradierten Vorstellung von Detektion als Erkenntnisprozess.

„Unter dunklen Wassern“ als FILM wäre eine Mischung aus traditioneller Bilderslideshow und ständigen Rückblenden sowie entweder „inneren Monologen“ oder eingeschobenen Dialogen, in denen sämtliche Fragen gestellt und beantwortet werden. Die Bilder selbst wären dabei nur Abbildungen, keine Container für Symbolisches und Atmosphärisches, wie sie es etwa bei Sallis sind. Als Filme überzeugen auch Lansdales und Cayres Krimis. „Rumble Tumble“ wegen seinem schnörkellosen Drive, „Der Lumpenadvokat“ wegen der Plastizität der Bilder, der Dramaturgie und dem Zusammenschnitt. Borrmanns Buch, eigentlich Musterbeispiel für polizeiliches Ermitteln, stellt nur die notwendigsten Fragen – und packt die Geschichte ganz einfach in ökonomische Bilder.

Diese kleine Filmanalogie vermag kein Urteil darüber zu fällen, ob ein Werk als ge- oder misslungen gelten kann. Sie kann allenfalls andeuten, wie das „Informationsdesign“ angelegt ist (und Bilder gehören beim Lesen unbedingt dazu). Bei Calonego sind die aufbereiteten Informationen verzehrfertig; bei den vier dünnen Krimis hat der Leserkoch letzte Hand vor der Mahlzeit anzulegen (Man kann das auch drastischer ausdrücken: Bei Calonego ist vieles schon vorgekaut und muss nur noch geschluckt werden).

Gezeigt werden sollte vor allem, dass dieses WAS über den Umfang eines Textes nichts, aber auch gar nichts auszusagen vermag, sondern untrennbar mit dem WIE verbunden bleibt. Dazu mehr in der nächsten Stunde.

8 Gedanken zu „Autopsie der dünnen Krimis -1-“

  1. Protestiert? Das sind die Folgen der antiautoritären Erziehung…aber stimmt: Die anderen machen blau. Na, dann ist wieder mal eine unangekündigte Klassenarbeit fällig…

    bye
    dpr

  2. oh mist, da stand ja IMMER NOCH auslesungsfee anobella. ich hab nämlich zur zeit einen langsameren rechner und in dem sieht man nicht, was man schreibt … schrift zu klein …

    *lernt für die klassenarbeit

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