Kurzkrimis sind kurze Geschichten, aber keine Kurzgeschichten. Das ist ihr Problem, aber auch ihre Chance.
Wir haben in der →vorigen Woche gesehen, wie sich der Krimi aus der Kriminalnovelle zum „vollwertigen Roman“ entwickelte, weil Spannungsaufbau und –auflösung an den Faktor (Lese-)Zeit gekoppelt wurden. Der Leser möchte „mitfiebern“, er möchte sich mit Personen identifizieren oder sich von ihnen abgrenzen, kurzum: Er möchte eine WELT vor sich entstehen sehen, ein in sich logisches und plastisches, sinnmachendes Zeichensystem. Dazu braucht es Raum.
Diesen Raum hat die Kurzgeschichte nicht. Autoren wie Hemingway oder, in Deutschland, Borchert war es nicht darum zu tun, ihre Texte als Nachbildungen der Welt und einiger ihrer Mechanismen zu konzipieren. Die Welt, aus der ihre Geschichten gerissen werden, bleibt als Hintergrundrauschen stets vernehmbar, sie ist für die Dinge, die da geschehen, verantwortlich, aber man kann sie nur selbst rekonstruieren, sie wird nicht mitgeliefert.
Kurzkrimis haben jetzt genau dieses Problem. Sie sind zunächst einmal Krimis und dazu gezwungen, das sinnmachende Zeichensystem, aus der sie ihre „unerhörte Begebenheit“ herausschneiden, wenigstens als erkennbares Muster zu installieren. Zu diesem Sinnmachenden gehören natürlich methodisch-logische Detektion, eine klare Benennung der Täterschaft, nachvollziehbare (und daher zumeist sehr rudimentäre) Psychologie und, über allem, Krimispannung: Ich weiß zunächst nichts, aber ich weiß, dass ich am Ende alles wissen werde, mich also auf einem Erkenntnisweg befinde. Und je länger dieser Erkenntnisweg ist (je länger also meine Unwissenheit anhält), desto schöner wird es sein, ans Ziel zu gelangen. Die meisten Kurzkrimis lösen das Problem, dass ihnen schlicht der Raum fehlt, solche Forderungen auch nur annähernd zu erfüllen, durch einen Parforceritt durch die Genrekonventionen. Wofür es im Roman Hunderte von Seiten braucht, das erledigt der Kurzkrimi im Schnelldurchgang.
Sehr schön sind zum Beispiel die „Kurzkrimis“, die Bäcker- und Metzgerhandwerk in ihren Kundenzeitschriften anbieten. Sie folgen überwiegend diesem Muster: Ein Mensch wird ermordet, ein Kommissar sucht nach dem Täter. Es gibt, sagen wir, drei Verdächtige, die der Kommissar in aller Kürze verhört. Verdächtiger A: „Ich habe den Mann nicht ermordet.“ Verdächtiger B: „Ich habe den Mann auch nicht ermordet“. Verdächtiger C: „Ich habe den Mann auch nicht mit einem Messer der Marke IMMERROST erstochen.“
Nach längerem und haarscharfem Überlegen kommt der Kommissar schließlich zu der eines Sherlock Holmes würdigen Erkenntnis, nur C könne der Täter sein, weil er Details über den Fall weiß, die allein dem Täter bekannt sein können.
Ein zweites Muster: Herr A. hat eine Geliebte. Leider ist Herr A. verheiratet. Er mischt seiner Frau über einen längeren Zeitraum Arsen ins Essen. Endlich stirbt die Frau. Aber der Mann stirbt ebenfalls, denn seine Frau hat einen Geliebten und ist selbst auf den Gedanken gekommen, ihren Mann zu vergiften. Eine weitere Steigerung wäre folgendes. Die Geliebte von A. und der Geliebte seiner Frau treffen sich, nachdem das Ehepaar tot ist, in einem Café und fallen sich um den Hals. Sie nämlich haben A und seine Frau zu den Taten angestiftet, um die beiden aus dem Weg zu räumen. Denn sie sind natürlich auch ein Liebespaar und können nun, da von den Toten testamentarisch bedacht, auskömmlich ihr weiteres Leben gemeinsam und in Ruhe verbringen.
Kein Zweifel: Man kann solche Geschichten in der kurzen Form gelungen erzählen. Aber es bleiben dennoch in sich geschlossene, sinnhafte Konstrukte, die den Genreerwartungen des Romans verpflichtet sind. Mit „Kurzgeschichte“ hat das wenig bis gar nichts zu tun.
Seit wann gibt es Kurzkrimis und woher kommen sie? Zunächst einmal ist auch das wieder eine Frage der Marktverhältnisse. Kurzkrimis gibt es, seit es Medien gibt, die sie veröffentlichen. Wenn mich nicht alles täuscht – aber es könnte mich täuschen, zugegeben -, sind sie zunächst (gemeint ist damit etwa die Mitte des 19. Jahrhunderts) Nachklänge und Variationen der heute so genannten „true crimes“, damals auch als „Pitavalia“ bekannt. In diesen Geschichten werden „merkwürdige Kriminalfälle“ beschrieben, wobei es nicht um Spannung, gar um Entspannung geht, sondern, sehr grob jetzt, um moralische und aufklärerische Absichten. Ein Verbrechen wird ausgebreitet, der Täter vorgestellt, seine Überführung, seine Verurteilung. Das lässt sich natürlich noch verkürzen (die „echten Pitavalia“ hatten nicht selten den Umfang längerer Erzählungen), auch müssen die Fälle nicht alle „wahr“ sein, man kann sie auch prima erfinden.
Irgendwann jedoch ließen sich damit keine LeserInnen mehr hinter den Öfen hervorlocken. Sie wollten SPANNENDE Geschichten, ÜBERRASCHENDE Geschichten, sie wollten mitkombinieren, mitleiden etc. Sprich: Sie wollten Krimis, aber eben kurze Krimis mit allen Ingredienzien des Genres. Einer der ersten „modernen“ Kurzkrimis findet sich in einem „Coulissen-Geheimnisse“ betitelten Band von 1869 mit Anekdoten aus dem Theaterleben, die im Stil der Zeit mit allerlei Gruselig-Lustig-Kriminellem angereichert sind. Der Autor bleibt anonym, kann aber als der Österreicher Moritz Bermann identifiziert werden.
Die Geschichte, um die es geht, heißt „Die drei Schauspieler und die Kindsmörderin“, knappe 12 Seiten dünn. Wir lernen drei noch ziemlich junge Musensöhne kennen, die sich in diversen Caféhäusern verlustieren, über die „Philister“ schimpfen und das schönere Geschlecht mit Avancen verwöhnen. Eine der so Beglückten ist Bedienerin in einer solchen Lokalität, man tändelt mit ihr, doch die Sache bleibt im Verbal-Harmlosen. Kurze Zeit später jedoch erhalten alle Drei Vorladungen zu einer Gerichtsverhandlung. Warum? Das wissen sie nicht. Erst während der Verhandlung erfahren sie den Grund. Eine junge Frau – besagte Bedienerin – ist des Kindsmordes angeklagt und hat einen der drei Schauspieler als Erzeuger der unerwünschten Leibesfrucht angegeben. Sie tritt nun auf und soll von Angesicht zu Angesicht den Urheber ihrer Not benennen.
Clou der Geschichte ist, dass die Kindsmörderin unsere drei perplexen Helden nur deshalb vor Gericht zitieren ließ, um selbst dort erscheinen zu können. Denn der Vater des von ihr ermordeten Kindes ist Angehöriger dieses Gerichts und bei der Befragung der Schauspieler anwesend. Ihn nun mit seiner Tat direkt zu konfrontieren, war das Ziel des ganzen Unternehmens, bei dem die drei Schauspieler nichts weiter waren als zufällig ausgewählte Staffage.
Hier haben wir auf wenig Raum alle Genrezutaten versammelt. Es wird lustig gescherzt und plötzlich bricht das Unglück herein (Fallhöhe). Drei Menschen werden einer Tat beschuldigt – wer von ihnen hat sie begangen (Suspense)? Und am Ende die überraschende Auflösung. Schön gemacht, das würde von seiner Dramaturgie her auch heute noch jedes Sammelbändchen Kurzkrimis zieren.
Aber nun zur Chance der kleinen kriminellen Form. Wenn ein Kurzkrimi kein kurzer Langkrimi sein kann, dann sollte er versuchen, etwas anderes zu sein, sprich: mit den Vorgaben experimentieren, bis etwas Neues entstanden ist.
Ein wunderbares und sehr gelungenes Beispiel hat Kerstin Rech für den Band →„Letzte Grüße von der Saar“ geschrieben. In „Der längste Tag des Bertram Hussong“ führt sie uns den Titelhelden als ein vom Land in die „Großstadt“ Saarbrücken geflohenes Muttersöhnchen ein. Er bestreitet seinen Lebensunterhalt durch kleine Diebereien und sucht zu diesem Zweck den Hauptbahnhof auf. Dort macht er sofort ein ideales Opfer ausfindig, einen Reisenden, der, offenbar völlig betrunken, auf einer Bank sitzt. Hussong setzt sich neben ihn. Der Mann kippt zu ihm rüber, Hussong muss ihn festhalten und entdeckt zu seinem Entsetzen, dass der Mann nicht betrunken, sondern tot ist, denn ein Messer steckt in seinem Rücken.
Bis hierhin hat Kerstin Rech die Genrekonventionen vorbildlich erfüllt. Jemand ist ermordet worden und ein anderer hat ein großes Problem damit. Genau jetzt aber pfeift sie auf die Konventionen. Der Mann sitzt einfach da, er kann nicht aufstehen, er kann nicht weggehen, da ja sonst der Tote umkippen und von der Bank rutschen würde. Der Bahnsteig ist nicht leer, man würde das beobachten. Hussong ist also für die nächsten Stunden völlig auf sich selbst zurückgeworfen, auf seine Armseligkeit, die Ausweglosigkeit seines Daseins. Er sitzt einfach da und ist gezwungen, den Alltag wahrzunehmen. Stundenlang, wie gesagt, bis sich endlich Bahnpolizisten nähern und der Spuk Gott sei Dank ein Ende hat.
Bei Rech wird der Kurzkrimi tatsächlich zur Kurzgeschichte. Die „unerhörte Begebenheit“ Mord reißt den Helden für ein paar Stunden aus der Verlogenheit seines Lebens in den tristen Alltag, an dem er längst gescheitert ist. Als „Kriminalroman“ könnte dies niemals funktionieren, weil Rechs Absicht nur darin liegen kann, diesen Übergang zur Erkenntnis zu beschreiben, aber kein komplettes Sinnsystem (zu dem etwa die Frage gehören würde, wer denn nun den Mann warum ermordet hat oder ob Hussong seine Unschuld beweisen kann) zu entwickeln.
Fazit: Kurzkrimis können Kurzgeschichten sein. Oder kurze Geschichten bleiben. In ihrer avancierten Form müssen sie alles ignorieren, was in KriminalROMANEN Sinn macht: die Dramaturgie, die Psychologie, die Logik der Aufklärung, die Spannungs- und Unterhaltungserwartungen der Leser. Dann sind sie Kurzgeschichten. Etwas sehr Eigenes.
erst dachte ich, ja, schon.
aber es gibt autoren, die DOCH ihre figuren in einer kurzgeschichte schneller packen als andere in einem ganzen roman.
aber das schließt du glaube ich doch nicht aus.
Nö, schließe ich nicht aus. Wobei man jetzt natürlich über die Natur des „Packens“ reden müsste. Manchmal kann es notwendig sein, eine Figur eben NICHT zu packen, sie im Vagen zu lassen. Kommt immer auf die Funktion der Figur für die Story selbst an.
bye
dpr