Liebes Fernsehen!

Neulich hast du in deiner Dauersendereihe „Tagesschau“ einen Kurzkrimi gezeigt. Zwei Jugendliche greifen hinterrücks einen Rentner an, schlagen ihn zu Boden, treten ihn und machen sich dann aus dem Staub. Später werden sie aber gefasst, ein Türke und ein Grieche. So weit, so üblich.

Ich weiß natürlich, dass solche Filmchen Produkte der Fiktion sind und, wie es so schön heißt, „die Wirklichkeit nicht eins zu eins abbilden“ können. Das ist so, als würde ich einen Film zeigen, in dem ein Alevit seine Tochter ein wenig zu lieb hat oder ein paar Bodenseefischer schlimme Finger sind. Soll vorkommen, sogar von Katholiken, die der Sodomie ergeben sind und von Unternehmensberatern, die ihre Kunden bescheißen, hat man schon gehört, käme aber nie auf die Idee, jetzt alle Katholiken und alle Unternehmensberater… du verstehst? Schön.

Ich hatte also den Film (hieß er nicht „Jagdszenen aus der Münchner U-Bahn“?) schon fast vergessen – wozu ich sagen muss, er hat mir auch nicht so gut gefallen; kannst du nicht mal einen Film drehen, in dem ein Halbdutzend jugendlicher Neonazis ein kleines türkisches Mädchen quälen? Solls gegeben haben, aber leider waren keine Kameras dabei – also ich hatte das schon fast vergessen, so wie ich alles irgendwann vergesse, was du so in deiner Tagesschau anbietest: den unrasierten Pfälzer z.B., der immer von „Mindestlohn“ redet oder den Chefliberalen, der „mehr unternehmerische Freiheit“ fordert und „weniger Staat“, aber selbstverständlich nichts dagegen hat, wenn der Staat für die unternehmerische Freiheit, Hungerlöhne zu zahlen, in die Bresche springen muss: Fiktion, sag ich nur, das sind irgendwelche Schauspieler, denen geht das alles am Arsch vorbei, weiß man doch.

Aber kaum hatte ich besagtes Filmchen schon fast vergessen, da ist folgendes passiert: Ein Herr Koch aus Hessen – wohl ein etwas schlichtes Gemüt, wenn ich mal so sagen darf – hat den Film aus der Münchner U-Bahn für DIE WIRKLICHKEIT gehalten. Er hat nicht gesagt: Okay, der Film zeigt uns zwei Jugendliche, die einen Rentner zusammenhauen, und das hats immer schon gegeben, ist nicht schön und muss bestraft werden, nein, der Herr Koch aus Hessen hat sich gedacht: Ui! Ausländische Jugendliche hauen deutsche Rentner zusammen! Und nichts passiert! Die werden kaum bestraft und nicht ausgewiesen und gar nichts, wahrscheinlich kriegen die noch eine Prämie von der Rentenversicherungsanstalt.

Das ist jetzt aber so, als würden sich die Aleviten in Deutschland darüber beklagen, dass man sie allesamt zu Inzestlern abstempelt, nur weil einer von ihnen in einem Krimi das mit der Tochter gemacht hat. Oder nein, wahrscheinlich haben sich die Aleviten gesagt: Okay, der Film ist Fiktion, aber draußen an den Bildschirmen hocken ganze Heere von hessischen Kochs und halten das für DIE WIRKLICHKEIT. Die sehen einen Film, dem eine „tatsächliche Begebenheit“ zugrunde liegt oder doch zugrunde liegen könnte und machen aus dieser Fiktion, die aus einer potentiellen Faktizität heraus geboren wurde, die Wirklichkeit schlechthin.

Klingt kompliziert, aber so ist es, und ich würde diese Aleviten (oder die Bodenseefischer) verstehen, denn tatsächlich gibt es genügend schlichte Gemüter, die so etwas denken. Die denken sogar, dass dieser unrasierte Pfälzer, weil er von Mindestlohn faselt, sich irgendwie gegen die Verarmung hierzulande stemmen will oder dass der Herr Koch wirklich so schlicht ist, dass er glaubt, dieses Filmchen da sei eine „Abbildung von Wirklichkeit eins zu eins“. Dabei – und jetzt wird’s erst richtig kompliziert – ist natürlich auch dieser geifernde Herr Koch nur Fiktion! In „Wirklichkeit“ will er der einfach wiedergewählt werden und mit einem Filmchen, in dem Neonazis eine kleine Türkin quälen, wird er nicht wiedergewählt, jedenfalls nicht in Hessen, aber vielleicht in der Türkei.

Wir haben also eine reichlich vertrackte Situation: In einer Münchner U-Bahn-Station schlagen zwei Jugendliche einen Rentner zusammen (Fakt). In einem Tagesschau-Clip werden wir Zeuge dieses Vorfalls, der jetzt natürlich fiktiv ist, weil er im Fernsehen gezeigt wird, wo man uns die Wirklichkeit des Tages „zusammenstellt“, was ja allemal fiktiv ist, also wenn nicht das, was dann? Dieses Filmchen nimmt ein Herr Koch zum Anlass, den nationalen Notstand auszurufen (zur allgemeinen Wirklichkeit hochgerechnete Fiktion von Wirklichkeit). In Wirklichkeit ist dieser empörte Herr Koch aber ein Wahlkämpfer, der ein schönes Thema gebraucht hat, also auch eine Fiktion, die mit einer anderen Fiktion, die zum Fakt erklärt wurde, aber eben doch nur Fiktion ist, weil zehn Sekunden Film natürlich die Wirklichkeit nicht eins zu eins abbilden können, wie überhaupt nichts die Wirklichkeit eins zu eins abbilden kann, also diese Fiktion, der etwas Faktisches zugrunde liegt…

Nee, das ist mir zu kompliziert. Ich möchte dich nur bitten, liebes Fernsehen, in Zukunft immer so ein Spruchband über die Bildschirme laufen zu lassen, auf dem steht: „Sie sehen gerade ein Werk der Fiktion, das die Wirklichkeit nicht eins zu eins abbilden kann.“ Technisch kannst du das doch, bei diesem „Börsenticker“ geht’s ja auch. Und das bitte 24 Stunden lang, sieben Tage die Woche. In allen Programmen. Und morgen schreibe ich an die Zeitung, damit die das auch macht.

14 Gedanken zu „Liebes Fernsehen!“

  1. „Oder nein, wahrscheinlich haben sich die Aleviten gesagt: Okay, der Film ist Fiktion, aber draußen an den Bildschirmen hocken ganze Heere von hessischen Kochs und halten das für DIE WIRKLICHKEIT.“

    Richtig, lieber dpr.

    So is’s. Es nützt Dir wenig, wenn Du an die Fiktion glaubst, aber die Blogs der Welt auf den Spielfilm verweisen, in dem die Saarländer als frankophile Abspalter auftreten.

    Beste Grüße

    Bernd

  2. Als ich mir am Wochenende überlegt habe, in welcher Form ich was zum Thema absondern sollte, ist mir zunächst genau DAS Beispiel zu Nick Stones „Voodoo“ in den Sinn gekommen, das du witzigerweise →heute morgen thematisiert hast. Es zeigt, dass die gesamte Problematik Fiktion / Wirklichkeit eine Problematik Autor / Leser ist (oder Tatortautor – Tatortseher etc.). Die Rezeption eines Krimis (kaprizieren wir uns auf Krimi; gilt natürlich allgemein) koppelt die Fiktion des Textes an die Wirklichkeit des Lesers. Stone macht in „Voodoo“ UN-Truppen aus Bangladesh zu Vergewaltigern. Ein Leser reißt diesen Umstand aus seiner fiktiven Verankerung und zeiht Stone – verkürzt gesagt – des Rassismus. Das ist so, als würde ich Nabokov, weil in „Lolita“ ein Pädophiler am Werk ist, selbst pädophil nennen. So aber funktioniert die Fiktion der Literatur nicht. Sie funktioniert nur, wenn ich die dort ausgebreitete Fiktion als Binnenwirklichkeit begreife. Im Falle von „Voodoo“ also existiert nur der TEXT, aber als Gesamtes. Und ich kann nur dieses Gesamte mit MEINER Wirklichkeit verknüpfen. Was der Voodoo-Leser dagegen tut: Er scannt den Text nach Übereinstimmungen / Abweichungen von seiner Wirklichkeit. Dabei gerät ihm so ziemlich alles durcheinander, was einem beim Lesen nur durcheinander geraten kann: Autor und Protagonist, Fiktion und Fakt etc.

    bye
    dpr

  3. Durcheinander gerät auch der Leser. Weil er ja, wenn er Koch oder „Lolita“ nicht für eine Fiktion hält, auch seine eigenen Wirklichkeit nicht erfasst. Bzw. seine eigene Konstruktion der Wirklichkeit. Siehe die Auslassungen über das „perspektivische Erzählen“ in „Die Zeichen der Vier“, S. 37 ff.

  4. Hierzu passt der Vortrag von Steffen Martus auf den Joachim Linder verweist. U.A. kommt Martus auch auf den hedonistischen Lesertypus zu sprechen (rezeptionssoziologisch validiert). Soweit ich erinnere, seien das Leser, die keinem Lesekanon folgten, Bücher, die ihnen nicht taugen, schnell aus der Hand legten (also wie Georg), deren Lesegeschwindigkeit rapide in den Keller ginge, wenn die Lektüre unbequem wird und die (hier relevant) mit ihrer Lektüre Anschluss an ihre Lebenswelt suchten.

    Dieser Anschluss wirkt natürlich auf zwei Arten. Er nötigt einseitig Interpretationsmuster auf und führt zu dem im Krimibereich bekannten Phänomen, dass Cozyleser immer Cozys lesen, Hardboiler Hardboiled usw usf.

    Beste Grüße

    bernd

    (@JL: Er erklärt auch das Serienphänomen und hier schlägt Martus Gregoriou um Längen).

  5. Mit der Ausnahme, dass ich auch was lese, was ich grausig finde. Unter anderem habe ich 2 (in Worten: zwei) Krimis von Bottini gelesen. Und jetzt muss ich gerade Bücher von Martin Walser lesen. Das ist dann schon eine Strafe.

  6. Vielleicht aber sollte man die ‚Medienwirklichkeit‘, die dpr im Blick hat, überhaupt nicht mehr mit Fakt vs. Fiktion belästigen. Sie konstituiert etwas Drittes (das lt. Poe die Rezipienten zur „Half-Credence“ zwingt). Inwieweit dies nur ein terminologischer Einwand ist, müßte man noch überlegen.

    Grüße!

  7. Das ist zutreffend, lieber JL. Diese ganzen Begrifflichkeiten sind „polyvalent“. Wir arbeiten mit Definitionen von Schlagwörtern, die wir durch dieses Arbeiten erst definieren wollen. Vielleicht sollten wir uns auf den alten wissenschaftlichen Grundsatz besinnen, die Dinge zunächst einmal phänomenologisch zu beschreiben. Also einen (Krimi-)Text lesen und die „Wirklichkeit“, die er konstituiert, dreidimensional erfassen. Fragen Sie mich jetzt nicht, was in diesem Zusammenhang dreidimensional bedeutet…

    bye
    dpr

  8. Was wohl Dr. Gniffke und Herr Hinrichs zu Deiner Analyse sagen würden, lieber dpr?
    Was mir völlig fehlt, ist eine Differenzierung zwischen der „Fiktion“ des Fernsehens und die „Fiktion“ des geschriebenen Textes.

    Liebe Grüße
    Ludger

  9. Gniffke, Hinrichs? — ? —- Ich glaube nicht, dass eine Differenzierung Film / geschriebener Text das eigentliche Problem ist. Betrachten sollte man den „Defaultwert“, den die unterschiedlichen Medien mitbekommen. Also „Tagesschau“ = Wirklichkeit, Krimi = Autorenphantasie.

    bye
    dpr

  10. Lieber dpr,

    Film/Text: Mag nicht DAS Hauptproblem sein, ist aber in der Wahrnehmung, wie die unterschiedlichen Medien rezipiert werden schon unterschiedlich und hat ggf. Auswirkungen darauf, für wie „wahr“ etwas angesehen wird.

    Gniffke und Hinrichs würden vermutlich sagen, dass ihre Sendung versucht, ein Abbild der Wirklichkeit zu schaffen/zu sein, als „Fiktion“ würden sie es sicher nicht sehen. Nur mal so als Einwand.

    Innerhalb dieser Diskussion liegt für mich das Hauptaugenmerk natürlich auf den fiktionalen Texten. Das sich Texte, auch im Bereich der Literatur, die sich mit Kriminalität beschäftigen, als „semifiktional“, „dokumentarisch“ „wahre Romane“ (beliebig fortsetzbar) bezeichnen, ist ja nicht neu. Das gab es in unterschiedlichen Ausprägungen vom Sensationsroman über Capote bis in die Gegenwart (z.B. Carles Porta) schon länger.

    Liebe Grüße
    Ludger

  11. Genau das meine ich, lieber Ludger. Ein „authentischer Kriminalfall“ (nehmen wir der Einfachheit halber „Tannöd“) wird unter anderen Faktenaspekten betrachtet als ein „fiktiver Roman“ (z.B. Sallis‘ Driver). Fiktiv sind natürlich beide, und dass bei Tannöd ein „authentischer Fall“ zugrunde liegt, ändert daran nichts. Tannöd ist genauso wenig oder so sehr wahr wie Driver. — So, ich mach mich jetzt auf die Socken, Feierabend.

    bye
    dpr

  12. Lieber dpr,

    das ist mir schon klar, ich glaube, wir reden da aneinander vorbei. Das Romanautoren schon immer mit der „Echtheit“ gespielt haben, habe ich oben erwähnt. Es geht mir um eine differenzierte Unterteilung von Texten, die nicht Fiktion sein wollen. Bleiben wir bei dem Beispiel „Tannöd“: Peter Leuschner würde vermutlich nicht sagen, er hätte mit seinem Buch „Hinterkaifeck – Der Mordfall“ „Fiktion“ geschrieben. Allein die Erzählhaltung ist in „Sachbüchern“ oft eine andere als im „fiktiven“ Text. Von der Intention des Autors, „die Wahrheit zu schreiben“ mal ganz abgesehen.

    Schönen Feierabend
    Ludger

  13. Dass Sachbücher keine Fiktion sein wollen, ist sicher richtig. Sie sind es aber. Sicher eine „andere“ als ein Kriminalroman, aber dennoch. Richtig ist auch, dass ich als Leser an ein Sachbuch anders rangehe, „Fakten“ erwarte und ja auch in der Regel bekomme. Ich darf mich bloß nicht der Illusion hingeben, etwas anderes zu lesen als fiktiv zugerichtete Faktizität. Manche Krimis sind dagegen „faktische Fiktion“, also frei erfunden – und dennoch realitätsnäher.

    bye
    dpr

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