Matthew Pearl: Die Stunde des Raben

Man erfindet nicht ungestraft den „Krimi“ und stirbt dann auch noch unter mysteriösen Umständen. Das rächt sich in der grenzenlosen Phantasie der Nachgeborenen, die, ganz im Stil Auguste Dupins, des ersten Detektivs der Weltliteratur, so manche Theorie zusammenschustern und manchmal gar auf die Idee kommen, Romane zu schreiben. Edgar Poe als fiktive Figur. Louis Bayards „The Pale Blue Eye” zeigte jüngst den Kadetten Poe als kriminalistisch Hochbegabten, zuvor durfte Poe als Zehnjähriger in Andrew Taylors „Der Schlaf der Toten“ durchs Genre geistern. Und jetzt geht Matthew Pearl ans Eingemachte. Sein „Die Stunde des Raben“ ist nichts weniger als der Versuch, Licht ins Dunkel von Poes Ableben zu bringen.
Quentin Clark ist ein junger, aufstrebender Anwalt in Baltimore, zugleich Verehrer des Poeschen Werks.

Zufällig wird er Zeuge einer Beerdigung und erfährt kurz darauf, wen man da zu Grabe getragen hat: seinen Abgott himself. Clark ist außer sich. Man diffamiert sein Idol, totgesoffen habe sich der gute Mann, ein heruntergekommener Schmierenliterat eben, Schwamm drüber. Immer obszessiver wird Clarks Verlangen, Poe zu rehabilitieren und „die Wahrheit“ herauszufinden. Alles will er dafür opfern: die berufliche Karriere, das sich anbahnende Liebesglück an der Seite eines hübschen Mädchens aus gutem Hause, seine Ehre. Schließlich verfällt er auf eine wahnwitzige Idee: Hat Poe denn seinen Auguste Dupin nicht nach einem realen Vorbild modelliert? Und wer könnte den Fall klären, wenn nicht dieser Prototyp? Clark fährt umgehend nach Paris und begibt sich auf die Suche nach dem Ur-Dupin. Sein Pech: Er findet gleich zwei…

„Die Stunde des Raben“ beginnt mit einer kaum zu befriedigenden Lesererwartung, der nämlich, der Plot ziele tatsächlich darauf, die Todesumstände Poes klar zu benennen. Das wäre schiefgegangen und also hat es Pearl gar nicht erst versucht. Denn bis heute stehen sich zwei, drei Versionen ohne die Chance einer Verifizierung gegenüber. Entweder ist Poe tatsächlich an Alkoholvergiftung gestorben oder er wurde das Opfer sogenannter „Wahlmänner“, die ihn misshandelten und zur mehrfachen Stimmabgabe zwangen. Eine dritte Version sei am Rande erwähnt: Poe starb an Tollwut, die er sich beim Kontakt mit einer Katze zugezogen hat.

Was also könnte uns Pearl bieten, außer einer weiteren auf Thrill gebürsteten Schauergeschichte? Die Story beginnt wenig vielversprechend. Clark ist ein nervöser Charakter, offensichtlich zwischen der prosaischen Wirklichkeit und der flirrenden Gedankenwelt hin und her gerissen. Damit soll eine Art Poe’sches Seelenambiente geschaffen werden, es ist jedoch ein wenig zu durchsichtig inszeniert. Aber nach und nach bekommt Pearl seinen Stoff in den Griff. Clarks Suche nach der Wahrheit konzentriert sich weniger auf diese Wahrheit selbst, sondern schiebt den Wettbewerb der beiden Dupin-Anwärter in den Mittelpunkt. Introvertierte Deduktion versus extrovertierter Aktionismus. Daraus entwickelt sich schnell eine turbulente Handlung mit allen Ingredienzien von Kriminalliteratur. Ventiliert wird nicht mehr die ursprüngliche Frage des „Wie starb Poe?“, sondern ein krimitypisches „Wer macht da was aus welchem Grund?“.

Eine Analyse des Poeschen Werks steht nicht zu erwarten. Was historisch verbürgt ist, verknüpft Pearl geschickt mit seiner Fiktion. Man nennt solche Romane auch „prall“; sie vertrauen auf die Kraft des Narrativen, möchten gut unterhalten, Atmosphäre vermitteln, interessante Charaktere und Situationen erschaffen. Das gelingt Pearl wenigstens teilweise. Ein Manko bleibt bis zum Schluss die Figur seines Protagonisten Clark. Er ist eben nicht nur nervös, er nervt auch mit seiner Exaltiertheit und Naivität. An manchen Stellen hat man zudem den Verdacht, Pearl versuche ernsthaft, in Konkurrenz zu den großen Autoren der „prallen Romane“ zu treten, zu Charles Dickens etwa. Was scheitern muss und auch scheitert. Bei Pearl wirkt das alles ein wenig zu pittoresk, zu gewollt. Also kein großer Wurf, allenfalls guter Erzähldurchschnitt für behaglich-oberflächliche Lektürestunden.

Die eigentliche Frage, wie denn nun Poe ums Leben gekommen ist, beantwortet Pearl wenig spektakulär. Er hält sich auch hier an die Fakten und entwickelt seine Version streng nach den Maßstäben des Poeschen Detektivs. Das ist angemessen. Wer allerdings wissen möchte, wie Poe GELEBT hat und warum er ewig in seinem Werk weiterleben wird, der wird es schon lesen müssen, dieses Werk.

Matthew Pearl: Die Stunde des Raben. 
Droemer / Knaur 2007
(Original: “The Poe Shadow“, 2006, deutsch von Karl-Heinz Ebnet).
576 Seiten. 19,90 €)

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