Krimikritik 2308: Jan Seghers‘ „Partitur des Todes“

„Mit ‚Partitur des Todes‘ ist Jan Seghers der perfekte Kriminalroman gelungen.“
Pause.
Und nachdem sich Anne Chaplet von ihrem Ohnmachtsanfall erholt hat: Das ist doch nur ein Zitat. Der Rezension eines leider anonymen Kritikers aus dem Jahr 2308 entnommen. Interessant, was der Mann (die Frau?) so schreiben wird…

Da uns zur Analyse des deutschen Kriminalromans des Jahres 2008 leider nur o.g. Werk des Frankfurter Autors Jan Seghers (d.i. Matthias Altenburg) als Referenzwerk zur Verfügung stand, gingen wir mit der angebrachten Vorsicht und Skepsis an die Exegese. Inwieweit kann „Partitur des Todes“ pars pro toto für die Krimiproduktion dieses Jahres stehen?

Nun, es zeigte sich schnell, dass Seghers Buch eine bereits in den Jahren zuvor festgestellte Tradition fortschreibt. Schon die Expositionsszene ist maßgeschneidert und trifft den Geschmack weiter Teile der damaligen krimilesenden Bevölkerung. Georges Hofmann, ein ältlicher Franzose, früher Besitzer eines kleinen Varietés, wird nach sechzig Jahren von der Vergangenheit eingeholt. Er, der als Kind vor den Nazis aus Deutschland flüchten musste, erhält ein Päckchen, auf dem der Name seines Vaters vermerkt ist sowie als Absendeort „Auschwitz“. In Auschwitz wurden Georges‘ Eltern ermordet. Das Paket enthält Papier, indes wertvolles Papier, eine bislang unbekannte Partitur des bekannten Operettenkomponisten Jacques Offenbach, deren Wert in die Millionen geht.

Bereits hier sehen wir mit Bewunderung, wie sich Seghers ein ziemlich großes Zielpublikum einladend heranwinkt. Denn die Kriminalromane jener Zeit spielten häufig entweder in der Vergangenheit (und wurden dann als „historische Krimis“ gerühmt) oder beschworen doch diese eindringlich. Dass Hofmann im weiteren Verlauf des Romans zur bloßen Randfigur verkommt, ist nicht einmal eine Schwäche des Buches, dazu später mehr. Zur Expositionsszene sei noch gesagt, dass sie die erstaunliche und in unserer Epoche partout nicht mehr nachvollziehbare Blauäugigkeit des frühen 21. Jahrhunderts geradezu idealtypisch vorführt. Wie naiv muss ein Mensch sein (wir meinen Georges Hofmann), dass er einen gleich zweifach wertvollen Besitz wie die Hofmann-Partitur einer ihm so gut wie unbekannten Journalistin anvertraut, auf dass diese in Frankfurt Verkaufsverhandlungen führen kann? Besagte Journalistin reist also mit dem Millionenwert im Gepäck nach Deutschland, um sich dort mit Leuten zu treffen, deren Seriosität sie kaum überprüft haben dürfte – und verschwindet dort. Ende Exposition.

(Zwischenbemerkung: Wir verweisen hier auf die generelle Naivität des 21. Jahrhunderts, die glaubte, Probleme einfach „aussitzen“ zu können. Was, wie allgemein bekannt, in die großen Umverteilungskriege von 2049 und 2111 mündete.)

Beginn Hauptteil. Auf einem Restaurantschiff am Mainufer werden fünf Menschen brutal ermordet. Kommissar Marthaler ermittelt. Und ermittelt. Und ermittelt. Nein, eigentlich gar nicht, denn vor allem wird gemenschelt, wie es auch schon in den Jahren vor 2008 üblich war. Der eine merkt plötzlich, dass er schwul ist, der andere erfährt von künftigen Vaterfreuden etc., also ganz so, wie es die damals modische Maxime des Mankellismus verlangte. Typisch auch die Verbrechen an sich. Sieben Morde geschehen insgesamt und als distanzierter Leser fragt man sich spätestens nach der Lektüre: Uh, waren die wirklich notwendig? Einer der Morde wird etwa nur deshalb unumgänglich, weil sich der Killer vor seinem Verbrechen stundenlang und ganz offen am Tatort herumgetrieben hat, aus Gründen, die nur er selbst nennen könnte, aber natürlich nicht wird, denn am Ende ist er – ein Glück für den sich vor dem nahenden Erklärnotstand gruselnden Autor! – mausetot. So erfahren wir auch nichts über seine Beweggründe, überhaupt die fünf Menschen auf dem Schiff zu töten. Er hätte es sehr viel einfacher haben können, völlig diskret und ohne Blutvergießen. Auch Mord Nummer 7 ist nicht eigentlich vonnöten, wird aber notwendig, weil ohne ihn die ganze Geschichte noch weitere 470 Seiten durch old Frankfurt mäandert wäre.

Mord als reines Spektakel, das der inneren Logik der Geschichte auch mal zuwiderlaufen kann – das wirft ein bezeichnendes Bild auf den deutschen Krimikonsumenten der Vergangenheit.

Wie nicht anders zu erwarten, führen Marthalers Ermittlungen schließlich zu Hofmann und dem Offenbach-Manuskript, aber doch eigentlich nicht, denn wenn irgendwo Auschwitz drauf steht, dann muss auch Auschwitz drin sein. Das kann man Seghers nicht vorwerfen, wie man ihm überhaupt nicht vorwerfen kann, das Thema nicht mit dem nötigen Fingerspitzengefühl zu behandeln. Die Geschichte der Familie Hofmann walzt er nicht aus, was gut ist, und da das frühe 21. Jahrhundert nicht nur naiv und weltfremd war, sondern auch ziemlich vergesslich, mag es wohl erforderlich gewesen sein, beständig „zu erinnern“.

Kommen wir zur Sprache. Zur Sprache? Welcher Sprache? Seghers schreibt sein Buch in der deutschen Sprache, die seit 2274 auch als tote Sprache geführt wird und höchstens noch in den Gebrauchsanweisungen alter Rasenmäher vorkommt, für deren Produktion Deutschland lange Zeit berühmt war. Liest man nun „Partitur des Todes“, so wird klar, warum die deutsche Sprache nicht einmal in ihrem Verbreitungsgebiet überlebt hat. Sie ist hier zum reinen Transportmittel heruntergekommen, auch auf dem Gebiet der Kriminalliteratur längst auf dem Niveau von Gebrauchsanweisungen. Wahrscheinlich, dass Seghers es hätte besser machen können. Aber wozu? Für wen? Hauptsache, das Lesen bereitet keine Mühen und man kann das Buch „nicht mehr aus der Hand legen“ (hier im übertragenen Sinne gemeint. Die Praxis, Buchdeckel mit einer dünnen Schicht Klebstoff zu überziehen, wurde erst 2016 eingeführt.)

Mit „Partitur des Todes“ ist Jan Seghers der perfekte Kriminalroman gelungen. Er verdeutlicht paradigmatisch, was man 2008 lesen wollte im ehemaligen Land der Dichter und Denker: Menschelndes, vergangenheitspralles, blutrünstiges, in Nebensätzen sozialkritisches, sprachlich neutrales Krimiwerk, das haarscharf an der Logik vorbeischrammt, aber gut gemeint ist. Keine Katastrophe, aber auch keine Offenbarung, ein „Krimi“ eben aus der guten alten Zeit, an dem das einzig wirklich Spannende die Frage ist, ob Jan Seghers irgendwann einmal einen zwar nicht stromlinienförmigen, aber irgendwie essentiellen Kriminalroman schreiben wird. Das (Handwerks-) Zeug dazu hätte er wohl.

aus dem Neuenglischen übersetzt von
dpr

Jan Seghers: Partitur des Todes. 
Wunderlich 2008. 476 Seiten. 19,90 €

Ein Gedanke zu „Krimikritik 2308: Jan Seghers‘ „Partitur des Todes““

  1. „haarscharf an der Logik vorbeischrammt, aber gut gemeint ist“: das merke ich mir, das gefällt mir. Wieder ein Buch, von dem ich schon vorher wusste, dass ich es nicht lesen muss und es jetzt von dir bestätigt bekomme. Danke für die gesparte Zeit.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert