Wer schreibt, hat zwei Leben. Das eine besteht aus Daten & Fakten, das andere extrahiert sich im Werk und aus diesem heraus. Zwischen den beiden gibt es Verbindungen, doch ist diese Form kommuzierender Röhren weitaus diffiziler als in der Physik. Manchmal existiert ein drittes Leben, eine Brücke zwischen der Nüchternheit biografischer Tatsachen und dem poetisch Chiffrierten. Einen solchen Glücksfall hat Frank Göhre für Friedrich Glauser erschrieben.
Frank Göhre gehört zu den wenigen Krimischaffenden hierzulande, die sich der Wurzel und des Stammes jenes Baumes, auf dem sie sitzen, bewusst sind. Ihm ist Glauser Zeitgenosse, einer, mit dem man nicht nur und zufälligerweise die Initialen gemeinsam hat, sondern auch die Attitüde des schöpferischen Geistes. Diese Vorgehensweise ist nicht unproblematisch; sie kann sogar peinlich werden, wenn sich ein minderer Autor seines begabteren „Gegenstands“ bemächtigt, sich „in ihn hinein versetzt“ und doch nur im eigenen Saft schmort. Aber peinlich wird es in „Mo“ (die Abkürzung für Morphium, nach dem Glauser die längste Zeit seines Lebens süchtig war) nie.
Von Anfang an vermeidet Göhre den Kardinalfehler der Interpretation. Weder erklärt er uns das Leben aus dem Werk noch das Werk aus dem Leben, ja, er enthält sich jeglicher Versuche, die Katastrophen und Maläsen der Glauserschen Vita zu er- und begründen. Dass Glauser die übermächtige und bedrückende Figur des Vaters für den Ursprung seines lebenslangen Leidens an sich selbst und der Welt identifizierte, erfahren wir zwar. Ob das aber nun „stimmt“? Dazu enthält sich Göhre wohlweislich. Stattdessen entwirft er mit wenigen Strichen ein ambivalentes Bild dieses Vaters, eines Handelschulprofessors, neben nicht weniger hingetuschten Charakteristika des Vormunds, des Psychiaters, der Freunde und Frauen, die Glauser eine Zeitlang begleiteten. Das alles in einer lockeren Episodenhandlung mit den entscheidenden Stationen der Glauserschen Odyssee durch Besserungsanstalten, Gefängnisse und Klapsmühlen.
Verwoben ist diese poetische Konstruktion mit kursiv abgesetzten Zitaten, nicht alle wohl O-Ton Glauser, aber sie passen in Göhres präzise Nach-Erzählung, bei der kein Wort zu viel, keins zu wenig ist. Voilà, das ist das dritte Leben des Friedrich Glauser.
Nicht dass wir ihn hernach „besser verstünden“. Wir sind ihm nach den 230 Seiten sehr nahe gekommen, so nahe, dass wir jenes Große-Ganze des wohlfeilen Urteils aus dem Auge verlieren, das abgeschlossene Verdikt vom „tragischen Leben“, das längst zum Markenzeichen einer starren Glauserkultur verkommen ist, zum Extrathrill, wenn wir dem Wachtmeister Studer die Kulissen der Glauserschen Existenz folgen. Armes Schwein, der Autor.
Nein, es ist eben viel komplizierter. Und Frank Göhre zeigt uns das mit verblüffend leichter Hand, hinter der nicht nur perfekte Beherrschung des Schreibhandwerks steckt, sondern auch die Annahme von der „Zeitgenossenschaft“, die fast zu einer Seelenverwandtschaft jenseits der historischen Tatsachen wird. Das bringt uns, wie gesagt, dem Glauser nicht näher, seinem Werk aber sehr wohl, weil es all das Schablonisierte relativiert, unter dem sich dieses Werk in eine gefällige Deutungsrichtung verformt hat. Also neu lesen, diesen Glauser, es könnte zu Überraschungen kommen.
„Mo – Der Lebensroman des Friedrich Glauser“ ist ein literarischer Solitär. Man wünscht sich mehr solcher Arbeiten.
Frank Göhre: Mo – Der Lebensroman des Friedrich Glauser.
Pendragon 2008. 231 Seiten. 19,90 €