Aus der Krimiwerkstatt 17/06/08

Am Anfang eines Kriminalromans steht eine Idee. „Der zu Unrecht beschuldigte X. macht sich, von der Polizei verfolgt, selbst auf die Suche nach dem Täter.“ So etwas. Aus dieser Idee entwickelt sich allmählich der Plot, ein Personentableau formiert sich, eine Dramaturgie, die wie ein Film im Kopf des Autors abläuft.

Eine Idee also: Drei Männer sind des Mordes dringend tatverdächtig. Die Ermittlungen der Polizei bleiben indes ergebnislos. Da entschließt man sich behördlicherseits zu einem Experiment. Wer, wenn nicht die Tatverdächtigen, deren bürgerliche Existenz vernichtet ist (dafür zu sorgen, ist der erste Schritt des Experiments…), sind motiviert genug, den Täter zu entlarven? Indem sie gemeinsam – und zugleich gegeneinander agieren. Man muss sie nur dazu bringen, auf diese Idee zu kommen… und das Ganze natürlich genauestens beobachten.

Der aus dieser Idee zu entwickelnde Kriminalroman trägt den Arbeitstitel – „Watching the Detectives“. Er bot sich einfach an. Zum Einlesen gibt es im Folgenden das erste, noch unkorrigierte Kapitel, in dem ein namenlos bleibender Polizeibeamter – anscheinend bei einer Tagung – nähere Informationen zum Experiment mit den Detektiven in eigener Sache gibt.

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Der da. Links der. Das ist Vollmann. Entschuldigung, wenn ich ein wenig schmunzele; ich erklär vielleicht später, worüber.
Ludwig Vollmann. Solider Name, ja? Ludwig Vollmann: 45 Jahre alt, kaufmännischer Angestellter im Außendienst, hat sich von Staubsaugern zu optischen Präzisionsinstrumenten hochgearbeitet, verheiratet, drei Kinder im schulpflichtigen Alter. Man sieht, dass es ihm gutgegangen ist die letzten Jahre. Körperfett von allerbester Qualität, der eine oder andere Sternefresstempel hat zugeliefert, auf den zahlreichen Dienstreisen des Vollmann, aber er war eben nicht nur gut essen, wenn er auf Tour war und Frau und Kinder weit weg.
Das ist jetzt das Einzelporträt. Wir haben von allen drei Verdächtigen schöne Polizeifotos gemacht! Gerne hätten wir den Herren gesagt, sie sollten sich doch etwas ins Zeug legen, schließlich würden die Bilder bald in der Presse erscheinen. Aber sie wollten nicht. Vollmann nicht mal frontal in die Kamera schauen. Deshalb wirkt das jetzt so, als hätte der Mann einen Sehfehler. Aber zurück zum Ausgangsfoto.
In der Mitte: Pascal Ratius. Das traut man dem gar nicht zu, oder? Ich meine – Sie wissen schon. Ein beruflich erfolgreicher Junggeselle, Unternehmer, wenn wir das etwas weiter fassen wollen, Unternehmer in einer Branche, die den Begriff des One Night Stand quasi erfunden hat, gutaussehend. Man steckt jedoch nicht drin. Ich hab schon Dinge in meinem Leben gesehen, ojoi, das glaubt keiner!
Ratius hat vor sieben Tagen die Schwelle zu den Fünfzigern überschritten, wie der Dichter sagen würde. Er hat als einziger der Verdächtigen noch volles, nicht ergrautes Haar, ein irgend wie liebenswerter, ewig Lausbub gebliebener Wuschelkopf, der das Ganze zuerst für einen Gag mit „versteckter Kamera“ hielt, aber den haben wir dann schnell vom Gegenteil überzeugt. Das Porträtfoto – hier – könnte der praktisch auch als Passbild verwenden. Teilnahmsloser Blick, der Psychologe meint, das läge an einem leichten Trauma, aber, unter uns: Das ist Quatsch, das sagen die immer, davon leben die.
So, und jetzt der Dritte. Logischerweise ganz rechts, Sebastian Wasmüller. Auch so ein solider Name. Mit 56 der älteste des Trios, auch der mit dem höchsten Bildungsabschluss, was mich aber noch nie irritiert hat oder eingeschüchtert. Kam mit seinem Anwalt angetanzt, einem sehr üblen Winkeladvokaten, wenn man mich fragt, clever, aber teuer. Wasmüller ist trotz seines Alters körperlich sehr fit. Und der einzige Nichtraucher unter den Verdächtigen, das sollte man erwähnen, weil wir bei Raucherverhören immer sehr schöne Erfolge erzielen, weil die Zeit auf unserer Seite ist. Sie verstehen? Halten Sie so einen drei Stunden vom Nikotin fern und er kollabiert. Okay – hat diesmal nicht geklappt.
Das Polizeifoto noch? Hier. Wasmüller empört, die Backen aufgeblasen. Was Sie hier nicht sehen können: Der Anwalt zeterte im Hintergrund, das sei nicht erlaubt, was wir hier machen würden. Wir dagegen: Es sei sehr wohl erlaubt. Die Herrschaften befänden sich allesamt im Verdächtigenstatus, könnten zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort gesehen worden sein, was zu verifizieren respektive falsifizieren – drücke ich mich verständlich aus? Danke. – nur durch intensive und vollständige Zeugenbefragung gelingen könne, wozu wir aber neutrale Fotografien benötigten. Haben Sie einen dieser drei Männer schon einmal gesehen? Wann? Wo? – Der Anwalt hat natürlich Dienstaufsichtsbeschwerde angedroht, ob er sie gestellt hat, davon ist mir im Moment nichts bekannt.
So weit das. Ach so: die Gruppenaufnahme. Unsere drei Verdächtigen nebeneinander sitzend, auf ziemlich unbequemen Holzstühlen vor einer schmutzig weißen Wand, die Kamera an der Decke. Das war in unserem Wartezimmer. Sie haben dort zwei Stunden gesessen, allein, verzweifelt, zerstört. Nachdem wir die ersten Schritte… aber ich sollte das vielleicht etwas genauer, chronologisch erklären.

Am 12. Februar diesen Jahres wurde, gegen 17 Uhr, die Leiche der zwanzigjährigen Annika Storch in ihrer Wohnung Akazienallee 34, dritter Stock, aufgefunden. Dort lebte die Storch zusammen mit zwei, hmhm, Freundinnen, wovon eine, die siebenundzwanzigjährige Gabi Heuer, auch die Entdeckerin der Toten gewesen ist. Die drei in der Akazienallee residierenden Damen gingen dem Gewerbe der privaten Prostitution nach. Sie gehörten – und was die beiden Mitbewohnerinnen der Storch anbetrifft: gehören noch immer – der sogenannten Luxusklasse an, was auch durchaus verständlich ist. Junge Mädels mit makellosen Körpern und jener gewissen Unschuld, jener Alltäglichkeit im Blick, Studentinnen könnten es sein (sind sie aber nicht; die Heuer hat Realschulabschluss, die beiden anderen sind über die Hauptschule nicht hinaus gekommen), blitzsaubere Matratzen, wie es der Pascal Ratius beim Verhör formuliert hat, keine, denen man das Metier an den Gesichtern ablesen kann.
Der sofort verständigte und zum Tatort geeilte Kriminaldauerdienst samt wissenschaftlich-technischem Anhang findet das Opfer nackt auf seiner Arbeitsstätte vor, einem französischen Bett. Die Hände der Annika Storch sind mit dem Gürtel ihres eigenen Bademantels auf den Rücken gefesselt, die Leiche weist zahlreiche Spuren massiver Gewaltanwendung auf, Hämatome, offene Wunden, gebrochene Rippen, die ganze Palette, wenn jemand wütend und rücksichtslos auf eine wehrlose Frau eindrischt. Der Tod selbst trat ein, nachdem der Täter den Kopf seines Opfers wiederholt und rustikal gegen die Wand hinter den Bett gehauen hat. Schädelbruch gleich in mehrfacher Ausführung, innere Blutungen. Als Tatwaffen haben die Hände des Täters zu gelten. Um es gleich vorweg zu nehmen: Wir haben an den Händen der drei Verdächtigen keine Spuren gefunden, die darauf hindeuten könnten, sie, die Hände, seien diejenigen welche. Wir gehen davon aus, dass der Täter dicke Handschuhe, Lederhandschuhe getragen hat.
Bei der Durchsuchung der Wohnung wurde ein kleines Notizbuch aus dem Besitz der Storch entdeckt, und in diesem Notizbuch standen die Namen der Stammkunden, welche das Opfer zu Lebzeiten in seinem Zimmer zu empfangen pflegte. Dreiundzwanzig Namen. Alle Achtung. In einem Papierkorb neben dem französischen Bett wurden drei gebrauchte Präservative aufgefunden, der Arbeitsnachweis für den 12. Februar, sozusagen, drei Kunden also hat die Storch an diesem Tag empfangen, und ich brauche hier nur am Rande zu erwähnen, dass wir von den dreiundzwanzig Stammkunden entsprechende Genproben entnommen und mit dem in den Präservativen befindlichen Sperma verglichen haben. Volltreffer. Die vollgespritzten Gummis befanden sich mit absoluter Sicherheit an diesem 12. Februar auf den Penissen der Herren Vollmann, Ratius und Wasmüller.
Was die drei denn auch, nach mehr oder weniger standhaftem Leugnen, zugaben. Ach ja, warum ich vorher bei der Nennung des Namens Vollmann ein wenig ins Schmunzeln gekommen bin: Das vollste Präservativ stammte von – Ludwig Vollmann. – Okay, kleiner Scherz. Das ist natürlich alles nicht zum Lachen.
Eigentlich muss man sagen, das so etwas eine Routineuntersuchung ist. Man hat drei Tatverdächtige, man verhört sie, irgendwann gesteht der Täter, der Fall ist abgeschlossen. Und wenn der Täter nicht gesteht, gibt es in der Regel genügend Indizien, die für eine Verurteilung allemal ausreichen. Das war hier leider anders.
Es begann damit, dass der Anwalt des Wasmüller äußerst spitzfindig darlegte, gerade der Fakt des „Abspritzens“ seines Mandanten entlaste diesen. Denn welcher Mörder befriedigt sich zuerst an seinem Opfer, lässt dieses das Gummi entsorgen und schlägt es dann tot? Es sei doch logisch, dass die Ejakulation in solch perversen Fällen gerade erst DURCH das Totschlagen des Opfers ausgelöst werde – und dann, meine Herren, in ein PRÄSERVATIV? Dass der Täter – das Opfer ist dazu ja kaum in der Lage – selbst ins Abfalleimerchen expediert? Kurzum: Die Tatsache des korrekten Orgasmus bei den Herren Vollmann, Ratius und Wasmüller entlaste diese vom Tatvorwurf ebenso wie die Tatsache der Stammkundschaft. Man fickt nicht 99 Mal ortsüblich und beim 100. Mal wie der Marquis de Sade. Zack, da standen wir aber dumm da.
Niemand kann uns vorwerfen, wir hätten geschlampt. Die Tatzeit kann auf die Stunde zwischen 16 und 17 Uhr eingegrenzt werden, nicht zuletzt, weil Sybille Korney, die andere der beiden Kolleginnen, kurz vor vier einen branchenüblichen Kontrollanruf bei der Storch gemacht hat. Die war nämlich den ganzen Tag allein in der Wohnung, der Rest des Kollektivs absolvierte Haus- und Hotelbesuche. Um 16 Uhr also lebte die Storch noch. Wasmüller gab zu Protokoll, die Dienste der Dame bereits vormittags, kurz nach zehn, in Anspruch genommen zu haben. Vollmann nutzte, nach eigener Aussage, die Mittagspause für seine hormonelle Reinigung, Ratius nennt halb drei als den Zeitpunkt seines Eintreffens in der Akazienallee 34. Er habe die Wohnung gegen halb vier verlassen, da habe ihm die Storch noch quietschvergnügt Küßchen auf die Wangen verabreicht und um baldige Wiederholung seines Besuchs gebeten.
Somit wäre Ratius unser Hauptverdächtiger, da am nächsten dran am Todeszeitpunkt. Das Dumme ist nur, dass es keine Zeugen gibt, die die Aussagen bestätigen oder ab absurdum führen können. Ist nicht vielleicht Vollmann NACH Ratius bei der Prostituierten vorstellig geworden? Oder Wasmann? Hat Ratius die Wohnung tatsächlich schon gegen halb vier verlassen? – Alibis für die Tatzeit hat keiner der drei Verdächtigen. War unterwegs, war allein zu Haus, bin spazieren gegangen, nein, keiner hats gesehen. Andererseits sind die Angaben zu den Besuchszeiten auch nicht durch neutrale Dritte zu entkräften. Keine Fingerabdrücke, keine sonstigen Spuren. Wir mussten die Burschen laufen lassen.
Und dann hatten wir diese Idee. Nein, es gibt keine Präzedenzfälle. Das ist schon auf unserem eigenen Mist gewachsen. Nicht ganz hasenrein. Vergleichen Sie es mit einem Balanceakt zwischen Recht und Gerechtigkeit. Nein, das ist jetzt Blödsinn. Nennen wir es lieber: Wir wollen Gerechtigkeit herstellen, ohne das Recht über Gebühr brechen zu müssen. Aber brechen müssen wir es schon; da führt kein Weg dran vorbei.
Ich muss aber etwas weiter ausholen. Wie Sie wissen, experimentieren wir seit geraumer Zeit mit der Opferhypothese. Sie ist einem altbekannten Sprichwort verpflichtet, dem, welches besagt, dass ein jedes Töpfchen sein Deckelchen findet und, folgerichtig, jedes Opfer seinen Mörder. Man müsste nur lange genug leben, weit genug herumkommen auf diesem Planeten, um einem zu begegnen, der einen ermordet. Wenn dem aber so sei, lautet die Hypothese, dann lässt sich aus dem Opfer ein Muster herausarbeiten, welches komplementär ist zum Tätermuster. – Ich weiß jetzt nicht, ob Sie die Powerpoint-Präsentation… Genau; darauf wollte ich hinaus. Wir haben uns lange, viel zu lange mit der Frage beschäftigt, welcher Natur diese Muster sein könnten. Genetisch bedingt? Wird man geboren und ist schon Opfer eines bestimmten Täters? Und Täter eines bestimmten Opfers? Oder formt die Umwelt letztlich diese Muster? – Das mag alles hoch interessant sein, aber es bringt uns nicht weiter. Schon die Ausgangshypothese ist ja dubios. Nicht jedes Töpfchen findet sein Deckelchen – und auf jedes Töpfchen passen eigentlich viele Deckelchen, genau genommen. Als Auswahlverfahren immerhin taugt diese Methode, da ist sie unverächtlich – ich verweise noch einmal auf die Powerpoint-Präsentation, das statistische Schaubild jetzt –, weil sie den Kreis der Tatverdächtigen eingrenzt.
Nur: Wir sind da in eine Sackgasse gestolpert. Der Fall Annika Storch legt den Finger in die offene Wunde. Wer nämlich war Annika Storch? Eine – Pardon – Hure. Ein Deckelchen, das sich jedem Töpfchen anpasst. Ich will mir und Ihnen die Aussagen der Verdächtigen ersparen, diese von uns minutiös und hyperdetailliert zu Tage geförderten Abläufe des geschlechtlichen Vollzugs, Cunnilingusaktionen, für die die Storch von ihrer Gesamtkundschaft hoch gelobt wurde, die routinierten Handgriffe, von der Storch an den Körpern ihrer Kunden vollzogen, das mechanistische Erzeugen von Lust, von Abhängigkeit, von Hingabe, von Weltvergessenheit, von orgiastischem Zelebrieren. – Das können Sie alles gerne in den Vernehmungsprotokollen nachlesen, soweit sie es nicht schon in den Auszügen getan haben, die ja in den Zeitungen aufgetaucht sind. Wichtiger ist mir die Erkenntnis, dass die Annika Storch, eine simple zwanzigjährige Hure, eine Art multiples Opfer war, ein Generalopfer sozusagen, so wie es einen Generalschlüssel gibt, der sämtliche Türen zu öffnen vermag, so eben auch ein Generalopfer, das ungezählte Mörder anzieht.
Nein, das brachte uns nicht weiter. Nichts schien uns weiter zu bringen, die Tatverdächtigen schwiegen sich aus, ihre sozialen Umfelder waren ermittlungstechnisch gesehen öde Brachen, wir nahmen uns die sonstigen Sexpartner der Verdächtigen vor – Ehefrauen, frühere Verlobte, im Falle des Ratius, der ja die letzten zwanzig Jahre in der Gastronomie tätig gewesen ist, auch Heere ehemaliger Bedienungen und Küchenhilfen, natürlich auch viele, unglaublich viele Prostituierte, denn alle drei Verdächtigen fühlen sich von diesem Milieu magisch angezogen, sie kommen, wie es besagter Ratius ausgedrückt hat, an keinem Puff vorbei, ohne dass der Hahn zu tropfen beginnt. Das Resultat: nichts. Keiner der Verdächtigen verkehrte in sogenannten „Bondage“-Kreisen oder praktizierte das Fesseln als sexuelle Stimulans in seiner Privatsphäre. Sadistische Neigungen? Schon. Bei allen dreien. Aber nichts, was über das Gewöhnliche hinausgehen würde, ein Zwicken in weibliche Oberschenkel, mal ein etwas festerer Klapps auf den Po, seltener eine Ohrfeige oder ein kurzzeitiges Zudrücken des Halses. Robuste körperliche Gewalt, wie im Fall Storch offensichtlich, hat keiner angewandt.
Sollten uns wir am Ende getäuscht haben? Sind die drei Männer unschuldig? Nichts weiter als durchschnittliche Bordellgänger? Hat ein Vierter, uns bis dato noch unbekannter Mann die Tat begangen? – Wir wissen es nicht. Unsere Intuition aber sagt uns, dass einer der drei, Vollmann, Ratius oder Wasmüller, der Täter sein muss. Und deshalb machen wir dieses Experiment.
Es bedient sich in seinem fundamentalen Denkansatz aus dem Fundus der Motivationstheorie. Wir, die Polizisten, tun gewiss unser Bestes, um ein solch furchtbares Verbrechen wie das an der Annika Storch verübte aufzuklären. Wir sind, im Rahmen unserer Berufsphilosophie, motiviert. Doch reicht das? Oder anders gefragt: Gibt es Personen, deren Motivation, den Fall aufzuklären, noch größer, höher, weiter sein könnte als die unsere? – Ich sehe: Einige von Ihnen nicken wissend. Der Aha-Effekt. Wer, wenn nicht die drei Verdächtigen, hat ein größeres Interesse, dass der Täter gefasst und seiner Bestrafung zugeführt wird? Geht es doch für unser Trio um die Rehabilitation, um die Wiedergewinnung der Bürgerlichkeit – zumal dann, wenn man nichts mehr zu verlieren hat. Kurzum: Wir entschlossen uns, die Verdächtigen selbst zu Detektiven werden zu lassen, zu Detektiven in eigener Sache.
Der erste Schritt musste darin liegen, die Existenzen der drei Verdächtigen nachhaltig zu vernichten. Das klingt natürlich hart, und das ist es auch. Aber bedenken Sie: Wir befinden uns mitten in einem noch nie durchgeführten Experiment, auf dem Weg zu einem neuen Paradigma der Verbrechensbekämpfung. Wir hobeln, es fallen Späne, wir schütten das Bad aus und das Kind gleich mit.
Die Weitergabe der von uns gefertigten Porträtfotografien sowie sämtlicher Personalien der Verdächtigen an die Presse leitete den Prozess der Existenzvernichtung ein. Mit großem Erfolg. Die Frau Vollmanns trennte sich von ihrem Mann, seine Firma legte ihm die Kündigung nahe, bevor sie sich selbst gezwungen sähe, eine solche aus Gründen des Betriebsklimas und der Kundenzufriedenheit auszusprechen. Bei Ratius, der eine Kneipe in der Altstadt führte, war es schwieriger. Der Mann ist Junggeselle, seine Entlarvung als Bordellgänger und Mordverdächtiger führte zunächst zu einer Belebung seiner Geschäfte, da viele Neugierige ihre Feierabendbier in Ratiussens Lokal zu sich nehmen wollten, um IHN zu sehen – einen möglichen Mörder. Hier halfen uns schließlich gute Kontakte zum Gesundheitsamt weiter. Noch heute erzählt man sich in der Polizeikantine, wie schwierig es war, einer Familie fetter Kakerlaken habhaft zu werden und in der Küche des Lokals unseres Verdächtigen auszusetzen. Dieses wurde also nach unangemeldeter Inspektion mit sofortiger Wirkung geschlossen, was Ratius in massive finanzielle Schwierigkeiten gebracht hat.
Auch Wasmüller ist unverheiratet. Zudem sehr vermögend und auf die Ausübung eines Brotberufes nicht mehr angewiesen. Dennoch war es ein Leichtes, ihn in seiner Bürgerlichkeit zu vernichten, genügte der wiederum in der Presse lancierte Hinweis auf pädophile Fotos, welche sich auf dem Computer Wasmüllers gefunden hätten. Das ist ungut für den Ruf eines Kinderarztes, sehr ungut.
Dies also der Stand der Dinge. Wir haben drei Tatverdächtige, von denen zwei – die Unschuldigen – ein vitales Interesse an der Überführung des Mörders haben müssen. Die Schwierigkeit besteht nun darin, es ihnen auch plausibel zu machen, dass nur sie, sie allein in der Lage sind, das Verbrechen aufzuklären. Indem sie zusammenarbeiten – und gleichzeitig gegeneinander. – Betrachten Sie bitte noch einmal das Gruppenfoto. Die drei Personen sitzen nebeneinander, aber sie kommunizieren nicht miteinander. Sie starren geradeaus. Stundenlang. Kein einziges Wort, kaum ein Blick, und wenn einer, dann ein zufälliger, ein auf der Stelle zurückgenommener. Mag sein, dass unser Experiment zum Scheitern verurteilt ist, weil es uns nicht gelingt, die Kommunikation zwischen den Verdächtigen, die Detektive werden sollen, herzustellen. Das ist der Stand der Dinge. Und jetzt zum nächsten Schritt.

4 Gedanken zu „Aus der Krimiwerkstatt 17/06/08“

  1. darf man hoffen, daß die drei sich solidarisieren und die Bullen auf die Schnauze fliegen lassen? Erst mal zum BVG gehen, Verletzung von Art. 1 etc. GG wg. Rauchverbot als Körperstrafe (i. e. Folter)?

    Beste Grüße!

  2. Ich werd den Teufel tun und Ihnen schon den Suspense verraten… Aber es sind schöne Varianten möglich… Und solange ich kein Rauchverbot beim Schreiben habe, lassen wir die Gerichte außen vor!

    bye
    dpr

  3. so isser, der Krimi-Autor! Selbst raucht er, aber daß er sich einmal für seine Figuren einsetzen würde: keine Chance.

    Na denn: Schönen Tag!

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