So, heute seid ihr wieder dran. Wir würden gerne wissen, welches Werk der Kriminalliteratur des Jahres 2008 euch bisher am meisten beeindruckt und / oder am nachhaltigsten enttäuscht hat. Zwei, drei erläuternde Sätze wären prima. Wenn genügend Interessantes zusammenkommt, könnte man das als „the peoples‘ voice“ fürs Krimijahrbuch zusammenstellen. Also scheut euch nicht. Kurz überlegen und dann…
Erster!
Da ich mich nicht nicht entscheiden konnte, habe ich drei Tops und einen Flop aufgelistet:
TOP
Frank Göhre: MO – Der Lebensroman des Friedrich Glauser
Eine collagenhaft zusammensetzende, semidokumentarischen Biographie, die ihr Sujet zugleich als literarische Figur und als reale Person durch Vermischung von Fiktion und biographischen Details zum Leben erweckt. Beeindruckend!
Richard Stark: Fragen Sie den Papagei
Für Jean-Patrick Manchette war Donald E. Westlake alias Richard Stark alias Tucker Coe alias alias … ein Meister des Roman noir, „zweifellos der größte seiner Zeit“, und mit Parker macht Retro richtig Spaß!
Thierry Jonquet: Die Haut, in der ich wohne
Fast kammerspielartige Erzählung über die Geschichte zweier abscheulicher Verbrechen, die durch ihren Reduktionismus und die Präzision der Sprache beeindruckt und trotzdem eine komplexe Geschichte erzählt.
FLOP
Harlan Coben: Das Grab im Wald
Ein Autor, der eigentlich schreiben kann, aber jetzt eine Formel ausschlachtet, die nur noch Fastfood produziert.
Se best:
Dieter Paul Rudolph, Menschenfreunde (of corpse)
Judith Kuckart: Die Verdächtige
Colin Cotterill: Dr. Siri und seine Toten
Tran-Nhut: Das schwarze Pulver von Meister Hou
se gretest dissepeuntment: dprs Empfehlung von Anne Chaplets neuem Buch (Titel gleich verdrängt), das ich nach wenigen Seiten zur Seite gelegt habe. Und wenn ich dann noch von berufener Seite hören muss, dass die ersten Seiten schlecht sind und man einfach durchhalten muss, verliere ich dann auch noch den Restglauben an die Qualität deutscher Verlage. Pff!
Robert Littell: Die Söhne Abrahams (gequirlter Quark)
nebenbei auch wann of se best, aber but ownli Kriminalsekundärliteratur:
Thomas Wörtche: Das Mörderische neben dem Leben. Libelle
Kenntnisreich, stilistisch abwechslungsreich, mit polemischem Furor und analytischer Tiefe
(gell, das kann man gleich zitieren)
Top (natürlich;): Rex Miller „Fettsack“.
Der frühe Höhepunkt eines Genres, das mittlerweile von minderbegabten AutorInnen beinahe zu Tode geritten wurde. Gerade deshalb ist die Wiederveröffentlichung so wichtig; zeigt sie doch, was Kriminalromane für nachhaltige Wirkung auslösen können.
Fast gleichauf Pete Dexters „Paris Trout“. Interessanterweise die zweite Wiederveröffentlichung, die beeindruckt. Soll natürlich nicht heißen, das nichts neues von Wert mehr kommt… Ich halte mich mal an die L.A. Times mit der Bewertung: “Ein Meisterwerk, komplex und atemberauend“. Wohl wahr.
Größte Enttäuschung – neben Charles MacLeans „Trojaner“, der wegen „Ich, der Wächter“ immer noch einen Bonus bei mir hat(te) – war eindeutig „Der Totengarten“ vom eigentlich verdienstvollen George Pelecanos. Doch diese gutmenschelnde Erbauungsschrift ist leider völlig platt und langweilig geraten.
Doch diese gutmenschelnde Erbauungsschrift ist leider völlig platt und langweilig geraten.
Nö, lieber Jochen,
„gutmenschelnd“ kann man schon lassen, aber „platt und langweilig“ wird ihm nicht gerecht.
Auf jeder Seite dieses Buches musst man doch als mitfühlender Leser Angst haben, dass da ein Kind über den Haufen geballert wird.
Es war eines der erste Bücher, bei dem ich diese tagtägliche Angst der Eltern ihre jugendlichen Kinder alleine aus dem Haus in diese Strassen ziehen zu lassen, in meinem tiefsten Inneren nachvollziehen konnte.
Mit anderen Worten: Meiner Meinung nach steckt in dem Buch mehr als nur ein warmes Ende.
Es ist sicher nicht Pelecanos bestes Buch, aber die Darstellung gemischtrassiger Gesellschaften in den USA, ihren Konflikten und Brüchen usw. (offensichtlich kein triviales Thema), ich wüsste da kaum eine Alternative.
Lieber Bernd, das sehe ich komplett anders. Pelecanos Buch steckt voller guter Absichten, verbreitet die aber auf dem plakativen Niveau gängiger amerikanischer Vorabendserien. Da ist die unsägliche „himmlische Familie“ (Seventh Heaven) nicht weit. Pelecanos hat mit dem „Totengarten“ einen gut gemeinten Roman geschrieben, der von seiner belehrenden Attitüde der frommen Denkungsart förmlich erstickt wird. Du weißt keine Alternativen? Ich biete Pete Dexter und Walter Mosley an, die das Thema weit eindringlicher als Pelecanos abgehandelt haben.
Top
1.Ebenso wie Claus Thierry Jonquet „Die Haut, in der ich wohne“, ein genialer Autor, der außergewöhnlich denken kann.
2. Claudia Pineiro „Ganz die Deine“, guter Einfall mit furioser Umsetzung
3. Hanne Vibeke- Holst „Seine Frau“ und Laura Lippmann „Das dritte Mädchen“, jeweils gutes Gesellschaftsbild mit starker Aussage
– außer Konkurrenz „Menschenfreunde“
Flop: Richard Laymon „Das Treffen“, Missgriff, nie wieder dieser Autor
-einige deutsche Krimiautorinnen, deren Namen ich nicht nennen will
Henny
Lieber Jochen,
Mosley ist ja ein wunderbarer Autor, keine Frage. Aber beim Thema gemischtrassische bürgerliche Gesellschaften ist er nun, sagen wir mal, nicht der geeignete Name.
Mosley ist beim Thema Rassenkonflikt schon fast Klischee. Es fällt leicht bei ihm entrüstet zu sein. Weiße und schwarze Autoren, die sich eindringlich mit Rassenfragen auseinandersetzten, gibt es überhaupt mehrere, das ist für mich hier nicht der Punkt.
Die fragile soziale Ordnung, die Minenfelder durch die die Menschen im täglichen Leben müssen, die beschissenen Rahmenbedingungen, arm an Klischees, nüchtern präsentiert, der Konflikt nicht Weiß gegen Schwarz, sondern Perspektive vs. nicht-Perspektive, da ist Pelecanos vielleicht nicht einzigartig, aber schon ziemlich einsam (und Drama City sein Meisterwerk).
Lieber Bernd,
„Aber beim Thema gemischtrassische bürgerliche Gesellschaften ist er [Walter Mosley] nun, sagen wir mal, nicht der geeignete Name.“ Zumindest was „Little Scarlet“ angeht, würde ich auch hier widersprerchen (das kann ich gut), das ich gerade im oben genannten keineswegs klischeehaft fand.
Das du nur einen speziellen Aspekt innerhalb einer umfangreichen Thematik ansprichst ist mir schon klar. Das Pelecanos für Großartiges gut war und ist, ebenso. Nur „Der Totengarten“ gehört halt nicht dazu.
Vergesst bitte die Österreicher nicht!
Also inbesondere:
1. Thomas Raab: Der Metzger sieht rot
2. Manfred Wieninger: Rostige Flügel
3. Heinrich Steinfest: Mariaschwarz
Deren Qualitäten braucht man, glaube ich, gar nicht mehr besonders hervorheben. Für mich auf alle Fälle: TOP
Und FLOP?
Für mich, der ich viele RussInnen lese, war das in diesem Jahr die ansonsten intelligent und realitätsnah schreibende Polina Daschkowa („Das Haus der bösen Mädchen“). Zu konstruiert, zu klischeebeladen, zu vorausahnbar. Nur für absolute Daschkowa-NovizInnen erträglich.
Danke, Leute. Aber da geht noch was. Wir haben doch mehr LeserInnen… Keine Scheu, wir halten auch unseren Reißwolf Jochen an der Leine. Jochen! Platz!
bye
dpr
Lieber Chef, ich bin doch schon ganz handzahm und meist stubenrein. Habe nicht mal gebellt bei der Erwähnung von Thomas Raab. Den mag ich aber auch zu gerne. Den Mann, nicht unbedingt das Buch.
Mit Büchern, die mir nicht gefallen haben, kann ich nicht dienen, da ich sie nicht lese, dafür habe ich die Liste der Bücher, die ich dieses Jahr gelesen und die mir gefallen haben, nicht nur auf Krimis beschränkt. Viele sind sowieso Grenzgänger:
Sherwood Anderson: Dunkles Lachen
Christina Bacher, Ulrich Noller, Dieter Paul Rudolph: Krimijahrbuch 2008
Zoe Beck: Wenn es dämmert
Pieke Biermann: Der Asphalt unter Berlin (andauernd)
Henryk M. Broder, Josef Joffe, Dirk Maxeiner, Michael Miersch, Dirk Maxeiner: Schöner denken
Blaise Cendrars: Gold (zum vierten Mal)
Anne Chaplet: Schrei nach Stille
Philippe Djian: Pas de deux
Emily Dickinson: Ein Leben in Briefen (andauernd)
Sebastian Fitzek: Amokspiel
Celia Fremlin: Die Stunde vor Morgengrauen (zum zweiten Mal)
Thomas Glavinic: Der Kameramörder, Das bin doch ich
Edward Gorey, The Lugubrious Library (Text und Zeichnungen)
Florian Illies: Ortgespräch
Bernhard Jaumann: Sehschlachten
Joachim Lottmann: Zombie Nation
David Peace: 1977
Alice Munro: Himmel und Hölle
Dieter Paul Rudolph: Menschenfreunde
Matt Ruff: Bad Monkeys
Feridun Zaimoglu: German Amok
Thomas Wörtche: Das Mörderische neben dem Leben (andauernd)
Einen Semi-Flop habe ich: Thomas Hettche, der Fall Arbogast, das ich verschwurbelt finde. Kann aber sein, dass ich nur einen Schalter umlegen muss und es n i c h t als Krimi lesen; deswegen liegt es noch hier.