Amir Valle: Habana Babilonia

Die Wirklichkeit ist ein seltsames Gebilde. Je intensiver man über sie nachdenkt, damit sie Konturen gewinne, desto hoffnungsloser verschwimmt sie unter der Last dieser Gedanken. Unantastbare Wirklichkeit gibt es nur für diejenigen, die nicht darüber nachdenken.

Aber das ist nichts Neues. Von Kriminalliteratur als erforschtem und durchdefiniertem Terrain redet prinzipiell nur, wer davon keine Ahnung hat. Gegensatzpaare zur Beschreibung von Gesellschaften zieht heran, wer das ganze Leben und Treiben für eine feste Masse hält.

Die Literatur konstruiert Wirklichkeiten. Oder rekonstruiert sie? Hier fängt es schon an mit der Subversivität des Denkens. Wahrscheinlich schafft Literatur Wirklichkeiten, um sie mit Hilfe dieser Geschöpfe zu rekonstruieren. Oder genau umgekehrt. Sie rekonstruiert, damit sie daraus Wirklichkeit erschaffen kann.

Das Ergebnis jedenfalls ist ein Text. Ein Text, der etwas über Wirklichkeit aussagt, etwa die kubanische Wirklichkeit. Und jetzt kann, wer nicht zum Grübeln neigt, ganz schön ins Grübeln kommen.

Zum Beispiel Leonardo Padura. Der hierzulande populärste Autor von kubanischer Kriminalliteratur liefert Porträts kubanischer Wirklichkeit als poetische Pastiches aus Gegenwart und Vergangenheit, mit einem Schuß Melancholie, einer Brise Resignation. Das ist nicht „schön“, bereitet aber „Lesevergnügen“.

Zum Beispiel Amir Valle. Dessen Poesie ist die der nackten Verzweiflung, des schieren Drecks, sie ist im Zweifelsfall nicht einmal Lesevergnügen, wenn man damit einen gemütlichen Lesesessel assoziiert. In seinem neuesten Werk, „Habana Babilonia“, untersucht Valle die verzweigte Welt der Prostitution, der „jineteras“ (Reiterinnen). Die Lektüre dient nicht der Urlaubsvorbereitung bildungsbeflissener Sextouristen, obwohl das Phänomen Prostitution ohne das Phänomen Tourismus nicht denkbar wäre. Valle hat viele Jahre lang die Protagonisten des Milieus befragt: Huren, weibliche wie männliche, Zuhälter, Fotografen, Hotelportiers, Schnapsverkäufer. Das Bild von Wirklichkeit, das dabei entstanden ist, verweigert uns einfache Antworten. Wir lernen die Geschundenen und die Stolzen kennen, die Ausgebeuteten und die Ausbeuter, die Wütenden und die Resignierenden, was sie eint ist die schlichte Tatsache, dass alles was sie tun zu einem großen Kampf ums Überleben gehört. Manche von ihnen gelingt die „Flucht“ in andere Länder, wo es ihnen entweder besser geht oder nicht, wo sie mit reichen blassen dicken Männern schlafen oder in die Hände von Organhändlern fallen, die sie ausweiden, die Augen herausoperieren lassen.

„Habana Babilonia“ ist ein Wirklichkeitsgebilde aus O-Tönen, Reportagehaftem und dichterischer Komposition, „Stimmen“ wechseln mit historischen Exkursen ab, Interviews zerfließen zu Lebensläufen. Es entsteht Wirklichkeit aus der Wirklichkeit, keine Frage, aber was für eine Wirklichkeit? Eine, die Kuba auf Prostitution reduziert? Eine, die in Konkurrenz steht zu Autoren wie Padura?

Nein, es ist anders. Wie in jeder großen Literatur wird Wirklichkeit bei Valle wie Padura zum Denken freigegeben. Nehmen wir für einen Moment an, Valle befände sich in Opposition zu Padura. Dann kommen, sobald man zu denken beginnt, die Dinge in Bewegung und nähern sich an, Paduras Poesie fußt auf Valles Poesie, die zunächst dingfesten Welten verschmelzen, die manifesten Wirklichkeiten der poetischen Oberfläche lösen sich auf, was bei Padura „schön“ ist, wird widerlich, was bei Valle an Widerwärtigkeit nicht zu überbieten ist, offenbart sich in winzigen, aber eindringlichen Momenten als zarte Poesie.

Was wir bei Valle lesen, geht weit über ein Einzelphänomen hinaus, ja, es geht weit über Kuba (wo bei das Buch selbstredend nicht erscheinen konnte) hinaus. Das Stichwort ist jener „Kampf ums Überleben“, das in fast allen Interviews des Buches fällt, mal explizit, mal als ungenannter, weil selbstverständlicher Tenor. Was immer hier geschieht, wem es geschieht, es geschieht, um die eigene Haut zu retten, auch auf die Gefahr hin, sie zu Markte tragen zu müssen. Das ist universell, bei Valle natürlich den kubanischen Verhältnissen abgerungen, pointiert, poetisch (jawohl, poetisch) radikal im Wortsinn. Paduras melancholischer Held Mario Conde, der ebenso universal gesehen werden kann, ist aus Dreck gemacht, die Ästhetik des Textes ist eine Überzuckerung des Schrecklichen, die sich wegblasen lässt. Scheinschönheit.

Padura und Valle stehen also für zwei Zugänge zu ein und derselben Wirklichkeit, einer Wirklichkeit des Verbrechens als Lebensgrundlage, einer Wirklichkeit, die indes nur begreift, wer sie denkend zerlegt, wer sich von den Betonansichten löst, nach denen ein Buch, das von kubanische Huren handelt, nicht auch allgemein über Menschen im Überlebenskampf handeln kann, schon gar nicht bei uns, in unserer Wirklichkeit.

Diese Explosion fester Denkkörper findet sowohl bei Valle als auch Padura statt. Wer eine literarisch geformte Wirklichkeit zur Kenntnis nimmt, nimmt sie nicht zur Kenntnis, wenn er sie nicht mit seiner eigenen Wirklichkeit verformt. Was aber die eigentliche Wirklichkeit ist? Siehe oben. Ein seltsames Gebilde.

Amir Valle: Habana Babilonia. Prostitution in Kuba. Zeugnisse 
(Jineteras, 2006, übersetzt von Karl J. Müller u.a.).
Edition Köln 2008. 340 Seiten. 16,90 €

Anmerkung: Der Rezensent steht mit der Edition Köln in geschäftlicher Verbindung.

7 Gedanken zu „Amir Valle: Habana Babilonia“

  1. Du bist ein unverbesserlicher Kantianer. Denk an Kleist!

    Ansonsten scheint dir der Blogbelpreis gut getan zu haben. Denn das ist ja mal wieder ein richtig guter Text (wie alle anderen auch, ja, ja). Allerdings vermischst du in deiner Rezension zwei Wirklichkeiten: die da draußen und die da drinnen. Ich postuliere mal, dass es da draußen eine Wirklichkeit gibt, die es einfach gibt. Ob und wie wir sie in uns (re)konstruieren, ist eine andere Sache, auch: ob wir sie überhaupt erkennen können. Das führt jetzt aber zu weit.

    Aber die „Wirklichkeit“ von Texten ist ja immer schon dreifach vermittelt und verdreht: vom Autor, der sie aufnimmt (und damit neu konstruiert) – vom Autor, der sie aufschreibt (und damit neu konstruiert) – und vom Leser, der sie aufnimmt (und damit neu konstruiert).

    Und danke für deine Anmerkung. Ist ja leider nicht normal, dass ein Rezensent auf so etwas hinweist.

  2. Na, als Kantianer müsste ich dich jetzt auf den Unterschied von a priori und a posteriori aufmerksam machen… Das mit der äußeren Wirklichkeit ist ja richtig. Die gibt es. Aber nur so lange, wie wir nicht darüber nachdenken. Es gibt Faktisches, das man nicht ignorieren kann, aber sobald wir darüber nachdenken / schreiben, erhält es erst seinen Wert in der „inneren“ Wírklichkeit. Aber genug philosophiert. Es freut mich, dass dir wieder mal ein Text von mir gefallen hat und du den Adair verschmerzt hast. Das lässt hoffen.

    bye
    dpr

  3. Nö. Die äußere Wirklichkeit gibt es auch dann, wenn wir über sie nachdenken. Nur anders als wir denken. Und anders, als wir sie denken. Von daher ist die Wirklichkeit a priori, und wir kommen posteriori hinterhergehechelt. Oder wie Wittgenstein meinte: Die Welt ist alles, was der Fall ist. (Auch wenn er dann die Dinge negiert und die Tatsachen meint. Nun gut, Wittgensteins Sprachspiele… Sind in einem anderen Zusammenhang wichtiger.)

    Aber Eines verstehe ich nicht: Welches Faktische, meinst du, könnten wir nicht ignorieren?

  4. Na, wir können zum Beispiel nicht ignorieren, dass du Adair nicht magst, aber voll auf Bottini abfährst. Oder dass „Menschenfreunde“ einfach ein prima Krimi ist. Oder uns die Banker um ein paar Milliarden beschissen haben. Oder dass ich tot bin, wenn mir eine Kugel die Rübe wegbläst. Oder dass Fräulein Anobella endlich mal mit ihrem Winzerkrimi auf den Markt muss. Das ist einfach so!

    bye
    dpr

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