Edgar, 2

Edgar Poe weilt am 19. Januar 2009 200 Jahre unter uns. Anlass für eine Serie von Aufsätzen, die dieses labile Wunderwerk der Literatur in loser Folge aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten sollen. Mit Anknüpfungen an die Kriminalliteratur, das Leben an sich, die Geschichte und die Gegenwart, das Politische und das Private, das Erhabene und das Niedere. Heute mit Teil 2 (Teil 1 →hier)

2. Der Textaufzäumer

„Immer wieder muß ich daran denken, daß unsre Roman-Schreiber, ganz allgemein genommen, dann und wann recht gut ein Wenig von den Chinesen profitieren könnten, welche, wiewohl sie ihre Häuser nicht vom Dache abwärts bauen, doch vernünftig genug sind, ihre Bücher von hinten her anzufangen.“

Kommt das nicht bekannt vor? Sollen nicht die Krimischaffenden „ihre Bücher von hinten her anfangen“ wie die Poe’schen Chinesen? Und wer, wenn nicht die VerfasserInnen von Spannungsliteratur, benötigt vor der Niederschrift einen PLAN, der dieses anfänglich erdachte Ende logisch legitimiert?

So lehrt es uns, glaubt man, der große Edgar Poe, Erfinder der Detektivgeschichte. So demonstriert es uns jener in seinem monumentalen „Die Morde in der Rue Morgue“. Das Ende: Ein Orang-Utan wars. Nur diese Lösung passt zur Ausgangssituation, dem Doppelmord in einem verschlossenen Raum. Die Tür ist abgesperrt, durch das Fenster vermag ein Normalsterblicher nicht einzudringen, also bleibt nur die tierische Kreatur.

Dieses Verfahren funktioniert auch in „Der stibitzte Brief“. Das Objekt der Begierde wird dort versteckt, wo niemand ein Versteck vermutet, im jedermann zugänglichen Bereich nämlich. Dazu eine Geschichte erfunden, die vielleicht nicht rückwärts entwickelt wird, aber auf ein vorbestimmtes Ende, das Ziel, hinausläuft.

In seinem Essay „Die Methode der Komposition“ greift Poe dieses Thema noch einmal auf und wendet es diesmal auf einen konkreten Fall an.

„Charles Dickens kommt in einer mir vorliegenden Notiz auf die Untersuchung zu sprechen, die ich einmal über die Technik von ‚Barnaby Rudge’ anstellte, und schreibt: ‚Haben Sie übrigens bemerkt, daß Godwin seinen ‚Caleb Williams’ von rückwärts schrieb? Zuerst verwickelte er seinen Helden in ein Netz von Schwierigkeiten, die den zweiten Band ausmachen, und suchte dann für den ersten etwas, das das Geschehene begründen soll.“

Das ist nun ein dankbares Objekt für jeden Kriminologen; denn dieser William Godwin hat mit „Caleb Williams: or Things as they are“ 1794 durchaus vieles von dem vorweggenommen, was Poe später aufgriff und was bis heute zu den Ingredienzien eines Kriminalromans gehört.

Zwar ist Poe, was „Caleb Williams“ betrifft, nicht ganz Dickens’ Meinung; betont aber die Bedeutung des Ausgangs, der Auflösung einer Geschichte (Poe benutzt dafür das französische „dénouement“):

„Nur mit dem dénouement ständig vor Augen, lässt sich dem Vorwurf der unerlässliche Anschein der Folgerichtigkeit oder Ursächlichkeit verleihen, indem man die Vorkommnisse und insbesondere die gesamte Tonart auf den Fortgang des Beabsichtigten ausrichtet.“

Im Folgenden analysiert Poe seinen berühmten „Raben“ und beschreibt die „Effekte“, welche planvoll überlegt den Text strukturieren. Hier wie im Beispiel Godwins präsentiert er sich als ein „kalkulierender Dichter“, was für viele einen Widerspruch in sich bergen dürfte, denn von Dichtern erwarten wie die in zahllosen Musenküssen dokumentierte Inspiration, nicht aber die Berechnung. Tatsächlich redet Poe hier dem Handwerk das Wort; „Genie“ ist etwas völlig davon Unabhängiges, es entsteht aus der Vorplanung oder ergibt sich während der Umsetzung des Plans. Man hat das Ende im Blick und steuert zugleich die Kontinuität des Textes. – Das kann schiefgehen, und genau dieses Scheitern kann die Faszination des wahren Genies ausmachen.

Wie gründlich solches misslingen kann, zeigt die dritte der prototypischen Detektivgeschichten, „Das Geheimnis der Marie Rogêt“. Auch hier dürfte Poe, nach dem Studium der Fakten (denn bei der Ermordung Marie Rogêts handelte es sich um ein tatsächlich begangenes Verbrechen) ein Ziel vor Augen gehabt haben. Er lässt seinen Detektiv Dupin nun die Unterlagen (Zeitungsberichte) so deduktorisch herrichten, dass sie genau auf dieses Ende zusteuern. Drei Folgen hat die Erzählung, zwei sind schon erschienen, als das Unvermutete eintritt: Der „wirkliche Fall“ der Marie Rogêt wird gelöst – doch dieses empirische Ende stimmt nicht mit dem Poes überein. Er muss die abschließende Folge der Geschichte umarbeiten, was eigentlich unmöglich ist, da ja alle Indizien auf den Falschen hinweisen. Also nimmt Poe zu einer Verlegenheitslösung Zuflucht und überlässt es dem Leser, endgültig zwischen der profanen Welt und der Bücherwelt zu entscheiden.

Ist Poe hier wirklich gescheitert? Oder fand er sich in der Situation des Alchimisten wieder, der Gold machen wollte – und das Porzellan fand? Keine Frage, dass Poe sich nicht nur als Handwerker sah, sondern auch als Wissenschaftler. Nur, welche Art von Wissenschaft präferierte Poe? War er zielgerichtet (wie jemand, der sich aufmacht, einen Impfstoff gegen die Pocken zu entwickeln) oder objektorientiert, also an der Natur eines Gegenstandes interessiert, den es sukzessive zu erforschen gilt? Erfand er den „Krimi“ im Rahmen einer wissenschaftlichen oder doch an Wissenschaft angelehnten Versuchsreihe? Oder war dieser Krimi ein Zufalls-, vielleicht gar das Abfallprodukt von etwas anderem, das selbst als gescheitert angesehen werden muss? Dazu mehr in Edgar, 3.

Ein Gedanke zu „Edgar, 2“

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