Stewart O’Nan: Alle, alle lieben dich

Die junge Kim ist verschwunden. In einer US-amerikanischen Kleinstadt nahe der Großen Seen, aus einem auf den ersten Blick doch so intakten Mittelstandsmilieu. – Das Setting kennen wir, es ist einer der Archetypen der Kriminalliteratur. Ein Verbrechen geschieht und gräbt die vorgebliche Harmonie so lange um, bis wir in gähnende Abgründe blicken. Nichts Neues, man denke nur an Laura Lippman, die so etwas prima hinkriegt. Und was macht Stewart O’Nan daraus?

Nun, glaubt man dem Klappentext von „Alle, alle lieben dich“, nichts anderes als die anderen vor ihm. Da haben alle „etwas zu verbergen“, da gibt es „Risse in der schon lange nicht mehr heilen gesellschaftlichen Fassade“, das ist „beklemmend“, eine „abgründige Geschichte“ natürlich und, folgerichtig, „ein hochliterarischer Thriller“. Nun: Von all dem ist der Roman nichts. Er ist beklemmend – weil er so normal ist. Abgründig, weil nirgendwo ein Abgrund lauert. Ein Triller, weil wir sehr schnell vergessen, dass wir einen Kriminalroman lesen.

Kim also ist verschwunden. Ein gutes Mädchen. Naja, es gab da eine Drogengeschichte, aber das ist eher nebensächlich. Die Eltern sorgen sich, Probleme haben sie eh genug, denn der Immobilienmarkt, auf dem der Vater tätig ist, wirft nicht mehr so viel ab. Auch Kims jüngere Schwester Lindsay, gerade 15, hat ihr altersgerechtes Bündel zu tragen, die Freunde der Verschwundenen, die sich nach den Ferien auf die Universitäten verteilen werden, auch.

Und jetzt das. Sofort beginnt die Such-, Hilfs- und Tröstungsmaschinerie zu laufen. Firmen liefern Mineralwasser und Brötchen für die Helfer, das Fernsehen, das Radio stehen parat, Internetseiten werden eingerichtet, Volksläufe veranstaltet, Anstecker und Luftballons mit Kims Porträt verkauft. Natürlich wird die Ehe der Eltern vor eine schwere Zerreißprobe gestellt. Natürlich möchte Lindsay am liebsten weglaufen. Natürlich bleibt Kims Schicksal bis kurz vor Schluss des Romans ungewisse und wird dann ohne große dramaturgische Zuspitzungen geklärt.

Das Besondere an diesem Roman jedoch ist die Alltäglichkeit, in die alles gebettet ist. Zum einen die Normalität, mit der das Außergewöhnliche sofort organisiert und hingenommen wird, als sei es business as usual. Kims Mutter wird eine perfekte Managerin des Albtraums, am Ende werden sie und ihr Mann alleine im Haus sitzen, denn auch Lindsay ist längst in ihren Universitätsort gezogen. Normalität eben. Zum anderen geschieht in diesem Roman kaum etwas, das ohne das Verschwinden Kims nicht geschehen wäre. Die Katastrophe als Variante des Alltäglichen, von diesem umgehend verschluckt, wie all die anderen Katastrophen, die es in dieser Familie schon gegeben haben mag und von denen man höchstens etwas erahnen kann.

O’Nan erzählt seine Geschichte aus vielen Perspektiven, die Hauptperson des Romans ist aber unbezweifelbar Lindsay. Ihr gilt auch der letzte Satz des Buches, der für den gesamten Text stehen könnte: „Sie verließ die Gangway und wandte sich mit den anderen nach links, reihte sich ein in die Schar, die der Halle zustrebte, und verschwand in der Menge.“ So einfach ist das, so selbstverständlich, so unspektakulär. Und genau das ist das Spektakuläre an diesem Buch.

Stewart O'Nan: Alle, alle lieben dich. 
Rowohlt 2009. 411 Seiten. 19,90 €
(Songs for the Missing, 2008, deutsch von Thomas Gunkel)

4 Gedanken zu „Stewart O’Nan: Alle, alle lieben dich“

  1. Hm… so hab ich das noch nie gesehen… da muss ein studierter Bielefelder Literaturwissenschaftler kommen und mich auf das Offensichtliche hinweisen… genau… ja… exakt.

    bye
    dpr

  2. Kann man. Wenn das Mädchen die richtigen Antennen für das Buch hat, was ich nicht weiß, was vielleicht noch nicht mal sie weiß. Versuchen…

    bye
    dpr

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