Darüber, wie die Wahl eines Themas unsere Rezeption von Kriminalliteratur vorbestimmen kann, war ja anlässlich des letzten Krimistammtischs mit Charles den Tex‘ „Die Zelle“ schon die Rede. Auch Michael Theurillats „Sechseläuten“ punktet mit der Thematik. Nicht nur…
Sechseläuten. Ein alter Zürcher Brauch, mit dem man den Winter austreibt. Ein Schneemann mit explosiver Fracht im Kopf, ein Feuerchen, irgendwann krachts (man weiß nur nicht genau, wann), großes Hallo bei den Zuschauern – und vorbei. Diesmal kommt alles anders. Eine Frau bricht zusammen, der zufällig anwesende Kommissar Eschenbach leistet Erste Hilfe, doch vergebens. Die Frau stirbt, ein kleiner Junge, der offensichtlich zu ihr gehört, spricht nicht mehr. Und erst, als er wieder zu sprechen beginnt und keiner ihn versteht, kommt Eschenbach auf die richtige Spur.
Die tote Frau war Sekretärin bei der FIFA, dem Weltfußballverband, doch keine Sorge. Hier erwartet uns kein kriminalliterarischer Nachschlag zur EURO 08. Die Schwester der Toten ist ein hohes Tier in einer Londoner Bank, die ihrerseits mit der FIFA zusammenarbeitet, doch abermals keine Sorge, es geht nicht um Korruption und Betrug oder sonstige dunkle Finanzgeschäfte. Es geht um die Jenischen. Die was?
Die Jenischen, auch „Zigeuner“ genannt, „fahrendes Volk“, sind ein Schweizer Minderheit, der durch der Schweizer Mehrheit über viele Jahre großes Unrecht widerfuhr. Zitieren wir aus dem Roman: „In der Zeit von 1926 bis 1973 hat das ‚Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse‘ über 600 jenische Kinder ihren Eltern und Verwandten weggenommen. Man wollte sie Sippe, Kultur und Tradition entfremden.“
Einige dieser Kinder landeten als billige Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, andere hatten das „Glück“, von anständigen Schweizer Familien adoptiert zu werden. Was alles nichts daran ändert, dass hier ein von Rassismus gespeister „zivilisierter Genozid“ vollzogen werden sollte, die Auslöschung eines ungeliebten „Vagantentums“, indem man einfach die nächste Generation der Jenischen eliminierte. Natürlich nur zu ihrem Besten… Viele der Betroffenen ahnten lange nicht, woher sie eigentlich stammten, was mit ihnen geschehen war. Sie wurden zu „richtigen“ Schweizern, mancheine/r machte Karriere. Hier nun setzt Theurillat an.
Nicht um die Täter, um die Opfer geht es in seinem Buch. Eschenbach setzt sich gleich am Anfang schwer in die Nesseln, wird vom Dienst suspendiert. Er führt seine Ermittlungen dennoch fort, lernt die Schwester der Toten kennen, eine eigenartige Beziehung bahnt sich an, die jedoch zum Scheitern verurteilt ist. Denn auch die Schwester wird Opfer eines Attentats, ihr Gesicht ist weitgehend zerstört.
Theurillat erzählt seine Geschichte gänzlich im Korsett des Genres, das heißt: Am Ende müssen sich alle Teile des Puzzles zu einem Bild fügen. Das ist dann vielleicht ein ganz klein wenig zu ausgeschmückt, was sich aber leicht verschmerzen lässt. Vor allem die Figur des Eschenbach überzeugt. Ein durchaus verquerer Charakter, der seine „Dämonen“ aber weitgehend für sich behält und nicht dekorativ durch die Story marschieren lässt. Auch Nebenfiguren – Eschenbachs Freund, seine Sekretärin, die Pflegeeltern des Jungen – sind gut und prägnant gezeichnet. Das hat Zukunft und verspricht weitere Stücke solider Kriminalliteratur. Am überzeugendsten und verdienstvollsten aber die Beschreibung des Schicksals der Jenischen. Wir haben es mit Opfern zu tun, die von ihrer Vergangenheit immer wieder eingeholt werden – bis kein Ausweg mehr bleibt. Das ist beeindruckend genug.
Michael Theurillat: Sechseläuten.
Ullstein 2009. 329 Seiten. 19,90 €