Gedächtnisstütze: Das Triviale, das Höhere, die Literatur

Was man spontan und angeregt durch laufende Diskussionen niederschreibt, soll auch spontan veröffentlicht werden. Voilà. Ein paar ausbaufähige Gedanken, der Freitagsbeitrag schon am Donnerstag, damit ich mich morgen anderen Dingen zuwenden kann.

Der Verdacht, bei Kriminalliteratur handele es sich um ein potentiell gefährliches Medium, ist so alt wie die Kriminalliteratur selbst. Schon die erste aller Krimiparodien, Benno Bronners „Herr von Syllabus“, erkennt in ihr ein von den „neuen Zeiten“ subtil und wirkungsvoll geführtes Schwert gegen den Status Quo, innig verbündet mit Atheismus und Aufklärung, Industrialisierung und moderner Kunst. Die Durchschlagskraft dieser Waffe war ihrer Hauptingredienz geschuldet: der Trivialität. Wäre Karl Marx Krimiautor gewesen – nicht auszudenken!

In dieser Stärke, gesellschaftliche Themen zu einem danach dürstenden Publikum zu transportieren, lag (und liegt) jedoch auch ihre eklatanteste Schwäche. Und sie wurde sowohl ästhetikkritisch als auch ökonomisch sogleich gegen das Aufklärerische der Kriminalliteratur ins Feld geführt. Das Triviale, so erzählt man es uns bis heute, sei ästhetisch minderwertig, mithin nicht diskutabel, ja, seine Kraft geradezu destruktiv, jugendverderberisch. Ein ideales Vehikel für Weltflüchtlinge, ein gigantischer Markt, auf dem das begreifliche Bedürfnis der lesenden Massen, der Trostlosigkeit zu entfliehen, profitabel befriedigt werden konnte.

Das klingt wie eine Verschwörung, ist aber keine. Der politische Stachel wurde der Kriminalliteratur aus reinem Pfründe- und Kommerzdenken gezogen. Die Herren Professores konnten weiterhin die Hochliteratur kanonisieren, die Entrepreneurs „Krimis“ in rauhen Mengen profitabel unters Volk streuen. Wer evasorisch liest, schmökert sich die Gegenwart schön, weiß dank der Bildungspropaganda um die Wertlosigkeit seiner Lektüre und käme so gar nicht erst auf den Gedanken, Kriminalliteratur stelle eine andere Frage als die, wer der alten Lady den dürren Hals umgedreht hat.

Und der Clou: Es stimmt. Kriminalliteratur ist entsetzlich trivial, ja, ich behaupte auch: Jede Literatur ist in dem Sinne trivial, dass sie uns zur Weltflucht animiert – und gerade dadurch die Voraussetzungen schafft, uns ziemlich unsanft ins Hier und Jetzt zu katapultieren. Klingt unlogisch, ist es auch. Jedenfalls nach den Gesetzen einer simplifizierenden Kausallogik.

Thomas Manns „Lotte in Weimar“ zum Beispiel. Hochliteratur, nein, Höchstliteratur. Und geradezu unerschöpflicher Fundus für allerlei literarische Trivialitäten, die für 100 Lore-Heftromane reichen würden. Goethezeit! Liebe! Verzicht! – Dass uns Mann in seiner „Lotte“ eine an ihrer eigenen Klassizität erstickende Gesellschaft präsentiert, das ist die andere Seite der schönen Medaille. Noch exzessiver macht er das im „Zauberberg“, auf dem ebenfalls die Trivialitäten hausen, alles Weltflüchtige, Liebeshändler und Extremphilosophen, denen am Ende die Wirklichkeit in wenigen Sätzen blüht. Nichts weiter als Kanonenfutter sind sie, aufs Schlachtfeld geführt, abgeschossen, aus.

Erwähnen wir noch den großen Jean Paul mit seinem ebenfalls klassischen „Schulmeisterlein Wutz“. Ach, welch wärmender Biedermeier (avant le lettre, würde Freund Wörtche jetzt sagen)! Wie vergnüglich, wie humorvoll, wie milde, kurz: wie trivial. Und was steckt dahinter? Ein Protagonist, bei dem man nach oftmaliger Lektüre immer noch nicht weiß, ob man ihn nun den ungeheuerlichsten, den bemitleidenswertesten oder einfach den alltäglichsten Charakter der Literaturgeschichte nennen soll.

In den genannten (und vielen ungenannten) Fällen ist Trivialität in ihrer Eigenschaft, das Entkommen aus der Wirklichkeit zu befördern, kein billiges Mittel zum Zweck, Leser in andere, „bessere“ Zeiten zu entführen, sie die Welt um sich herum vergessen zu machen, ein paar nette Lesestunden in der Gutbildungsbürgerlichkeit zu garantieren. Sie ist das genaue Gegenteil, sie ist eine Waffe, die tief in diese gegenwärtige Welt hineinschneidet. Im Grunde haben Thomas Mann und Jean Paul nichts anderes gemacht als das, was gute Kriminalliteratur immer schon tun musste: Man führt den Leser an einen Ort, der ihm Sicherheit vorgaukelt – und entdeckt ihm peu à peu, dass genau dieser ideale, weltferne Ort, dieses traute Idyll die Keimzelle jener Welt ist, aus der man flüchten will.

Die Analogie zur Kriminalliteratur ist offensichtlich. Auch hier wird aus höchst trivialen Bausteinen eine ideale Normalwelt gezimmert – die Welt VOR dem Verbrechen -, die DURCH das Verbrechen als so gar nicht ideal entlarvt wird. Oder anders: Die Trivialität der Fiktion (jemand wird ermordet, man ermittelt, der Fall wird aufgeklärt, der Täter bestraft) wird zur Trivialität der Realität, in der Verbrechen allgegenwärtig, nicht justitiabel, gar unabdingbar für das Funktionieren einer Gesellschaft sind. Und warum? Weil uns die Trivialität der Fiktion vorgaukelt, jede schlechte Tat lohne sich nicht.

Dass die überwältigende Mehrheit der Krimiproduktion nichts von alledem ist, sondern pures Weltverschönungsfutter und ergo Ablenkungsmanöver, braucht kaum erwähnt zu werden. Dass aber jeder Versuch, Kriminalliteratur ihrer Trivialität zu berauben, ihren Unterhaltungswert als bloßen Vorwand herabzuwürdigen, ebenfalls nicht zum Besten des Genres sein kann, dürfte man nie genug erwähnen können.

Ja, wir wollen unterhalten werden. Ja, wir wollen so richtig schön eskapistisch in Krimis eintauchen. Ja, wir glauben an die Macht von (Kriminal-)literatur, uns auf die denkbar unlogischste Weise die Welt nahezubringen, so zu zeigen, wie man sie ohne (Kriminal-)literatur höchstens erahnen, nicht aber sehen kann. Ja, wir wollen intelligente Kriminalliteratur. Nein, wir wollen weder Nur-Vergnügen noch Nur-Intellekt. Wir wollen beides.

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