„Ein Porsche-Krimi wäre ein ziemlich langweiliges Buch“: sagt Krimiautor Wolfgang Schorlau in einem aufschlussreichen →Interview (→via) – und folglich wird er ihn nicht schreiben. Aber Kollege Heinrich Steinfest differenziert: „Mein Interesse gilt ja dem Abstrusen und Grotesken in der Welt, und beides ist in diesen Konzernen massiv vorhanden. Mich beschäftigen freilich nicht bestimmte Firmen, sondern die Strukturen, die Strukturen von Macht, auch die Frage, inwieweit solche Unternehmen ein Eigenleben in unserer Gesellschaft führen.“
Dennoch: Einen Krimi über Porsche oder „die Krise“ werden wohl beide nicht schreiben, denn, so Schorlau, „der Hauptgrund ist, dass die beteiligten Figuren nicht literaturfähig sind. Da müsste man ja einen Roman schreiben, in dem lauter Bösewichte auftreten.“
Scheitert der Krimi an der Komplexität des wirklichen, so ganz und gar nicht nach den Genreregeln funktionierenden Lebens? Was heißt „nicht literaturfähig“? Nähern wir uns dem Problem mit einem kleinen hypothetischen Beispiel. Angenommen, es käme doch jemand auf die Idee, einen Krimi über die Finanzkrise zu schreiben. Er würde, in seinem Kernplot, wohl folgendermaßen aussehen:
Ein Protagonist (Detektiv, Polizist) wird zur Aufklärung eines Verbrechens (wahrscheinlich Mord) gerufen und beginnt zu ermitteln. Das Opfer wäre wohl ein Banker oder eine dem Gewerbe nahestehende Person (Wirtschaftsjournalist, Freundin eines Bankers etc.). Der Protagonist kommt nach und nach hinter das Motiv für die Tat, sagen wir: einen gigantischen Finanzschwindel mit pittoresk-exotischen Abstechern auf karibische Inseln mit sehr lockeren Bankregeln. Natürlich wird sich der Protagonist eine Menge Feinde machen, Feinde aus Finanzwelt und Politik. Das Ende bleibt offen: Vielleicht kommt die ganze Schweinerei ans Tageslicht, vielleicht auch nicht, vielleicht wird nur der Mörder als Mörder bestraft, nicht aber seine sauberen Hintermänner als Hintermänner. Man erhält Einblicke ins „Milieu“, keine Frage, vielleicht, wenn der Autor schlau ist, läßt er die Geschichte ganz einfach in die Wirklichkeit überlaufen, trotzige Banker vor der Kamera, hilflose Politiker in Talkshows, wütende Bevölkerung auf den Straßen (oder realistischer: in ihren Fernsehsesseln), dazu eine tragisch-hitzige Liebesgeschichte.
Das wäre „Krisenbewältigung“ auf Krimiart, getreu nach den Regeln inszeniert, von „literaturfähigem Personal“ nur so wimmelnd, überschaubar, aufklärerisch wie ein Tatortkrimi. Nur: Es käme wohl nichts anderes bei der Sache heraus als eine Paraphrase dessen, was uns längst anderswo medial um die Ohren gehauen wird, vielleicht nicht so spannend. Und somit müsste man Schorlau / Steinfest recht geben, wenn sie Porsche- und andere Krisenkrimis einfach nicht schreiben mögen.
Überlegen wir uns jetzt ein anderes Plotszenario:
Der Protagonist (ein ganz schlichter Normalbürger) hat durch die Bankenkrise Geld verloren. Irgendein Berater hat ihm Zertifikate der Ich-lass-deine-Kohle-arbeiten-Bank verkauft, die schneller toxisch wurden als ein Stück Käse, das man in ein Arsenbad taucht. Der Protagonist will Gerechtigkeit. Er möchte wissen, was mit seinem schönen, für die Schulausbildung der Kinder angelegten Geld passiert ist, das ihm doch 6 % Zinsen bringen sollte. Also beginnt er zu forschen und stellt fest, dass die Ich-lass-deine-Kohle-arbeiten-Bank Kredite an eine bolivianische Minengesellschaft vergeben hat, in deren Bergwerken Menschen für wenig Geld schuften, meistens nicht sehr alt werden und auf gar keinen Fall irgendwelche Rechte haben. Das Ganze funktioniert auch mit Ölgesellschaften in Nigeria oder T-Shirt-Herstellern in Bangladesh. Der Protagonist muss erkennen: Holla, am Beginn der Verbrechenskette stehe ja ICH SELBST! Also geht er auf ein Polizeirevier und zeigt sich wegen Verletzung der Menschenrechte, illegaler Bereicherung und einigen anderen Kleindelikten (Beihilfe zu diversen Tötungen, Umweltverschmutzung etc.) an. Ende des Krimis.
Mal ehrlich: Wollen wir so etwas lesen? Ist das Krimi? Natürlich nicht. Ein richtiger Krimi müsste aufgepeppt werden, aus unserem Protagonisten würde ein „Opfer“, das „ohne sein Zutun“ Tatbeihilfe geleistet hat… Was natürlich Blödsinn ist, eigentlich. Denn all das hätte der Protagonist ja wissen können, die blanke Tatsache, dass sich Geld auf der Bank nicht dadurch vermehrt, dass es Geschlechtsverkehr mit seinesgleichen ausübt, hätte zu denken geben müssen. Unser Protagonist hat schlichtweg verdrängt, sich nicht informiert, keine Konsequenzen gezogen. Er wird zwar von lachenden Polizeibeamten nach seiner Selbstanzeige (die gar nicht erst aufgenommen wurde) nach Hause geschickt, aber die Schuld durch Unterlassung bleibt dennoch bestehen.
Schlechter Krimi. Dieser Protagonist wäre tatsächlich im Sinne des Genres „nicht literaturfähig“, es sei denn, man würde seine Geschichte mit allerhand Thrilligem aufmotzen. Was aber diese Geschichte selbst verwässern würde. Die schnöde Wirklichkeit passt also tatsächlich nicht in einen Krimi. Oder sagen wir es so: Sie passt nicht in einen Krimi der tradierten Art.
Aber, Einwand: Das erste Exposé könnte dennoch ein großartiger Roman werden, das zweite, bei aller innovatorischen Anstrengung, ein üble Mißgeburt. Einverstanden. Bei Literatur, die „Wirklichkeit“ ja immer reduzieren / konzentrieren muss, um sie für uns auszuweiten, kommt es weniger auf gute Absichten als auf schriftstellerisches Vermögen an. Auch ist „die Wirklichkeit“ nicht immer politisch / gesellschaftlich. Manchmal verraten mir 300 Seiten in einem Kopf egozentrisch Zugerechtgedachtes mehr über den Zustand der Welt als jeder „politische Krimi“.
Die Frage indes bleibt: Ist die Kriminalliteratur mit all ihren Regeln und Lesererwartungen überhaupt in der Lage, Konstrukte von Wirklichkeit jenseits des Althergebrachten zu erschaffen? Oder anders: Versperrt nicht gerade das Verdammtsein zur „spannenden Unterhaltung“, zur suspensetriefenden Dramaturgie die alternativen Wege zur „Darstellung von Wirklichkeit“? Denn wenn wir uns noch einmal an das zweite Exposé erinnern: Es würde in einem Nicht-Krimi prima funktionieren können. Nun kann man sagen: Okay, dann soll, wer so etwas schreiben will, halt einen Nichtkrimi verfassen. Was dann einem Eingeständnis der Beschränktheit von „Krimi“ gleichkäme, ein vor dem Hintergrund, dass Kriminalliteratur momentan als DIE „Gesellschaftsliteratur“ gehandelt wird, beinahe peinliches Resignieren.
Ein anderer Ansatz würde jedoch davon ausgehen, dass es ja längst Kriminalliteratur gibt, die nur partiell den Regeln folgt. Nehmen wir zum Beispiel kubanische oder mexikanische Krimis, überhaupt: süd- und mittelamerikanische, ja, sogar afrikanische, asiatische: Hier werden oft zwei Geschichten von Verbrechen erzählt. Die einen handeln von Mord und Aufklärung, die anderen von einer durch Verbrechen erst zusammengehaltene, in sich maroden Gesellschaft, die zwischen Opfern und Tätern nur noch schwer unterscheiden kann. Das sind durchaus „Porsche-Krimis“ mit im Grunde „nicht literaturfähigem“ Personal. Und vergessen wir nicht die ganz Großen von Ambler über Thomas bis Simenon, all jene, von denen es manchmal heißt, sie hätten „mehr als Krimis“ geschrieben oder sich des Genres lediglich bedient, um irgend etwas zu transportieren. Ist es nicht doch eher so, dass sie einfach nur dazu befähigt waren, das Genre neuen Themen und ihrer Darstellung anzupassen? Jedenfalls: „Nicht literaturfähig“ ist letztlich nur das, was von nicht literaturfähigen Autoren geschrieben wird.
den Selbstanzeiger-Plot gibt’s, wenn auch nicht für Finanzloser; er kippt allerding realistischerweise in eine Krankengeschichte um. Und den Herren Steinfest und Schorlau kann man nur danken: da bleibt Zeit, Gaddis‘ „JR“ zu lesen (und Gaddis brauchte sein Thema nicht erst zu recherchieren).
Beste Grüße!
„Die schnöde Wirklichkeit passt also tatsächlich nicht in einen Krimi. Oder sagen wir es so: Sie passt nicht in einen Krimi der tradierten Art.“ Wieso? Exposee 2 ist imo nicht „literaturfähig“, weil völlig wirklichkeitsfremd. Ich aus selbstlosem Gutmenschtum quer durch die Welt recherchieren und dann mich selbst anzeigen? Nie
Hm. Aber Plot 1 (ein paar Bösewichte bedrohen die Welt, werden bestraft – und schwupps ist die Welt wieder in Ordnung) erscheint mir noch unrealistischer…
bye
dpr
Dann ist das vielleicht die Lösung: Im Schlund des Drachen von Colin Harrison. Geschrieben vor den Ereignissen, aber diese gewissermaßen verständlich machend.