Der Mord als simple Filmkunst betrachtet

Die Filmkunstwerke der Helene Tursten sind radikal. Sie denken das Genre Film zuende, was man leicht daran erkennt, dass ihr jüngstes Werk „Das Brandhaus“ nicht als Film, sondern als Buch daherkommt, obwohl es – was zu zeigen sein wird – natürlich ein Film im Bucheinband ist. Es kurbelt sich sozusagen direkt ins innere Kino des Lesers und okkupiert seine Bildwelten, denn bei allem digitalen Fortschritt auf dem Gebiet des Filmemachens ist nur das menschliche Gehirn in der Lage, „Das Brandhaus“ in seiner avantgardistischen Schönheit, seinem experimentellen Anspruch zu projizieren.

Dabei basiert Turstens Erzählweise durchaus auf den konventionellen Techniken, wie wir sie aus den üblichen Fernsehfilmen kennen. Dort gibt es zum Beispiel eine Kameraeinstellung, die uns ein Ermittlungsteam in einem Großraumbüro zeigt. Der Fokus liegt auf der Protagonistin – wir wollen sie Irene Huss nennen, um sie herum wuselt eher peripheres Personal. Irene Huss trinkt gerade eine Tasse Kaffee:

„Wie immer trank sie Kaffee mit einem Schuss Milch und verzichtete auf das Gebäck. Aus reinem Trotz nahm sich Irene eine weitere Zimtschnecke und leckte sich zuletzt noch sorgfältig Zimt und Perlzucker von den Fingerspitzen. Kindisch, gewiss, aber anschließend ging es ihr bedeutend besser. Allerdings würde sie ein paar Kilometer zusätzlich joggen müssen, damit sich die Zimtschnecke nicht an den Hüften festsetzte.“

Schon hier ist uns ein Blick in die filmästhetisch ambitionierte Arbeitsweise der Autorin vergönnt. Wir sehen die Kamera in einer langen Einstellung auf Irene Huss verharren, sehen, wie sie Kaffee trinkt, noch eine Zimtschnecke ißt und sich die Fingerspitzen ableckt. Das ist beinahe naturalistisch und wäre somit nichts Besonderes. Gleichzeitig jedoch verkündet uns eine Stimme aus dem Off: Schau nur, Leserin oder Leser, wie kindisch das ist. Und jetzt muss die Arme auch noch joggen.

Der Blick auf die Alltäglichkeiten des Lebens wird also durch dem Kunstgriff des permanent über die Bilder geblendeten Off-Kommentars einerseits verstärkt, andererseits aber auch verfremdet. Die banale Verrichtung des Zimtschneckenessens gelangt kraft des erklärenden Wortes auf eine andere, psychologisch interessante Ebene.

Auf der nächsten Seite ist Irene Huss zu Hause – und scheint wieder zu essen:

„Spaghetti mit Hackfleischsauce von Krister zubereitet schmeckten wie immer wunderbar, obwohl er darauf bestand, das Gericht Spaghetti Bolognese zu nennen. Ketchup war bei ihm natürlich verpönt. Die Sauce bereitete er aus reifen Fleischtomaten, Knoblauch, Basilikum, einem ordentlichen Schuss Rotwein und frischem Hackfleisch zu, das er in der Markthalle am Kungstorget kaufte.“

Ein weiteres Stilmittel von Tursten. Der Leser, die Leserin hat nicht nur den Mehrwert eines prima Pastagerichts (wobei ich den „ordentlichen Schuß Rotwein“ weglassen würde; aber in Schweden schreibt man nicht nur anders, man isst wohl auch anders), er wird auch abrupt aus der Stringenz des Filmes gerissen. Vor seinem inneren Auge erscheint Krister (Irenes Ehemann), wie er durch die Markthalle am Kungstorget schleicht und nach frischem Hackfleisch Ausschau hält. Wir hören ihn sogar reden und erfahren im Folgenden, welchen Zweck Tursten mit diesem plötzlichen Szenenwechsel verfolgt:

„‚Ich will mir das Fleisch anschauen können, bevor sie es kleinhacken‘, pflegte er zu sagen. Das hatte er immer so gehalten, schon bevor ruchbar geworden war, dass in den Läden abgepacktes Hackfleisch umetikettiert worden war.“

Hier begibt sich Tursten augenzwinkernd ironisch in die schwedische Kriminalliteratur-Geschichte und zollt den gesellschaftskritischen Krimis von Sjöwall / Wahlöö bis Henning Mankell Tribut. Ein Lebensmittelskandal, der nur en passant erwähnt wird und daran gemahnt, wieviel nicht nur ernährungstechnisch noch im Argen liegt.

Wie souverän Tursten mit ihren Mitteln arbeitet, dieser Mischung aus aneinandergereihten Banalitäten, belehrenden Stimmen aus dem Off und völlig unvermittelten Perspektiv- und Schauplatzwechseln, zeigt sich in einer wunderbaren Passage auf Seite 203.

„‚Kann jemand mein Bereitschaftswochenende mit mir tauschen?‘, fragte Fredrik Stridh in die Kaffeepause am Mittwochnachmittag.“

Wer ist Fredrik Stidh? Ein Kollege von Irene Huss, das ja. Aber spielt er in diesem Roman eine Rolle? Eine kleine zumindestens? Das nein. Er möchte das Bereitschaftswochenende tauschen, okay. Das wissen wir jetzt, und damit könnte es eigentlich auch gut sein. Nicht so im ästhetischen Konzept der Helene Tursten:

„Zwei Wochen zuvor war Fredrik Vater eines kleinen Wunders namens Agnes geworden. Die Geburt war glatt verlaufen, und Fredrik hatte seither im gesamten Dezernat für gute Laune gesorgt. Jetzt waren Baby und Mutter schon geraume Zeit wieder zu Hause, und Fredrik wollte sich gern ein paar Tage frei nehmen, um mit seiner Familie zusammen sein zu können. Er hatte außerdem etliche Überstunden angehäuft, die er nun endlich abfeiern wollte.“ Usw.

Hier steckt alles drin: Eine total überflüssige Figur wird in ihren Banalitäten ausgeleuchtet, die Stimme aus dem Off erklärt uns, was diese Figur vorhat, wir sehen es direkt vor uns: Fredrik Stridh mit seiner Frau und dem kleinen Wunder Agnes picknickend am See – hoffentlich holt sich Agnes keine Erkältung, denken wir weiter, sonst wird sie am Ende noch krank und Fredrik Stridh muss unbezahlten Pflegeurlaub nehmen.

Doch, das ist alles ziemlich beeindruckend und – wenigstens für die Kriminalliteratur – beinahe revolutionär. Aber Tursten geht weiter, viel weiter. Sie bricht mit der ehernsten Regel des Genres, welche besagt: Hey, ich habe einen Plot. Es geht um Mord und Totschlag. Um Opfer und Täter.

Und genau das interessiert Tursten nur am Rande, obwohl ihr Roman sogar zwei Plots besitzt. Zum einen den einer Reihe von Morden an jungen Mädchen, die sich ein unheimlicher Killer über das Internet gesucht hat und weiter suchen möchte. Zum anderen eine in einem Kamin eingemauerte Leiche, die zu einer anderen Leiche führt, die es in den Vierziger Jahren bereits zu beklagen gab. Beide wurden mit derselben Waffe erschossen, die Fälle hängen also zusammen.

Helene Tursten interessiert das aber alles nicht sehr. Den Mädchenmörder überführt sie routiniert per Lockvogel, er interessiert nicht weiter, er muss irgendwie psychopathisch gewesen sein. Die Opfer? Beide aus zerrütteten Familien, mehr gäbe es dazu auch nicht zu sagen. Im anderen Fall fügt es sich noch besser, da bekommen die Ermittler das Geständnis auf dem silbernen Tablett via Zeugenaussage serviert (hier übrigens die einzige Schwäche des Romans, denn der Zeuge könnte durchaus auch der Mörder sein und „Das Brandhaus“ mithin ein Krimi, bei dem sich die Autorin etwas gedacht hat).

Fazit: Helene Tursten hat einen hochinteressanten Kriminalroman für Leute geschrieben, die eigentlich keine Kriminalromane lesen wollen, sondern teilnehmen am größten und ehrgeizigsten Projekt der Film-, ach was sag ich: der Kunst- und Literaturgeschichte: Wie schaffe ich es, meine Leser / Zuschauer so einzuschläfern, dass sie am Ende gar nicht mehr merken, wie sehr sie sich gelangweilt haben?

dpr

Helene Tursten: Das Brandhaus. 
Btb 2009. 334 Seiten. 19,95 €
(Det lömska nätet", 2008. Deutsch von Lotta Rüegger und Holger Wolandt)

5 Gedanken zu „Der Mord als simple Filmkunst betrachtet“

  1. Frau Tursten ist sicherlich eine Meisterin der hier so präzise analysierten Erzähltechnik, die allerdings inzwischen von vielen anderen beliebten Autorinnen und Autoren, nicht nur aus Skandinavien, angewendet wird. Mich wundert allerdings, dass Tursten mit 334 Seiten auskommt, kann man doch auf diese Weise relativ mühelos Bücher von 700 Seiten und mehr füllen.

  2. Das ist der große Trost,lieber Joachim: Der Umfang des Buches ist überschaubar. In letzter Zeit lobe ich mir wieder die dünnen, so 200 – 300 Seiten: Christian Pernath, Mechtild Borrmann… Okay, Regi darf auch wieder nen 600-Seiter raushauen, da haben wir doch nix dagegen…

    bye
    dpr

  3. Aber eben das tut er nicht: Der neue Dalziel & Pascoe, „Midnight Fugue“, bleibt unter 350 Seiten und ist, trotz der für Reginald Hill bemerkenswert konventionellen Erzähblweise, erheblich raffinierter als so manch fettleibiges Kriminalepos aus Europas Norden.

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