Dpr fragt – die Krimileserschaft antwortet. Heute: Henny Hidden alias →„Krimilady“, auch in Sachen →„Frauenkrimis“ fleißig unterwegs. – Demnächst gibt es die ersten vier Interviews kompakt im Krimikultur: Archiv, weitere Nachrichten aus dem Krimileseleben folgen – bereitwillige Leserinnen und Leser sind immer →willkommen.
Dieter Paul Rudolph: Standarderöffnungsfrage: Wie bist du zur Krimileserin geworden – und, viel wichtiger noch: Warum bist du dabei geblieben?
Henny Hidden: „Wie bist du zur Krimileserin geworden?“ – Ich habe festgestellt, dass ich nicht allein stehe, wenn ich sage, dass Mankell bei mir der Auslöser war. Irgendwie habe ich nach einem Urlaub in Schweden mitgekriegt, dass sein Krimi da spielt, wo ich gerade vor wenigen Wochen gewesen war. Ich glaube, ich habe den Krimi in einem Lottoladen gekauft, beim Lesen dachte ich, man, der Mann beschreibt ja jede Straßenkreuzung, ich konnte mich sogar erinnern, und ich fragte mich, was das für einen Sinn macht. Ich kannte das so nicht aus der Literatur. Die ausführliche Darstellung der Ermittlungsmethoden hat mich fasziniert, seine Methode, Handlungsstränge aus vielen kleinen Teilen zusammenzuführen, war eine neuartig für mich. Das geschah alles sehr direkt und unmittelbar.
Vordem habe ich ein bisschen moderne Dramatik gelesen und dort habe ich mir auch schon die Strukturen angeguckt und gesehen, mit welchen Kommunikationsstrategien man welche Wirkung erzielen kann. Über Krimis nachzudenken war sozusagen eine Ergänzung und ideale Weiterführung für mich.
Ich habe damals alle Bücher von Mankell gelesen, dann wollte ich wissen, wie es andere machen, ich las Hakan Nesser und dann Ake Edwardson. Mit dem Kennenlernen der unterschiedlichen Handschriften bin ich immer neugieriger auf Krimis geworden und mein Bedürfnis nach neuen Formen des Krimis wuchs.
„Warum bist du es geblieben?“ – Das kann ich gar nicht so leicht beantworten. Wenn ich Freunde treffe und ich erwähne, dass ich Krimis lese, suchen sie immer jemanden, der auch Krims liest und wenn ich mich dann unterhalten will, hat dieser meist Krimis gelesen, die ganz oben in den Bestsellerlisten stehen und die ich garantiert nicht kenne. Es gibt nur zwei Ereignisse im Jahr, wo mir in den Sinn kommt, dass ich auch mal was anderes lesen könnte, die Buchmesse und das Bachmannpreislesen. So fand ich Sibylle Lewitscharoffs Auftreten sehr imposant, dass ich mir sagte, ich sollte sie unbedingt lesen. Aber ich habe es bis heute nicht getan.
Das Krimigenre ist ja sehr vielseitig, gute Literatur gibt es über alle Grenzen hinweg. Bereut habe ich es noch nicht, manchmal denke ich nach dem Lesen eines Krimis, dass ich lieber einen anderen hätte wählen sollen, aber es bleibt immer der Krimi.
Vielleicht hängt es auch mit der Persönlichkeit zusammen, die Prosa mit ihrem gleichbleibenden Fluss und mit ihrer Innerlichkeit reichte mir irgendwann nicht mehr für die Abbildung der Ungeheuerlichkeit des Lebens. Und die Dramatik hat einen langen Lauf. Für mich ist es das Genre dazwischen. Im Krimi kann das Absurde und Monströse schneller auf den Punkt gebracht werden. Einen Krimi empfinde ich gedrängter und intensiver und Wendungen können viel unvermittelter geschehen. Er ist bezogener und verliert sich nicht so leicht.
Aber je länger ich hier nachdenke, umso schwerer kann ich das Besondere bestimmen, das Kriminalliteratur hervorhebt. Andere Literatur leistet vieles, was ich mir erhoffe, auch. Und vielleicht läuft es doch letzten Endes auf die Lösung eines Rätsels hinauf, im engeren Sinne wohlgemerkt. Nein, sicher nicht!
Literatur hilft uns ja immer beim Entschlüsseln der nicht verstehbaren Realität und das verlange ich auch von Krimis.
Vielleicht ist es auch das Verlangen nach immer originellen Konstruktionen. Wer der Täter ist, interessiert mich nicht mehr so, ebenso wenig beeindrucken mich blutrünstige Darstellungen oder Monsterfiguren.
Es passiert selten, dass ich im Krimi richtig drin bin, das bedauere ich schon, aber es gibt Abstufungen. Meistens denke ich darüber nach, wie der Autor wohl die konkrete Situation auflösen wird, manchmal habe ich echt keine Idee und dann werde ich vom Autor so überrascht, dass ich ihm um den Hals fallen könnte. Ich freue mich dann, dass es Autoren schaffen, mir neue Sichtweisen nahe zu bringen. Ich kann mich überhaupt freuen, wenn ich bei KrimiautorInnen Kreativität und Begabung entdecke.
Dpr: Das mit den „neuen Sichtweisen“ möchte ich ein wenig vertiefen. Bezieht sich das eher auf den Inhalt – oder auch auf die Art und Weise der Darstellung, also etwa das „Sprengen von Genregrenzen“? Wie weit darf dich ein Krimiautor, eine Krimiautorin eigentlich düpieren (Täter wird nicht entlarvt / bestraft, vieles bleibt unklar, wird nicht aufgelöst etc.).
H.H.: Nun, wenn man von jemand düpiert wird, ist das ja keine schöne Sache. Es ist ja immer die Frage, ob man es so auffasst. Und das hängt von meinen Leseerwartungen ab, von meinen Leseerfahrungen und meiner Strukturiertheit. Grundsätzlich, als generelle Haltung, kann mir ein Autor alles anbieten, wenn ich merke, dass er sich einer Idee verpflichtet fühlt. Das ist nach den ersten Seiten nicht immer gleich zu erkennen, und manchmal braucht man schon etwas Ausdauer, um die Macht der Sätze zu begreifen. Ein Autor sollte mir schon eine Denkrichtung vorgeben oder zumindest erahnen lassen. In den seltensten Fällen gefällt es mir, wenn ich so gänzlich im Regen stehengelassen werde. Finde ich nicht irgendwo einen Haken, wo ich mich anklammern kann, verliere ich das Interesse. Das ist wie mit einem abstrakten Bild, ist da nicht mal eine ungewohnte Farbkomposition oder eine kleine Provokation dahinter zu erkennen, die einen anspricht, ist es vorbei.
Ich gehe davon aus, dass ein Autor beim Schreiben ja an irgendeiner Stelle mal innehält, um darüber nachzudenken, warum er seine Figur so und nicht anders enden lassen will, und bei einem ernstzunehmenden Autor wird es ja inhaltlich motiviert sein und nicht nur die Freude an einer ästhetisch schönen Konstellation dahinterstehen.
Obwohl mir bei Thierry Jonquets Krimi „Die Haut, in der ich wohne“ der Gedanke daran kurz gekommen ist, und ich hätte des Autors Vorgehen sogar verstanden. Das sind vielleicht die aufregendsten Momente des Lesens: wenn man vor sich selbst erschrickt und seine Asozialität entdeckt.
Nein, ich suche in Krimis nicht nur den aufklärerischen Gestus, den gesellschaftlichen Bezug, obwohl ich ihn für ausgesprochen wichtig und notwendig erachte, ich möchte durch ihn auch in den Bereich der Grenzerfahrungen vorstoßen. Mittlerweile glaube ich, dass ich mit einem Sachbuch wohl besser bedient bin, weil Figurenzeichnungen oft zu einfach und klischeehaft daherkommen. Es interessiert mich immer, wie und warum Menschen anderen Menschen Gewalt in der einen oder anderen Weise antun können. Individuelle Verschränkungen mit gesellschaftlichen erahnbar zu machen, denke ich, sollte ein guter Krimi aufzeigen.
Ich besitze natürlich bestimmte Vorlieben wie jeder andere Leser auch. Wenn sie nicht bedient werden, muss der Krimi ja nicht schlecht sein, er spricht mich eben nur nicht an. Wie in jedem Buch sucht man nach Gewohntem und Neuem. Ganz klar habe ich auch meine Dogmen, und wenn ich im Krimi nicht mal ansatzweise merken kann, dass sie Bestätigung erfahren, dann tut es mir leid. So möchte ich in einer Zweierbeziehung eine mehrschichtige Dialogführung und eine Entwicklung durch Figurenbezug erkennen können. Ich gebe zu, das ist eigenwillig, aber es gibt so großartige Vorbilder, darunter will ich es nicht mehr. Auch nicht bei Andrea Maria Schenkels „Bunker“, trotzdem warte ich gespannt auf ihren nächsten Krimi.
Ich könnte jetzt noch anfügen, dass ich Krimis nicht mag, die ins Phantastische abgleiten, die auf vordergründigen Humor bauen oder die auf immer ähnlich gestrickte Whodunnits bauen. Doch diese Abneigung kann sich sofort aufheben, wenn ich etwas Neues, Verstörendes über mich oder die Welt erfahre. Deshalb meine ich, dass ein Autor mich nicht düpiert, wenn er ungewohnte Bilder liefert, sondern wenn er durch ewig gleiche Muster gähnende Langeweile in mir hervorruft.
Ich will noch auf den ersten Teil deiner Frage eingehen. Zum „Sprengen der Genregrenzen“ kann ich mich nicht äußern, weil ich die Grenzen nicht ausmachen kann. Bis jetzt habe ich auch noch keine überzeugende Erklärung gelesen, wo sie liegen.
Das mit den neuen Sichtweisen sehe ich auch etwas vertrackt. Manchmal ist es ja nur ein kleiner Schritt, und dann hat man sie verpasst. Ich kann es heute nicht mehr erklären, warum ich bei David Peace dabeigeblieben bin, es ist mir anfangs nicht leicht gefallen, etwas hat mich angerührt, weiterzulesen, und ich bin mir selber dankbar dafür. Es ist mir schon einige Male im Leben passiert, dass ich mit einer Textstruktur nicht klargekommen bin, manchmal bin ich hartnäckig geblieben und habe es zum späteren Zeitpunkt wieder versucht, und es hat wunderbar geklappt. Manchmal bin ich in einem Essay oder in einer Rezension wieder auf das Buch aufmerksam geworden, weil der Schreiber interessante Aspekte hervorhob, die ich dann unbedingt erfahren wollte.
Das gehört wohl auch zur Krimikultur, Ignoranten und Nichtwissenden ein Tor zu öffnen.
Dpr: Wie kommst du eigentlich an deine Lektüre? Nach welchen Kriterien gehst du da vor? Den Inhaltsangaben der Verlage, vorhandenen Kritiken – und wie bewertest du die Informationsmöglichkeiten über Krimiliteratur generell?
H.H.: Da ich rezensiere, bekomme ich inzwischen die Bücher zugeschickt. Von den AutorInnen selbst oder von einer Agentur, der ich sehr vertraue. Rezensionsexemplare fordere ich von den Verlagen an, die haben mittlerweile ihr Herz für Blogger entdeckt oder ihre Marketingstrategie aufs Internet ausgeweitet. Über Newsletter erfahre ich von den Neuerscheinungen, über die neuen Bücher des kommenden Monats informiere ich mich auf den Onlineseiten der hammett- Buchhandlung Berlin, die ich etwas aussagekräftiger finde als die der Krimi-couch.
Ich lese fast täglich die Buchzusammenfassungen in den Alligatorpapieren. Zur Groborientierung achte ich auf Reizwörter wie „abgründig“ „verstörend“ „irritierend“, tauchen sie auf, schaue ich mir das genauer an und finde ich dabei noch eine interessante Konstellation, vielleicht noch mit einer originellen Ausgangssituation, dann ist das für mich ein Krimi, den ich in die engere Wahl ziehe. Bei aller Vorsicht, wohlgemerkt.
Rezensionen überfliege ich in der Regel nur, und je klarer mir wird, dass ich das Buch rezensieren will, lasse ich sie ganz beiseite. Rezensionen sind dann mich aufschlussreich, wenn ich einen Autor in der Gesamtheit seines Schaffens einschätzen will.
Ich habe mir vorgenommen, alle Bücher von Krimiautorinnen, die auf den Plätzen der Krimiweltbestenliste stehen, zu lesen, na ja, viele sind das ja bis jetzt nicht gewesen.
Prinzipiell unterscheide ich bei der Wahl eines Krimis nicht zwischen Debüt und Bestseller. Meistens interessieren mich sogar Debüts mehr. Auch wenn mir manchmal ein Krimi gefällt, wenn ich merke, dass in kurzen Abständen weitere hinterher geschoben werden, bin ich skeptisch.
Da ich mehr Krimis von Autorinnen lese, achte ich darauf, dass in Abständen auch mal Krimis von Männern folgen, einfach, um Neues nicht zu verpassen und mich anderen Sicht- und Schreibweisen nicht zu verschließen.
Ich bin viel im Netz unterwegs und die Informationsmöglichkeiten über Krimis sind sehr vielseitig und ausreichend. Manchmal vermisse ich längere Aufsätze, die sich mit verschiedenen übergreifenden Aspekten befassen, vorzugsweise die unter psychologischen oder soziologischen Blickwinkeln. Die Betrachtung von Krimis erschöpft sich ja im Tagesgeschäft leider nur im Schreiben von Rezensionen. Oder es werden Interviews mit AutorInnen geführt, die qualitativ sehr abweichen.
Die Verlage geben ja viel Informationen über ihre Neuerscheinungen raus, aber ab und zu rätsle ich schon, ob das angekündigte Buch erschienen ist oder nicht. Und wie ich mitbekommen habe, wissen es selbst Autoren nicht immer so genau.