Einhundertzweiundvierzig Seiten Text: Für einen Krimi bedeutet das Reduktion, mehr andeuten als ausführen, das vage Skizzenhafte als Grundlage einer erzählerischen Präzision, die auf das Vorstellungs- und Ausbauvermögen des Lesers hoffen muss. Eigentlich keine schlechten Voraussetzungen für Kriminalliteratur. Denn je mehr sie ausleuchtet, desto mehr verdunkelt sie.
Octavio Escobar Giraldos „Saide“ ist eine doppelte Liebesgeschichte ohne Happyend. Wir begegnen dem Protagonisten in der kolumbianischen Hafenstadt Buenaventura, wo er – als Rundfunksprecher in der Hauptstadt gescheitert – ein Postbüro leitet. Oder auch nicht, denn die Arbeit macht ihm keinen Spaß, er überlässt sie seinen Angestellten. Ein paar Liebesabenteuer, gelegentlich ein Besäufnis. Dann begegnet er der jungen Saide. Sie, Tochter einer Kolumbianerin und eines Libanesen, möchte einen dicken Brief in die USA aufgeben, doch das Porto scheint ihr überhöht, sie will den Chef sprechen. Der verliebt sich in Saide. Verliebt in die Schön e ist aber auch der schon etwas ältere Arzt Diaz-Plata. Er kennt Saide seit ihrer Kindheit und hat sie schon früh als „seine Frau“ auserkoren. Mit wenig Erfolg, scheint es, denn Saide liebt einen Gangster, der nun eine langjährige Haftstrafe in den USA verbüßt. An ihn sind die Briefe adressiert. Sie enthalten eine Art Tagebuch des Mädchens.
Saide. Sie bliebt zweilichtig, in der Zeichnung ihres Charakters eher grob, wie eigentlich alle Personen des Buches. Könnte ein Nachteil sein, ist es aber nicht. Denn so wie Giraldo seine Figuren präsentiert, sind sie genau richtig, um vom Leser ausgemalt zu werden. Menschen, die ohne die soziale Situation, in der sie leben, nicht vorstellbar sind, nicht ohne die Drogenkartelle, überhaupt das allgegenwärtige Großverbrechen, die politischen Extreme des Landes, seine Korruptheit, seine Lethargie. Das Verbrechen, das beide Liebesgeschichten abrupt beendet, geschieht fast beiläufig, lakonisch.
Erzählt wird die Geschichte in Rückblenden, während die Gegenwart voranschreitet und auf ein anderes Verbrechen zusteuert. Das ist geschickt gemacht, das Vergangene kommentiert das Jetzt und beide spitzen sich zum Ende zu. Aber das ist natürlich kein Ende wie in einem penetrant auf vielen hundert Seiten ausgemalten Roman. Giraldo hat einen Text geschrieben – Roman mag man ihn nicht nennen, vielleicht trifft es „Novelle“ besser -, den nur die Vorstellung des Lesers wirklich zusammenhält. Das ist eben der Vorzug von Kompensation: Man kann die Geschichte so weit entwickeln, wie man möchte. Man kann sie für sich abschließen oder über ihr physisches Ende hinaus weiterlaufen lassen. Nachteil: Von selbst passiert das nicht. Aber das ist ja eher ein weiterer Vorteil.
Octavio Escobar Giraldo: Saide.
Lateinamerika Verlag 2009. 145 Seiten. 16 €
(Saide, 2007. Deutsch von Peter Tremp)
Ah, wie ich sehe, hast du die Lobotomie (oder was das war) gut überstanden. Gratuliere!
Gratuliere? Das ist die erste Rezi aus meinem Nachlass…
bye
dpr