Die allgegenwärtige Kamera

Eine Polizistin, die mit Kleinkind und WG-Mitbewohner, einem schreibblockierten Kriminalautor, urlaubt. Gestattet sich Astrid Paprotta hier, in ihrem ersten Tatort-Drehbuch „…es wird Trauer sein und Schmerz“, einen augenzwinkernden Scherz? Handy. Ein Bäckermeister ist erschossen worden, das dritte Opfer eines „Sniper“. Kommissarin Lindholm, zufällig in der Nähe des Geschehens, ermittelt mit den Braunschweiger Kollegen, während ihres Urlaubs.

Nein, das mit dem schreibblockierten Krimiautor ist kein augenzwinkernder Scherz. Nichts in diesem Film ist augenzwinkernd, aber alles so, als betrachtete man es als distanzierter, unbeteiligter Beobachter durch den Sucher einer Kamera, ein Auge geschlossen. Ein Film über das Gaffen, das Nichthelfen (und der skandalöseste Satz fällt am Ende aus dem Mund einer Gafferin: „Kann ich Ihnen helfen?“), das Verwandeln von Wirklichkeit in Sensationsfilmchen, in Internetwirklichkeit. Der entscheidende Typ kommt übrigens von unserem Krimiautor, dem das hautnahe Erleben, die Sniper-Sensation die kreative Potenz zurückgibt.

So spielt „…es wird Trauer sein und Schmerz“ mit den Wahrnehmungen. Und wir Zuschauer? Nehmen ebenfalls wahr, wie sich die Tragödie anfühlt, wenn sie Event geworden ist und schließlich „spannende Unterhaltung“. Denn das war sie: spannende Unterhaltung. Aber wie immer bei Astrid Paprotta: auch noch ein entscheidendes Quentchen mehr. Keine Gleichung Gaffen = Fernsehgucken = Krimilesen und dennoch das alles so bedrohlich dicht nebeneinander her fließend, dass wir eine entfernte Verwandtschaft nicht ausschließen können. Die Kamera ist überall; Wirklichkeit künstlich, wir können machen was wir wollen.

5 Gedanken zu „Die allgegenwärtige Kamera“

  1. Wer Astrid Paprottas Krimis gelesen hat, der konnte natürlich deutlich ihre Handschrift erkennen. „Tatort“- Kommissarin Charlotte Lindholm, sonst taffer und schwarzhumoriger, wurde zu Ina Henkel, nachdenklicher, verletzlicher. Ganz lustig, als ich vor einem Jahr Paprottas Ina Henkel- Reihe las, hatte ich die Schauspielerin Maria Furtwängler immer vor Augen 😉 Deshalb war der „Tatort“ gestern für mich ein doppelter Genuß.

  2. Ist nicht dein ernst, oder? Dieser Tatort war voller Klischees, platter Dialoge, blasser Charaktere und selten dämlicher Cliffhänger: Denn natürlich ist es der Krimiautor, der die Kommissarin mit seinem vermeintlich ödem Geschwätz auf die richtigen Spuren bringt, und das gleich mehrmals. Selten so bereut, einen Tatort geguckt zu haben.

  3. Wuaah, spricht da ein zu kurz gekommener Krimiautor?
    Egal, ich habe diesen Tatort nur geguckt, weil Zaimoglu in der ‚Zeit‘ sich nicht mehr einkriegen konnte. Und richtig, es war einer der besseren, da gibt’s nix.
    Wenn nur die Lindholm nicht wär. Die hat einfach Null Ausstrahlung.

  4. Sollte die Sache mit den unterschiedlichen Sichtweisen am Ende doch stimmen? Die Figur des jungen Polizisten etwa, der angesichts der Gaffer ausrastet, finde ich gerade im Hinblick auf die „Transzendenz“ des Textes gelungen. Seine Frau erzählt, wie sich ihr Mann nach den Ereignissen völlig schockiert und apathisch vor den Fernseher gesetzt habe – der gar nicht eingeschaltet war. – Das sind so die Kleinigkeiten, die mir aufgefallen sind, weil sie die Verknüpfungen herstellen zwischen den Formen von „Wirklichkeit“.
    In einigen Vorabkritiken wurden übrigens Täter und Motiv ganz nonchalant preisgegeben. Und das bei einem Drehbuch, das sich von Verdächtigem zu Verdächtigem entwickelt, also einen Teil seiner Spannung aus der Tatsache bezieht, dass man als Zuschauer so schlau ist wie die Ermittler. Das nennt man „Spoiler“ und wäre bei einer Romanrezension als Todsünde gebrandmarkt worden.
    Aber nun ja: Sichtweisen eben.

    bye
    dpr

  5. Warum sollte Frau Lindholms „Lebensbegleiter“ plötzlich in einer Folge eine andere Zeichnung bekommen? Ausstrahlung kann man nicht messen, man kann auch nicht darüber streiten. Es geht wohl eher um die Präzision des Ausdrucks, auch um die Gewichtung von Problemen – das gelingt Maria Furtwängler nach meinem Eindruck.
    Es liegt im übrigen eine fast fatale Nähe vor: Nonstop news (man möchte es fast für eine Erfindung halten, ist es aber nicht) hat Filmaufnahmen von Teresa Enke an der Stelle der Bahngleise gemacht, an der sich ihr Mann vor den Zug geworfen hat. SAT 1, RTL und andere Sender (bis hin zum ZDF, dort ist dann das Gesicht unkenntlich gemacht worden, was fast noch verlogener ist)haben das Zeug gekauft und veröffentlicht. Trauer oder Spektakel oder Trauer, weil es so spektakulär ist? Oder Event, weil es so schön an unseren Tiefenschichten kratzt?
    So boulevardesk, wie die Wirklichkeit ist, hätte Astrid Paprotta es mit guten Gründen nicht geschrieben. Aber die Darstellung hat eine ganze Menge getroffen.

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