Ein Ziegelstein? Eher ein Backstein. Unhandlich und kiloschwer, kein Schnäppchen aus der Krabbelkiste: Jochen Schmidts „Gangster, Opfer, Detektive“ in überarbeiteter, aktualisierter und stark erweiterter Neuausgabe der Erstveröffentlichung von 1989 bei Ullstein. 1127 Seiten, Großformat. Ein Buch, über dessen Existenzberechtigung nicht zu streiten ist, ein Buch aber auch, das nur dann wertvoll wird, wenn man sich MIT IHM streitet.
Denn es sieht zwar aus wie ein Lexikon, ist aber keins. Eher eine umfangreiche Sammlung von Aufsätzen eines fleißigen Krimienthusiasten, dessen Ziel es war, aus den vielen Einzelstücken so etwas wie eine „Typengeschichte des Kriminalromans“ zu komponieren. Eine Melange aus Fakten und Meinungen also. Und wegen letzteren geradezu nach Widerspruch schreiend, doch nicht, um den Wert des Buches zu schmälern, eher, um ihn zu heben.
Bevor wir darauf zurückkommen und ein paar Ergebnisse der ersten kursorischen Lektürestunden preisgeben wollen, sei aber ein Wort des Lobes und des Dankes an den kbv-Verlag und seinen Verleger Ralf Kramp gerichtet. Der nämlich hat Schmidts Werk erst für die Öffentlichkeit begehbar gemacht, nach einer ziemlich gruseligen Odyssee, die der Autor im Vorwort deutlich genug schildert. Ein Ruhmesblatt für die deutsche Verlagslandschaft ist das nicht, zeigt aber einmal mehr, warum wir ohne die kleinen Verlage und ihre mutigen Betreiber vollends in einer krimikulturellen Wüste verschmachten müssten. Zwar ist zu erwarten, dass wahre Liebhaber des Genres ihre Bibliotheken mit Schmidts Kompendium schmücken werden, auf Bestsellerlisten wird man aber vergebens suchen. Vielmehr dürfte Schmidts Opus Magnum als letztes seiner gedruckten Art in die Annalen eingehen und künftig allenfalls noch im Internet bestaunt werden können und auch dort nur als Teamwork.
Begeben wir uns nun in den Text selbst. Und noch einmal: Hier erwarten uns viele Fakten und ebenso viele Meinungen des Autors. Die man nicht zu teilen braucht und ganz gewiss auch nicht in allen Fällen teilen wird. So soll es sein. Erkenntnisgewinn verspricht allein das Aneinanderreiben von Autoren- und Lesermeinung. Wenngleich ich natürlich zunächst einen schweren Fehler gemacht und mit der Lektüre des Artikels „Der deutsche Kriminalroman und seine Historie“ begonnen habe. Der ist, mit Verlaub, naiv und oberflächlich; was zwischen 1850 und, sagen wir, 1900 in Deutsch-Krimiland geschah, weiß Schmidt kein bisschen. Hätte nicht sein müssen, wie man vielleicht ahnt. Aber: Alles wissen kann auch Schmidt nicht, und wenn es bei diesem einen Ausrutscher bleiben sollte, habe ich ihn sofort wieder vergessen.
Ach ja: Dass auch bei Schmidt so manches „fehlt“, nehmen wir als naturgegeben hin. Wie sollte es anders sein. Sjöwall / Wahlöö jedenfalls sind dabei, und der entsprechende Artikel kann als gelungen und treffend pointiert durchgewunken werden. Es ist generell ratsam, erst einmal herauszufinden, wie ein Autor, der einem so dickbändig seine Meinungen offenbart, überhaupt tickt. Welche Grundauffassung von „Krimi“ hat Schmidt? Hier hat mir seine Einschätzung von Norbert Horst weitergeholfen, denn Schmidt mag Norbert Horst nicht, ich aber schon sehr.
Schmidt mag also Horst nicht – und zwar hauptsächlich wegen seiner Sprache. „Der Roman [„Todesmuster“, Anmerkung dpr] ist weniger chaotisch als ‚Leichensache‘, bleibt aber sprachlich auf einem Niveau, das man im seriösen deutschen Krimi eigentlich überwunden glaubte, immer wieder stoßen dem kritischen Leser Holprigkeiten auf wie ‚Hat der Akte?‘ oder ‚Da wird einem doch ein Träger rausgenommen ohne abzustützen‘, und eindeutig transitive Verben werden gebraucht, ohne dass Horst ihnen die notwendige grammatikalische Beziehung zuordnete.“
Über das sprachliche Niveau „im seriösen deutschen Krimi“ nur so viel, dass es für Schmidt scheinbar etwas mit „notwendigen grammatikalischen Beziehungen“, weniger mit der Autorintention und der Erzählperspektive zu tun hat. Bei Norbert Horst liest sich’s halt so, wie in bestimmten Kreisen geredet / gedacht wird. Und wenn in einer Mordkommission jemand „Aktenführer“ ist, dann hat er nun mal „Akte“. Da mag sich der Deutschlehrer empört den dicksten Duden als Wurfgeschoss auswählen, es lässt sich nicht ändern. Wenn aber so geschrieben wie geredet / gedacht wird, dann wäre es geradezu ein Verbrechen des Autors, dem so Redenden / Denkenden eine Art Korrekturinstanz namens „notwendige grammatikalische Beziehung“ zu verpassen. Was Schmidt hier also als Schwäche Horsts anprangert, muss, aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, eigentlich als seine Stärke gelten.
Schon da war mir klar, dass Schmidt und ich in einem entscheidenden Punkt wohl nicht zusammenfinden würden: Welche Bedeutung haben Sprache und Erzählperspektive für den Kriminalroman? Um mein Urteil zu untermauern (es revidieren zu müssen, war von Anfang an leider nur eine theoretische Alternative), las ich, was Schmidt so von Pieke Biermann hält und im Kapitel „Pieke Biermann, Astrid Paprotta und Monika Geier: die neuen Individualisten“ (nicht „-innen“?) schreibt. Vorweg: Allen drei Damen steht Schmidt prinzipiell wohlwollend gegenüber, hat aber dennoch einiges auszusetzen. Bei Pieke Biermann vor allem, dass die Handlungen „chaotisch“ seien und zwar (das steht allerdings nur spärlich zwischen den Zeilen) im Besonderen wegen Biermanns Sprachduktus. Eine völlig korrekte Einschätzung – wenn man von der Lektüre sogenannter „Normalkrimis“ zu Biermann findet oder gar, wie bei Schmidt zu befürchten, vom „seriösen deutschen Krimi“ mit seiner Hingabe an Duden- und Schuldeutsch. Wer sich allerdings auf die unseren Alltag durchdringenden, ja, dominierenden Sprachcollagewelten einlässt, auf dieses muntere, so gar nicht stringent narrative Plappern in uns und um uns herum, der wird sich – und sei es nach einer gewissen Einarbeitungszeit – wohlfühlen in Piekes Kosmos und vielleicht für das halten, was französische Kritiker (von Schmidt zitiert) als „die Offenbarung des deutschen Kriminalromans der 90er Jahre“ erkannt haben (wobei wir das mit den 90er Jahren ruhig um die kommenden zwei Jahrzehnte erweitern wollen und uns ein Hintertürchen für die Zukunft offenhalten).
Und noch einmal: Ich versuche lediglich, das Schmidtsche Krimiverständnis in seinen wesentlichen Umrissen nachzuzeichnen, um herauszufinden, worauf ich mich bei der Lektüre einlasse. Das ist „Kritik“ im Wortsinn, keine eo ipso negative. Schmidt mag es halt nicht „sprachlich unkorrekt“, ja, er geht auf diese Sprache z.B. bei Biermann auch gar nicht weiter ein. Sein Augenmerk gilt der Handlung, dem Plot, den „Fäden“. Das ist legitim. Nur wird es eben genau dort dem Gegenstand nicht gerecht, wo Sprache und Erzählperspektive die Hauptrollen spielen (auch bei Astrid Paprotta, nebenbei). Was Schmidt zu Noll, Hammesfahr und Konsorten zu sagen hat (unter dem treffenden Titel „Brigittes Lieblinge“), ist indes herzerwärmend und verspricht, dass man sich nicht ständig streiten, sondern bei Gelegenheit auch mal seelenverwandt umarmen wird.
Man könnte diese Differenz der Les- und Interpretationsarten nun weiterspinnen und fragen, welche Rolle Sprache und Erzählperspektive im Kriminalroman überhaupt spielen SOLLEN, ja, gar DÜRFEN. Und käme dann automatisch zur Frage nach der Natur und dem Wesen von Kriminalliteratur, ihrer Abgrenzung von „Hochliteratur“ etc. Eine schier endlose und letztlich fruchtlose Diskussion, aber genau das Pfund, mit dem Schmidt wuchern kann. Man kommt bei der Lektüre nicht umhin, auch die eigenen Ansichten von Kriminalliteratur abzuklopfen, was einen ständigen Diskurs mit den Ansichten des anderen bedingt. Krimi kann vieles sein, es gibt eine Menge von Blickwinkeln, aus der man sie betrachten, einschätzen und schätzen kann. Was ist Krimi? Nun, zuallererst: Eine aus Erfahrung und Lektüre gespeiste, vom eigenen Intellekt geformte Definition. Dies zu erreichen, braucht es unbedingt solcher Hilfsmittel wie „Gangster, Opfer, Detektive“. Womit wir beim Anfangskapitel von Schmidts Buch wären, das nichts weniger als die Kernfrage zum Genre behandelt. „Was zum Teufel ist ein Kriminalroman?“
Beantworten wir jetzt aber nicht. Später. Erst mal weiterschmökern.
Jochen Schmidt: Gangster, Opfer, Detektive. Eine Typengeschichte des Kriminalromans.
Kbv 2009. 1127 Seiten. 43,90 €