Die isländische Kriminalliteratur hat sich längst im Fahrwasser des Schwedenhypes auf ihre Art skandinavisiert und globalisiert, von anderen nordischen Vertretern des Genres nur noch durch die Namensendungen und gelegentlich ein Übermaß an Eis und Schnee zu unterscheiden. Das ist schade für ein kleines Land mit einer ungewöhnlich alten und ausgeprägten Nationalliteratur. Doch auch Island hat, was Krimis anbetrifft, seine Klassiker, und der größte ist (neben den bekannt blut- und verbrechensgetränkten Geschichten der Edda) Gunnar Gunnarssons „Schwarze Vögel“.
Gunnarsson (1889 – 1975) war zu seiner Zeit ein in ganz Europa bekannter Autor, der sich des weiter verbreiteten Dänischen bediente, um von seiner Arbeit überhaupt leben zu können (Island gehörte bis 1944 zu Dänemark). Doch auch in Deutschland wurde Gunnarsson hoch geschätzt, was indes dem Autor nach dem Krieg nicht gut bekam, hielt man ihm doch eine zu große Nähe zu den Nazis vor. Der 1929 erschienene Roman „Svartfugl“ kam denn auch umgehend als „Schwarze Schwingen“ zu seiner Eindeutschung, wenngleich – wie das ausführliche Nachwort von Karl-Ludwig Wetzig zur Neuausgabe erläutert – mit einem im Original nicht festzustellenden Blut-und-Boden-Vokabular verhunzt.
Die Geschichte beruht auf einem Tatsachenfall. 1802. Auf einem Einödhof im Gebiet der Westfjörde teilen sich zwei Familien in ihr jämmerliches bäuerliches Dasein. Bjarni, mit der kränklichen Guðrún verheiratet, verliebt sich in Steinunn, Jóns Frau. Das kann nicht gutgehen. Treffen sich die Menschen zum sonntäglichen Kirchgang, wird gemunkelt, unsittliche Dinge ereigneten sich da draußen auf dem gemeinsamen Hof. Dann stürzt zunächst Jón über die Klippen ins Meer, kurz darauf bringt Bjarni seine Frau Guðrún im Behelfssarg zum Kirchhof. Als nach Monaten die Überreste der Leiche Jóns angeschwemmt werden und daran Anzeichen von Gewalteinwirkung zu erkennen sind, wird aus den Gerüchten bittere juristische Wahrheit. Bjarni und Steinunn werden festgenommen und vor Gericht gestellt, sie leugnen die Tat.
Gut zwei Drittel des Romans sind dem Mordprozess gewidmet, an dessen Ende der Schuldspruch für beide und damit das Todesurteil steht. Die Angeklagten haben gestanden, wenn auch nicht alles, aber doch genug.
Na und? Krimi? Zugegeben: „Schwarze Vögel“ nach dieser Kurzbeschreibung als Kriminalroman zu bezeichnen, wäre ein wenig vermessen. Ein Roman über Liebe und Tod, Armseligkeit und Hunger, einen sehr merkwürdigen Richter und überhaupt seltsame Menschen, auf eine Weise verfasst, die man wohl „eindringlich“ nennen könnte, wo sich die Macht der Natur mit der Ohnmacht der menschlichen Seele ebenso grandios wie unheilvoll vereint. Und natürlich prächtig erzählt. Aber halt…
Denn genau diese Erzählsituation ist es, die aus „Schwarze Vögel“ einen Krimi der ganz besonderen Art macht. Wir hören die Geschichte aus der Feder des jungen Kaplans Eiúlfur Kolbeinsson, zu dessen Sprengel die unglückseligen Familien gehören. Es beginnt rückblickend, fünfzehn Jahre nach den Ereignissen, soeben ist Eiúlfurs ältester Sohn bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen. Die Geschichte selbst spielt zur Zeit von Eiúlfurs Verheiratung, und spätestens hier beginnen wir dem jungen, sehr ehrenwerten Kaplan zu misstrauen. Denn ganz offensichtlich liebt die Braut nicht ihn, sondern seinen jüngeren Bruder, doch Eiúlfur dreht die Geschichte so, dass sie uns glauben machen soll, es sei anders und Eiúlfur die erste Wahl seiner Braut.
Spätestens zu Beginn des Prozesses wissen wir, dass der Chronist Eiúlfur ein unsicherer Kantonist sein muss. Mit einer kleinen Intrige schafft er es, als Protokollant des Prozesses fungieren zu dürfen (diese Intrige wird in einem einzigen kurzen, wie beiläufig erwähnten Satz abgehandelt, man muss also genau lesen). Der Kaplan, so viel steht fest, ist kein Garant für „die Wahrheit“.
„Die Wahrheit! War der Drang zur Wahrheit nicht einer der unzähligen blutdürstigen Werwölfe des Geistes? Vielleicht sogar einer der gerissensten von allen. Die Wahrheit! War sie etwa nicht einer der schwarzen, heiseren und gierigen Geier des Daseins? Und war ihr Gesetz nicht auch das des Lebens sonst: sich vermehren und verschlingen.“
So spricht einer, der die Wahrheit nach seinem Gusto erzählt, sie beugt und verformt, erfindet und unterdrückt. Doch warum tut er das? Das Besondere an „Schwarze Vögel“ besteht darin, dass wir genau dies nicht erfahren. Steht der Kaplan auf der Seite der Angeklagten – oder legt er sie letztlich herein? Für beide Lesarten gibt es Indizien, doch von DER Wahrheit bleibt der Roman weit entfernt. Es ist halt so und legt sich wie eine Folie über alles, was wir im Text über die Suche nach „Wahrheit“ lesen. Das reicht von den nüchternen Fakten der Gerichtsverhandlung bis ins Allgemein-Philosophische, zwingt uns selbst auf die Suche nach „Wahrheit“ und zur Erkenntnis, dass sie eben immer ein Konstrukt bleibt, ein Konstrukt, dass sich vermehrt und gegenseitig ad absurdum führt, „verschlingt“. So entstehen im Grunde viele Geschichten und Gerüchte, wird das Lesen selbst ein Teil der Handlung, denn beiden gemein ist die Natur des Konstrukts und die Frage nach dem Motiv, dem dieses Konstrukt sein Dasein verdankt. Dabei ist der Erzähler beides – ein begnadeter Erfinder des Wahren und ein verdammt schlechter Lügner, so dass Faktizität und Manipulation stets untrennbar miteinander verbunden bleiben.
Ein Krimi? Keiner der Sorte, in der auf viele Fragen viele Antworten zu erwarten wären. Wer nun an Kriminalliteratur aber gerade schätzt, dass sie zu einer Antwort möglichst viele Fragen stellt, der ist bei Gunnarsson genau richtig. Ein eigenständiges, ebenso modernes wie zeitloses Stück Spannungsliteratur.
P.S. Ein Dank auch an den Herausgeber und Übersetzer Karl-Ludwig Wetzig für die gelungene Arbeit. Das Nachwort, das u.a. Gunnarssons Verhältnis zu den Nazis relativiert (womit wir schon wieder bei „Wahrheiten“ wären…), ist jedenfalls vorbildlich, die Übersetzung in all ihren Tonarten ein Genuss.
Gunnar Gunnarsson: Schwarze Vögel.
Reclam 2009
(Svartfugl, 1929. Herausgegeben und übersetzt von Karl-Ludwig Wetzig).
302 Seiten. 22,90 €