Vom Stehlen

Reden wir nicht über den neuesten Literaturwundermädi-Hype, nicht über Copyright und feuilletonistische Verblasenheit. Auch nicht über Jens Lindner und den Piper-Verlag, über →Zerknirschtheit und Blamage. So tickt diese Wahnsinnsszene nun einmal, so tickte sie schon immer. Nein, reden wir über den alltäglichen Diebstahl, ohne den Literatur undenkbar wäre.

Denn geklaut wird pausenlos, man nennt es lernen. Wenn ich mir den Satz des Pythagoras aneigne und später daraus den Satz des dpr entwickle (keine Sorge, wird nicht vorkommen), stehe ich auf den Schultern eines Riesen. Dagegen wird niemand etwas einwenden können. Auch in der Kriminalliteratur heben wir unsere Köpfchen nur deshalb aus dem Morast, weil wir andere tief in den selben drücken. Natürlich tun wir nicht das, was Herr Lindner „sich inspirieren lassen“ nennt. Und wir lassen uns auch nicht wie er davon beruhigen, dass Brecht, Mann und, man staune, Goethe es ja auch taten, das Klauen. Nein, dazu verstehen wir leider nicht wenig genug von Literatur. Uns ist eh klar, dass die meisten Sätze schon jemand vor uns geschrieben hat. „Als ich ins Freie trat, begann es zu regnen“ dürfte man mir, sollte ich je so formulieren, kaum als Plagiat vorwerfen können.

Der Diebstahl, von dem wir hier sprechen, hat auch nichts mit Wörtern, Worten und Sätzen zu tun, denn Kriminalliteratur besteht auch aus Plots, Personen und Dramaturgie, einem gewissen Erzählduktus und gelegentlich sogar – man munkelt es jedenfalls – aus dem Versuch, die Einzelteile zu einem Ganzen zu fügen. Und betrachtet man sich das, stösst man allenthalben auf Diebstahl, zumeist begangen aus purer Gedanken- und Sorglosigkeit, aus einem kindlichen Glauben an „Genreregeln“ und Marktgängigkeit heraus, wofür ALLE verantwortlich sind: der drittklassige Autor, der zu Profitmaximierung verdammte Verlag, einige eher brunzdumme Kritiker und selbstverständlich auch das genügsame zahlende Publikum.

Von den zehn, fünfzehn Büchern, in die ich 2010 bisher reingelesen habe, waren wenigstens acht Plagiate. Was wurde da alles geklaut! Protagonisten mit mehr Dämonen in der Seele als Hämorrhoiden am Hintern, Spannungsbögen, von denen man bereits, wenn sie anfangen sich über die Handlung zu spannen, weiss, in welcher Sierra der Gemeinplätze sie am Ende landen werden. Eine Sprache, die schon abgedroschen war, als der erste Neanderthaler die Schnauze aufmachte, „Gesellschaftskritik“ von einer Borniertheit, dass selbst Herr Westerwelle für eine Sekunde an seinen gesunden Menschenverstand appellieren würde… und so weiter.

Nun ist das nichts Neues, und neu ist auch nicht, dass gerade sogenannte „Genreliteratur“ unter diesem ständigen Sich-Beklauen leidet und kein Bundeskrimiverfassungsgericht dieses permanente Mißachten der Lesermenschenwürde geißelt. Dabei gibt es doch genügend Gesetze, die das Genre maßregeln, aber sie drohen nicht etwa mit Strafe bei Diebstahl, sondern sanktionieren diesen noch, verlangen nach ihm. Da aber dort, wo kein Kläger ist auch keine Klage sein kann, fühlt sich die übliche Nahrungskette Autor – Verlag – Kritiker – Lesepublikum nur dann düpiert, wenn’s einer wie der Herr Lindner zu arg treibt und leider dabei auffällt. Ansonsten giert man nach dem 1000. Schwedenkrimi aus fremden Versatzstücken, dem 2000. Pulp, bei dem selbst die Covergestaltung geklaut ist, dem 3000. Regionalkrimi, bei dem man Berchtesgaden nur durch Sylt und die Berge durch das Meer ersetzen muss, dem 100.000 Rätselkrimi, für den man Conan Doyle und Agatha Christie Tantiemen als Schmerzensgeld bezahlen müsste, dem millionsten bauchnabelbetrachtenden Grübelprotagonisten…

Na ja, was rede ich hier eigentlich. Erstaunlicherweise entwickelt sich selbst die Kriminalliteratur weiter, aus all dem geistigen Leerlauf heraus, von intelligenten Dieben inszeniert, von intelligenten Lesern erkannt, von intelligenten Kritikern desgleichen. Es gibt also weiterhin Hoffnung, und das beste Mittel gegen diese Form des Diebstahls ist noch immer, ihn einfach zu ignorieren und die Diebe allesamt auf ihrer bösen Tat sitzen zu lassen.

dpr

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