Merkwürdige Gedanken an einem merkwürdigen Samstag

Lesen bildet und Denken erweitert den Horizont? Das sind, sorry, die verbalen Tricks, mit denen sie uns in die Schulbänke locken. In Wirklichkeit, das wissen die Kindsverderber ganz genau, verhält es sich andersrum. Wer liest und denkt, verliert seine Überzeugungen, seine Definitionen, seinen Halt. Am allerschlimmsten aber ist dran, wer Krimis liest und sich Gedanken darüber macht. Denn was ein Krimi IST, weiß nur, wer nie einen gelesen hat. Worum es in einem Krimi geht, erschließt sich allein in völliger Gedankenlosigkeit.

Ja, es tut mir leid, aber ich weiß inzwischen gar nichts mehr. Nicht den Unterschied zwischen Krimi und Thriller, nicht was ein Noir sein könnte oder ein „Psychokrimi“, nicht einmal, was man unter einem Verbrechen versteht. Am besten wäre es, mit dem Lesen endlich aufzuhören und mit dem Denken gleich mit, damit die zertretenen Pflänzchen der zementierten Meinungen und Begriffe wieder ungestört wachsen können. Vielleicht fiele mir dann auch ein, warum Sophokles möglicherweise den ersten Krimi geschrieben hat oder doch Shakespeare, ganz zu schweigen von Schiller und reden wir überhaupt nicht von ETA Hoffmann.

Das kann peinlich werden. Ist der Krimi nicht DER Gesellschaftsroman schlechthin, fragt mich neulich eine interessierte Leserin, und ich sagte in meiner ersten Verwirrung JA und in meiner zweiten NEIN und hätte ich eine dritte gehabt, sie wäre zu einem Geständnis geronnen, dem nämlich, dass ich gar nicht wisse, was die Gesellschaft ist. „Nun“, sagt die Dame jedenfalls, „ich meine, gesellschaftlich im Sinne von diesen Schweden, du weißt schon.“ Diesen Schweden? Ach ja. Da stehen sie in den Krimis morgens auf, fallen über ihre Hausschlappen und die Sozialdemokratie ist dran schuld. Nein, erwidert die Dame, so meine sie das nicht (nichts ist mir klarer), sie meine, dass der Krimi gewissermaßen als Spiegelbild der Gesellschaft diene, quasi naturgesetzlich gebrochen durch das Verbrechen (da ist es wieder, das ominöse Wort) und damit in ihrem Herzstück freigelegt. Hm, antworte ich, ja, so könne man das sehen. Ich wisse aber trotzdem nicht, wie dieses Herz poche und ob sie das verstehe. Nein, sage sie, irgendwie nicht.

In Ordnung. Ich meine: So wie wir das Verbrechen als etwas gegen die Gesetze Getanes definieren, so betrachten wir die Gesellschaft als einen großen Moloch, mit einem geheimen Taktgeber im Hintergrund. Aber es könnte eben auch anders sein. Das Verbrechen ist das Gesetz selbst und die Gesellschaft, das bin ICH, und ich schreibe daher nur über mich und voilà, schon hast du deinen Gesellschaftsroman und kein Westerwelle, kein Hartz IV, keine Rentenlüge, keine Leiharbeit muss drin vorkommen und trotzdem weißt du…

Aber hallo, sagte die Frau. So doch nicht. Das wäre dann ein Psychokrimi oder irgend so etwas. Auch nicht schlecht. Am Ende vielleicht gar kein Krimi, sondern einfach nur ein Roman oder ein Tagebuch. Ja, sagte ich, das wäre mir sowieso lieber. Ich mag nämlich eigentlich keine Krimis, habe sie nie gemocht. Ständig erzählt mir jemand, was ein Krimi sei oder verlangt von mir zu hören, wie ich das Ding eigentlich definiere. Dabei ist die Antwort – plötzlich viel es mir ein – doch ganz simpel. Ein Krimi ist eine Mogelpackung, die du nicht aus der Hand legen kannst, bis du im Kleingedruckten gelesen hast, was alles angeblich drin ist. Und dann kommt einer vorbei, sieht dich lesen und flüstert dir ins Ohr: „Hört sich gut an, schmeckt aber nach gar nichts.“ Und du weißt, er hat recht.

Das ist aber blöd, sagt die Dame. Wenn man nicht lesen und nicht denken soll, was soll man dann? Schreiben, antworte ich. Wer schreibt, liest und denkt nicht, das ist schon mal das Gute am Schreiben. Hallo, sagte die Frau, klingt aber scheisse, was du da gerade sagst. Aber ist so, sage ich zurück. Wer einmal einen Krimi geschrieben hat, der verachtet die Leser und die Denker, die Definitionsjunkies und Genrebeschwörer, die Baukästler und Krimiingenieure. Er schreibt und schreibt und schreibt, und am Ende sagen die Leute: ein Krimi. Und dann weiß er auch, diese Leute, die das sagen, das sind die Glücklichen. Sie lesen und lesen doch nicht, sie denken und denken doch nicht, sie wissen und wissen doch nicht, sie fahren nach Frankfurt und landen in der Wüste Gobi und dort halten sie Kuhmilch für Äppelwoi und – stopp, sagt die Frau, jetzt ist aber gut. Genau, sage ich.

dpr

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