Dominique Manotti: Letzte Schicht

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Wir leben in herrlichen Zeiten. Wells’sche Maschinen transportieren uns einer Zukunft entgegen, in der man mit dem Vokabular der Vergangenheit hantieren wird, mit Klassen und Klassenkampf, mit Ausbeutung und sozialkritischer Literatur. Es gab eine Zeit, da hielten wir dies für überwunden wie überhaupt alles Dichotomische, alles Schwarzweiße, das Leben wurde, was gute Kriminalliteratur immer schon war, nämlich differenzierter.

Jetzt ist alles wieder da und prächtiger denn je. Die Gesellschaft zerlegt sich genüsslich selbst in Klassen, die kämpfen munter gegeneinander. Ost gegen West, Arm gegen Reich, Migration gegen Stagnation, Lobbydemokratie gegen Basisdemokratie. Wo aber ist die Literatur, die sich all dem „sozialkritisch“ widmet? In Deutschland jedenfalls nicht, schon gar nicht im weiter halbwegs boomenden Krimisegment. Hier regiert noch weitgehend der sanfte Diktator der vollständigen Sätze und der semantischen Missverständnisse, wo man Untiefen für tiefgründig hält und Realitätsbezug für die abwaschbare Schondecke auf dem vor lauter künstlerischer Biederkeit knirschenden Spannungsbett.

Anders in Frankreich, wo die Krimiszene schon immer eine Idee wacher und mutiger war, wo man die Frage, wie intelligent Kriminalliteratur sein dürfe, mit der Gegenfrage beantwortet, seit wann es dort denn ein Limit gebe. Dominique Manottis „Letzte Schicht“ ist so ein Roman, dessen Intelligenz ihn vor all den Fallen beschützt, in die man gutgläubig treten kann, wenn man einen „sozial- und gesellschaftskritischen“ Krimi schreibt.

Manottis Buch gründet auf einer wirklichen Begebenheit, der Verstaatlichung des französischen Auch-Rüstungskonzerns Thomson. Zwei Kontrahenten – Daewoo-Matra und Alcatel – werben um das lukrative Filetstück, das – einigermaßen überraschend – im Rachen des südkoreanischen Konzerns zu verschwinden droht. Also sucht man auf Seiten von Alcatel nach den Leichen im Keller der anderen. Besonders interessant scheint ein Vorfall im lothringischen Daewoo-Werk. Dort war es nach einem Arbeitsunfall zu einem spontanen Streik der Belegschaft gekommen, dieser dann zu einer Werksbesetzung eskaliert, in deren Verlauf einige brisante Geheimnisse der Geschäftsleitung ans Tageslicht gelangten. Das Ganze endete mit einer Brandstiftung, die das Werk in Schutt und Asche legte. Der Versicherungsdetektiv Charles Montoya, selbst ursprünglich aus der Gegend, wird nach Lothringen geschickt, um möglichst viel belastendes Material gegen Daewoo-Matra zu sammeln und sie als Thomson-Übernehmer zu diskreditieren. Derweil sich die Gegenseite daran macht, alle Zeugen zu beseitigen, die bei der Werksbesetzung zu viel gesehen haben.

Manotti beginnt ihren Roman mit ebendiesen Vorgängen in Lothringen und zeichnet dabei das differenzierte Bild einer arbeitenden Klasse, die weder glorifiziert noch verdammt noch gar verhöhnt wird. Siehe da: Auch die Ausgebeuteten sind Menschen mit Schwächen, sie sind manchmal naiv, manchmal durchtrieben, manchmal schwach, manchmal stark, meistens jedoch von jedem ein wenig. Hier ist kein Platz für Helden.

Auftritt Montoya. Er steht buchstäblich zwischen den Fronten. Ist seinen Herren in der Konzernspitze treu ergeben, jedoch, als Abkömmling der werktätigen Klasse, dieser in Sympathie zugewandt, vor allem der Arbeiterin Rolande. Mit Montoyas Zerrissenheit steht und fällt Manottis Buch. Er macht seinen Job und er macht ihn gut, am Ende hat er das, was er gesucht hat, am Ende aber kann er auch die Leichen zählen, die seinen Weg genreüblich pflastern. Rolande, die naive Musterarbeiterin, hat dazugelernt und, indem sie sich der Mittel der Gegenseite bedient, ihre Schäfchen ins Trockene gebracht. Sie ist aus der unterdrückten Klasse ausgetreten.

Das alles wäre schon stark genug, doch Manotti hat einen weiteren Trumpf im Ärmel: ihre Sprache. Die wechselt unvermittelt aus der distanzierten Erzählperspektive in die direkte der Gedankenskizzen, sie fädelt sich aus Stichwörtern zu komprimierten Beschreibungen und fällt ebenso schnell zurück. Impression und Expression als organische Einheit, von Andrea Stephani vorzüglich übersetzt.

Letztlich ist „Letzte Schicht“ der Roman eines gesellschaftlichen Automatismus, der weder gut noch böse kennt, sondern nur Rollen, die man zu spielen hat, um als Täter oder Opfer die von allerhand Verdummung und Vernebelung wattierte Profitmaschine und damit UNSER Wirtschaftssystem am Laufen zu halten. So gesehen, ist dieses Buch wahrhaftig „noir“, weil die Bestialitäten der Handlung in den Alltag der Wirtschaftsnachrichten münden: Daewoo ist aus dem Rennen, Alcatel wieder drin, alles völlig legal und rechtsstaatlich und zum Wohle der Bürger.

„Letzte Schicht“ wurde 2008 mit dem renommierten Duncan Lawree Dagger ausgezeichnet und hat dabei u.a. Stieg Larsson aus dem Rennen geschlagen. Dies ist besonders erfreulich, steht es doch auch für die Möglichkeit, dass sich Intelligenz und Handlungstiefe wenigstens ab und an gegen das allerorten lärmende Thrillern der hohlen Versatzstücke durchzusetzen vermögen. Vielleicht sind die Zeiten ja wirklich wunderbar, in einigen Augenblicken jedenfalls.

Dominique Manotti: Letzte Schicht. 
Ariadne 2010. 252 Seiten. 12,90 €
(Lorraine Connection 2006. Deutsch von Andrea Stephani)

2 Gedanken zu „Dominique Manotti: Letzte Schicht“

  1. Danke dass Du mich daran erinnert hast; wollte das Buch schon damals kaufen als es heraus kam – ziemlich brisanter Stoff schien mir – und dann doch vergessen es zu tun

  2. Ja, wer hätte gedacht, dass der alte Klassenbegriff noch einmal zu was taugen kann. Nachdem überall nur noch Dienstleister herumhopsten. Zu wünsche wäre, dass die Akteure und ihre Vertreter endlich das Fremdeln ablegen. Und auch Bücher wie Manottis, die die Augen öffnen.

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