Gespräche über den Krimi -1-

Ein Flughafen, Winter, Schneesturm. Flüge fallen aus, es ist Nacht, die Hotels überfüllt, Gestrandete sitzen auf Bänken, sie schlafen, sie essen, sie hören Musik oder sie reden miteinander, Zufallsbekanntschaften.

Zwei Herren mittleren Alters, gebildet, belesen, sind ins Gespräch gekommen. Man plaudert über Literatur. Die Zeit vergeht, der Schneesturm bleibt. Hören wir, was Sie zu sagen haben…

A: Es tut gut, sich einmal in aller Ruhe über Literatur unterhalten zu können. Ein Hoch auf die Schneestürme.
B: Ein gutes Gespräch ist allemal besser als ein schlechter Schlaf auf dem Wartebänkchen hier.
A: Oder eine miserable Lektüre zum Zeitvertreib. Sehen Sie mal die da… neben dem mürrischen Alten.
B: Hm. Der Umschlag kommt mir schrecklich bekannt vor.
A: Krimi.
B: So wie Sie das sagen, klingt es, als säßen Sie gerade vor einem Teller Ihres most hated meal.
A: Hm, der Krimi ist meine literarische Zwiebelsuppe, ja. Wobei „literarisch“…
B: Aha. Sie mögen keine Unterhaltungsliteratur? Zu belanglos? Zu trivial? Zu….
A: … oft schon gelesen, sagen wir’s doch so. Ich habe mich in meiner Jugend durchaus mit dem Genre beschäftigt. Die Klassiker, Sie verstehen.
B: Jaaaa. Glauser, Himes, Charyn, Biermann… darf ich neckischerweise auch Temme hinzurechnen?
A: Äh… wie bitte? Die Namen sagen mir jetzt wenig. Ich dachte eher an Doyle, Christie, Hammett und Chandler. Okay, ich werfe errötend auch Donna Leon in die Runde. 1999 im Krankenhaus von Oldesloe, 2 Wochen bettlägerig wegen kompliziertem Unterschenkelhalsbruch.
B: Dann sei Ihnen die Dame verziehen. Obwohl… man kann über Ihre Bücher reden, was ja für das Genre recht unüblich ist.
A: Ich erkenne mit Freuden, dass Sie meine Abneigung teilen.
B: Sie erkennen falsch. Sorry. Ich liebe Krimis.
A: Ach? Sie? Ein Mensch, der bei Romantik nicht gleich an Parkbänke und bei Expressionismus nicht gleich an röhrende italienische Kaffeemaschinen denkt? Ich bin ein wenig schockiert.
B: Und dabei haben ich selten Unterschenkelhalsbrüche. Ich lese Krimis freiwillig.
A: Ja, ja, verstehe. Abschalten und auf andere Gedanken kommen. Es sei Ihnen verziehen.
B: Hm, eigentlich: nö. Was soll ich denn abschalten beim Lesen?
A: Nun… den Verstand?
B: Dazu braucht man erst einmal einen. Und ein Verstand, den Sie beim Lesen abschalten können, ist eigentlich auch keiner, oder?
A: Hm. Also denken Sie beim Krimilesen? Worüber? Über die ewiggleichen Muster, das blödsinnige Zweckdeutsch, die langweiligen Spielchen? Wie abgestumpft muss ein Intellekt eigentlich sein, wenn ihn die Aussicht auf schwerste Gewaltverbrechen in erwartungsvolle Hochstimmung versetzt? Und die Erwartung der Auflösung ihn so sehr beschäftigt, dass er selbst spekuliert, wer denn nun wen warum ins Jenseits befördert hat? Hat uns der liebe Gott das Gehirn nur gegeben, um über solcherlei Nonsens zu räsonieren?
B: Mag sein. Wir neigen ja bekanntlich dazu, selbst die komplexesten und existentiellsten Themen auf ihre trivialste Ebene herunterzudenken – ersparen Sie mir Beispiele, kein Wort zu Klima und Atom, Bildung und Hartz IV, unterirdische Bahnhöfe und dito Parteiprogramme – kann es dann nicht reizvoll sein, auch einmal den umgekehrten Weg zu gehen? Etwas so Triviales wie einen Kriminalroman zu nutzen, sich dem Komplexen und Existentiellen zu nähern?
A: Hm. Ich bin gerade überfragt. Das heißt: Ich frage mich, warum ich meinen Joyce, meinen Mann, meinen Hemingway drangeben soll, um mich mühselig aus den Untiefen des Genres dorthin zu arbeiten, wo mich die genannten Herrschaften in Ihren Werken doch bereits erwarten.
B: Na ja, mag sein. Aber werden wir dort wirklich erwartet? Wenn ich aus den Jahrzehnten intensiven Lesens eines gelernt habe, dann das: Literatur ist so erlesen wie der Kopf, der sie sich gerade erliest. Joyce ist von Myriaden von Schwachköpfen studiert worden, Nabokov gilt in intellektuell überforderten Kreisen notorisch als „Päderast“, an Arno Schmidt arbeitet sich lebens- und weltfremde akademische High Society ab –
A: Gut, gut, Sie haben ja recht. Doch warum ein kluger Kopf wie der Ihre – Sie könnten mir jetzt übrigens noch einen von diesen grässlichen Automatenkaffees spendieren – wertloses Mordpalaver den wahren Meisterwerken der Sprache vorzieht, wird dadurch auch nicht plausibler.
B: Da genau machen Sie Ihren ersten Fehler. Wertloses Mordpalaver. Woher wissen Sie das? Sie haben Hammett und Chandler gelesen, aber Sie kennen Chester Himes nicht. Sie ergötzen sich, geben Sie’s nur zu, bisweilen an Arthur Conan Doyle, von Friedrich Glauser haben Sie indes noch nie gehört, geschweige gelesen. Summa: Sie urteilen über ein Genre, das Sie nicht kennen oder das Sie auf seinen Bodensatz reduzieren, den ganzen Schmarren in den Bahnhofsbuchhandlungen, das gestelzte Kunstkrimizeug ab und an in den Feuilletons. Das ist in etwa so, als würde ich den Roman per se zu trivialem Quatsch erklären, weil ich Rosamunde Pilcher, Heinz G. Konsalik und, ähm, Thea Dorn gelesen habe. Da kann ich mir den Joyce sparen, ist wahrscheinlich eh der gleiche Quatsch.
A: Jetzt haben Sie es mir aber gegeben. Und mag sein, dass Sie recht haben. Dennoch überzeugt mich das alles nicht. Wie kann ich ein literarisches Genre ernstnehmen, dass in einem so engen Korsett wie der Krimi steckt? Über das seine Liebhaber begeistert sagen, es lese sich weg wie Butter in der Sonne dahinschmilzt? Ist das Literatur? Die bloße Zurkenntnisnahme grober Reize, das permanente Gemümmel bleicher Protagonisten, die stupide Rätselhaftigkeit des Inhalts? Oder rührt auch diese Einschätzung daher, dass ich den Krimi „nicht kenne“? Ist er womöglich „ganz anders“?
B: Wenn Sie bereit wären, sich durch den Berg an wahrlich schrecklichen Ausstößen sogenannter „Krimiproduktion“ zu wählen – ja. Krimi IST anders. Kann es jedenfalls sein. Aber lassen Sie mich Ihnen zuerst den verdienten Kaffee spendieren. Dann können wir weiterreden, wenn Sie möchten.
A: Gerne. Bevor ich die Zeit mit einem Thriller totschlage…

(wird fortgesetzt)

dpr

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