Didier Decoin: Der Tod der Kitty Genovese

decoin.jpg Wir brauchen das. Etwas, auf das wir zeigen, etwas, über das wir uns empören können. Der Tod von Kitty Genovese, 28 Jahre alt und Geschäftsführerin einer Bar, war so ein Ereignis. Ihre Ermordung am 13. März 1964 haben jetzt gleich zwei Autoren rekonstruiert, Ryan David Jahn in „Ein Akt der Gewalt“ sowie Didier Decoin mit „Der Tod der Kitty Genovese“. Ein berühmter, immer wieder für moralisches Sichereifern geeigneter Fall, der den Begriff des „Bystander-Effekts“ prägte, die Passivität zufälliger Tatzeugen angesichts eines vor ihren Augen und Ohren verübten Verbrechens.

In der Nacht des 13. März, kurz nach drei Uhr morgens, wird Kitty Genovese, die gerade von der Arbeit kommt, ein Opfer des Mörders und Vergewaltigers Winston Moseley. Der, im alltäglichen Leben ein treusorgender Familienvater und unauffälliger Angestellter, sticht Kitty auf offener Straße vor ihrem Haus nieder, lässt sich durch die verärgerte Reaktion eines aus dem Schlaf gerissenen Anwohners nur kurz irritieren, folgt der geflüchteten Kitty und ermordet sie im Flur ihres Hauses, bevor er sich an der Leiche vergeht. Die ganze Zeit über gibt es Augen- und Ohrenzeugen, 38 wenigstens, Bewohner eines gegenüberliegenden Appartementhauses vor allem. Sie tun nichts. Greifen nicht ein, rufen nicht die Polizei. Hätten sie es getan, Kitty Genovese wäre wohl noch zu retten gewesen. Der Fall sorgt für Schlagzeilen, nicht nur wegen der plakativen Gefühlskälte des Täters, vor allem die Nicht-Reaktionen der Zeugen empören ein ganzes Land. Zur Rechenschaft, wie von vielen gefordert, wird keiner von ihnen gezogen.

Decoin erzählt die Ereignisse aus der Sicht eines älteren Schriftstellers und begeisterten Anglers, selbst Bewohner des Hauses der stummgebliebenen Zeugen, zur Tatzeit jedoch abwesend und daher „unschuldig“. Eine clevere Strategie, denn über diese Konstellation gelingt es Decoin, den „Bystander-Effekt“ um einen anderen, notwendigen zu ergänzen, nennen wir ihn burschikos den „Moralapostel-Effekt“. 38 Personen haben sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig gemacht. Auch diese Zahl bezweifelt Decoin, sie ist jedoch auch unwichtig. Viel bedeutender wird die Rezeption der Ereignisse, ihre mediale Hyperventilierung und die allerorten aufbrausende Empörung. Dabei gehört es zum Basiswissen der Massenpsychologie, dass der Einzelne, sobald er in der Menge auftritt, ein Teil von ihr ist, die moralischen Maximen seines Handelns quasi einfriert, auf „die Masse“ delegiert, sich auf die Zivilcourage anderer verlässt. Jahn hat das kürzlich in einem →Interview mit der „taz“ auf den Punkt gebracht: „Ich denke, die Gesellschaft ist immer ein Stück weit beschissen. Von Mensch zu Mensch sind wir normalerweise echt gut, auf persönlicher Ebene, nur wenn man die Gesellschaft als Ganzes betrachtet, dann gibt es diese Schreckliche, Böse.“

In der Figur des Erzählers und seiner entrüsteten Ehefrau spiegelt Decoin dieses Moralaposteltum wider bzw. lässt es den Leser ergründen, der bei ein wenig Kenntnis der Historie ahnt, vor welchem Hintergrund sich das grausame Schicksal der Kitty Genovese erfüllt: Vietnam. Ein Land wird vor den Augen der Weltöffentlichkeit zerbombt und niemand gebietet Einhalt, es ist auch hier immer die Individualisierung (das nackte kleine Mädchen, das schreiend der Kamera zu rennt, die von Napalm zerfetzte Haut), die uns reagieren lässt, nicht die große, gesichtslose Dimension.

Die Umsetzung des Falles ist vielschichtig. Decoin verzahnt die unglaubliche Selbstverständlichkeit der Tat selbst, die Quasinormalität, mit der gemordet wird, und ihre journalistische Zuspitzung, das große Leid des Opfers und die vielleicht noch größere Gleichgültigkeit der Augen- und Ohrenzeugen, die wohlfeile Moral derer, denen glückliche Umstände ersparten, selbst zu Tätern zu werden, und die latente Schuld angesichts der anonymen Massenmorde, die „man“ im Namen abstrakter und also nebulöser Werte begeht. Das alles in einer konzentrierten, zwischen nüchterner Beschreibung und protagonistischer Selbstgefälligkeit pendelnden Sprache (von Bettina Bach sorgfältig übertragen), ein kunstvolles Ineinandergreifen von Fakten und Fiktion auch. Ein Psychokrimi? Ja. Ein politischer Krimi? Ja, sehr.

Didier Decoin: Der Tod der Kitty Genovese. Arche 2011 
(Est-ce ainsi que les femmes meurent? 2009. Aus dem Französischen von Bettina Bach).
159 Seiten. 19,90 €

(Eine Besprechung des Buches von Ryan David Jahn ist vorgesehen, sobald mir der Text vorliegt.)

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