Krimikritik 1990 – aus den Tiefen einer Bibliothek gezogen

Alle Jubeljahre fällige und hochmotiviert angegangene Renovierungen von Arbeitszimmern mit integrierter Bibliothekswand fördern unweigerlich interessante altertümliche Funde zutage. Na sieh mal an, „Der Mord an Suzy Pommier“ von Emmanuel Bove! Könnte man doch mal wieder nachlesen, was die literarische Moderne so alles mit dem Krimi angestellt hat. Und das hier? „Von Büchern und Menschen“, 1990 in der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen, wie das Preisschild verrät für 2 Märker irgendwann einmal aus der Krabbelkiste gefischt. Was Krimirelevantes? „Über die Rauchgewohnheiten Sherlock Holmes’“. Ok, kann, aber muss jetzt nicht sein. Moment – und was ist DAS hier?

Listen! „Die zehn vortrefflichsten Kriminalromane“ – „Die zehn peinlichsten Kriminalromane“. Zusammengestellt von Peter M. Hetzel und Edward G. Robinson, au weia, Pseudonyme auch noch, letzterer offensichtlich und ersterer wohl auch, steht nämlich nicht im Mitarbeiterverzeichnis, der Bursche. Ja, denkste, von wegen Pseudonym. „Peter M. Hetzel ist ein deutscher Literaturkritiker, Journalist und Autor“, kichert Wikipedia. „Beim Rowohlt Verlag war er als Lektor von Kriminalromanen tätig.“ So, so. Und dann wird’s tatsächlich witzig: „In seiner beruflichen Funktion wurde er 1987 in eine Sendung des Sat.1-Frühstücksfernsehens eingeladen. Der Sender schlug ihm einen Wechsel in den Fernsehjournalismus vor.“ Muhahahaha, Sat.1-Frühstücksfernsehen! Aber Scherz beiseite, den Burschen gibt’s also, Edward G. Robinson gibt’s bekanntlich auch, als Kritikerkritiker eher nicht, vielleicht verbirgt sich ja Harry Rowohlt dahinter, der findet sich nämlich auf der Mitarbeiterliste.

Doch beginnen wir mit Hetzel. Was sind seine „zehn vortrefflichsten Kriminalromane“ – des Jahres 1989, wie sich rasch zeigt? Doch, eine Liste mit unverächtlichen Namen: Charles Willeford, Cornell Woolrich, Joseph Wambaugh, Jerome Charyn, kennt man alle noch, Marcel Montecino, Mempo Giardinello, Peter Rabe, eher Spezialistentum erforderlich, der ein wenig schwer überschätzte Robert „hartgekocht“ Crais und der in diesen Jahren scheinbar omnipräsente T.C. Boyle mit „Grün ist die Hoffnung“. Moment, ist der Roman nicht schon von 1984? Hm, ja. Das Ding mit der Marihuanafarm, ne? Krimi? Peter J. Kraus hat 2010 einen Krimi draus gemacht, aber das ist hier nebensächlich. Fazit: Ok, die Liste lassen wir durchrauschen, es fällt auf: kein einziger deutscher Titel. Das wird aber durch die andere Liste, „die zehn peinlichsten Kriminalromane“, sofort ausgeglichen, finden sich dort doch gleich neun Erzeugnisse aus deutscher Produktion.

Wobei – der erste Titel hat mich ein wenig ratlos gemacht. A.B.S.? Antiblockiersystem? Kaum. Googeln. Aha. „Pseudonym für: Astrid und Bernt Schumacher“, verrät das „Lexikon der deutschen Krimiautoren“ und weiter: „Von der Kritik wurden die Romane des Teams als ein neuer Impuls für das Genre aufgenommen, das zu jener Zeit von weitgehend formelhaften gewordenen „Sozio-Krimi“ geprägt war.“ Jau, hier auf der Liste klingt das leicht anders: „Teutsche Trivialität auf peinlich hohem Niveau“. Kann ich auf die Schnelle nicht beurteilen, lassen wir mal so stehen.

Dann aber kommt’s. Ach du meine Fresse. Platz 2: Pieke Biermann, „Violetta“. Das zitieren wir jetzt aber vollständig: „Wenn es denn überhaupt erscheint: Starke Frauen der postmodernen Courths-Mahler kämpfen gegen fiesen Frauenmörder – da hilft auch keine Lesung in Klagenfurt.“ Da ist einiges für Nachgeborene kryptisch. Der Roman IST erschienen, aber scheinbar erst NACH Redaktionsschluss von „Büchern und Menschen“. Im Dunkel bleibt das im „überhaupt“ mitschwingende Raunen. SOLLTE das Buch etwa gar nicht erscheinen? Wenn aber das Buch nicht bis zum Redaktionsschluss erschienen ist, woher kannte es dann „Edward G. Robinson“? Vorabexemplar? Oder hilft uns der finale Satz „ – da hilft auch keine Lesung in Klagenfurt“ weiter? Ja, möglicherweise, denn Ende Juni 1990 las Pieke Biermann ein Stück aus „Violetta“ beim Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb vor und gewann den „3Sat-Preis“ (dass ich gerade an das SAT1.-Frühstücksfernsehen denke, ist schiere pseudoetymologische Hirnbelustigung und braucht die Leserschaft nicht weiter zu interessieren). Könnte also sein, dass hier ein Buch nach einem gehörten Ausschnitt daraus beurteilt wurde? Das nun würde die Liste erschreckend aktuell, ja, nachgeradezu zeitlos machen, denn so etwas soll in Kritikerkreisen ja des öfteren vorkommen.

Auch sonst ist der Bildungswert des kleinen Verrisses enorm. Wir lernen: Pieke Biermann war einmal die postmoderne Courths-Mahler – aber nein, wir haben es eben NICHT gelernt, wir wissen heute: Es war genau andersrum. Pieke Biermann hat den deutschen Kriminalroman entcourthsmahlerisiert, jedenfalls vorübergehend. Starke Frauen – fieser Frauenmörder? Mein Gott, was hat Pieke damals in Klagenfurt nur vorgelesen? Den Roman hat man ganz anders in Erinnerung, aber was solls.

Das Ganze entpuppt sich irgendwann als komödiantische Veranstaltung, spätestens als „Edward G. Robinson“ auch den „Literarischen Krimi-Kalender“ aus dem Nautilus-Verlag zur Strecke bringt, ein Werklein, das von – Peter M. Hetzel herausgegeben wurde. Eines aber ist noch interessant: 1989/90 – gab es da schon den deutschen Regiokrimi? Sie wissen schon: Die Krimi gewordene Erkenntnis, dass Romane irgendwo spielen müssen. „Hamburger Regionalmuff“ wird „Kalte Sonne“ von Lars Becker bescheinigt und Georg K. Kristan muss sich des „provinziellen Biedersinn(s)“ zeihen lassen. Also gab es den Regiokrimi damals doch schon – und wir notieren die beiden Verdikte in unsere Kladde „Verdikte, die man beinahe blind auf Regiokrimis anwenden kann“.

Zum Abschluss noch der Hinweis, dass auch Jörg Fauser, „der Rolf Dieter Brinkmann des Krimigenre“ sein Fett weg bekommt. Ja, ja, ist schon witzig das alles. Und vielleicht nur ein großer Witz und ganz anders gemeint? Besaß die deutsche Krimikritik vor über 20 Jahren möglicherweise tatsächlich so etwas wie WITZ? Und wo ist er hin? Was wurde aus „Edward G. Robinson“? RTL-Frühstücksfernsehen? Der Krimiarchäologe bläst die Staubwolken von seinem kostbaren Fund und rätselt. Was tun mit dem Werklein? Aussortieren, blaue Tonne, aufheben? Resigniertes Seufzen. Als ob ausgerechnet ICH was wegwerfen könnte…

Ein Gedanke zu „Krimikritik 1990 – aus den Tiefen einer Bibliothek gezogen“

  1. Also, auch „Archivarbeit“ kann bisweilen zu einer heiteren Sache werden! „Besaß die deutsche Krimikritik vor über 20 Jahren möglicherweise tatsächlich so etwas wie WITZ? Und wo ist er hin?“ Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass die (Krimi-)Kritik damals weniger „witzlos“ war als heute. Ich lese immer wieder, dass die Deutschen doch gar nicht so humorlos seien, wie immer behauptet wird. Allein mir fehlt der Glaube. Humor ist hierzulande meist eine Art Fieberwallung oder peinlich oder eben Häme (nicht mit anderen, sondern nur über andere lachen). Und daran, wie ernst ich mich hier über mangelnden Witz und Humor hierzulande aufregen kann, lässt sich sehen, wie humorlos wir sind 🙂

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