Vorspiel(en) auf dem Theater
Ein Mann steht auf einer Bühne. Er soll die Leute, die vor dieser Bühne sitzen, unterhalten, nein, Entschuldigung, nicht unterhalten, er soll sie belehren, aufklären, zum Nachdenken bringen, wozu er sie aber, wer weiß schon warum, zum Lachen bringen muss. Er ist kein Comedian, kein Witzeerzähler, kein Hanswurst mit Schellenkappe, er ist politischer Kabarettist und heißt Georg Schramm, man hat ihn schon im Fernsehen erblickt. Die Leute da vorne in der ersten Reihe gefallen ihm nicht. Großkopfete auf Freikarten, die das hier mit einer Muckibude für die Lachmuskulatur verwechseln. Oder eben nicht verwechseln, sondern ehrlich dafür halten.
Rückblende: ein beliebiges Silvester in den sechziger Jahren, kurz vor dem Jahreswechsel. Im Fernsehen läuft wie immer eine Veranstaltung der Lach- & Schießgesellschaft, Dieter Hildebrandt und Co. stehen auf Bühne. Vor ihnen in der ersten Reihe die Politikerprominenz mitsamt Damen und Sektkübeln. Sie lachen – die Herr- und Damschaften -, sie perlen – die Pointen der Kabarettisten vor Witz, die Sektflaschen in den Kübeln, weil sie halt Sektflaschen sind. Herr Strauß bekommt sein Fett weg. Tatsächlich, Lachen macht ihn schlanker, Lachen erleichtert sein Gewissen. Hildebrandt und Kollegen geben sich alle Mühe, aber Herr Strauß steht nicht wutschnaubend auf, schreit nicht „Das ist keine Satire mehr, das ist Diffamie!“ und rennt aus dem Saal, obwohl er das vielleicht möchte, aber das wäre kontraproduktiv, obwohl es dieses Wort in den sechziger Jahren noch gar nicht gab. Synergieeffekte, denkt Herr Strauß (nein, gab es auch noch nicht, das Wort). Indem ich die da oben ungestört reden lasse, zeige ich, wie wichtig mir doch Demokratie ist. Indem ich dies zeige und sogar mitlache, denkt sich der Zuschauer vor dem Fernsehschirm: Guck an, der Strauß ist tolerant. Kann sein, dass sie sogar Mitleid mit mir haben.
Mitleid hat Georg Schramm an diesem Abend nicht. Überhaupt: Mitleid ist nicht so sein Ding, wenn er seiner Arbeit nachgeht, das heißt: Mitleid mit denen, die selbst kein Mitleid haben. Dann ist er wütend. Kennt man von ihm. Unter all dem Dünnpfiff, der sich Kabarett nennt, ist er so ziemlich der einzige, der auch mal zünftig und fest in die Pfanne kotet, so dass man merkt: Der hat genug gefressen um eigentlich kotzen zu müssen, aber er hat es auch verdaut und jetzt scheißt er sie alle zu, die Leistungsträger in den ersten Reihen, das ganze vornehme Schmarotzergesocks. Und also tut er das, →man kann es sich anhören, man hört auch, wie ihm das Extemporieren manchmal die Pointe versaut, man weiß, dass das gut ist, dass hier jede Pointe fehl am Platze wäre. Und man hört, wie sich die in der ersten Reihe zu empören beginnen, „aufhören!“ rufen, wie sich aber welche in den hinteren Reihen freuen, dass sich die in den ersten Reihen empören.
Doch, das ist alles sehr schön. Schramm sagt, was er von denen da vorne hält, er hält ihnen – ein ziemlich dämlicher Ausdruck – „den Spiegel vor“, und natürlich erkennen sie sich wieder, was aber Strafe genug ist. Ein gelungener Auftritt? Ja, ein gelungener Auftritt. Und dennoch: Was hat er bewirkt, wen verändert? Die in der ersten Reihe? Bestimmt nicht. Die in den hinteren Reihen? Auch nicht. Die haben sich nur gefreut, denen wurde nichts Neues erzählt. Uns, die wir das nachträglich hören durften? Wir fragen uns, was denn hätte passieren müssen, um Schramms Auftritt zu etwas anderem zu machen als einer Geste, einer Ermutigung, einer Provokation. Die in den ersten Reihen hätten sich läutern müssen, aufstehen, „ja, ja, ja, ich werde mich fortan ändern!“ ausrufen. Die in den letzten Reihen hätten auf die Straße gehen, demonstrieren müssen, Bankeneingänge blockieren, den Damen da vorne wenigstens Bier in die Dekolletees kippen. Weder das eine noch das andere ist geschehen, das politische Huhn köchelt im eigenen Saft so wie immer, wie schon in den Sechziger Jahren bei der Lach- und Schießgesellschaft, wie später etwa beim Bayrischen „Derblecken“ auf dem Nockherberg, wie bei Auftritten von Georg Schramm, es ist ein Ritual, ein Teufelskreis, eine Sisyphosarbeit, eine Selbstbefriedigung, eine Selbstreinigung, ein Alibi, ein Lendenschurz. Wir ahnen wohl, dass die in der ersten Reihe am liebsten die Meinungsfreiheit ganz abschaffen würden. Sie arbeiten ja feste daran. Wir ahnen auch, dass die in den hinteren Reihen am liebsten auf die Straße gehen, Banken blockieren, aufgebretzelte Damen belästigen würden. Aber sie tun es nicht. Sie tun es in effigie, wie der Lateiner sagt, sie tun es, indem sie ihren Blutdruck steigen lassen, ihren Puls beschleunigen, indem sie sich endlose Alleen mit vielen, vielen Bäumen oder endlose Gassen mit noch mehr Laternenpfählen vorstellen.
Und was hat das alles mit Kriminalliteratur zu tun? Mit dem „politischen Krimi“? Sehr viel, alles. Im besten Fall, dass er, wie vielleicht auch Georgs Schramms Auftritt, irgendwo in den Weiten einen einzelnen Menschen packt und verändert. Im schlechtesten Fall – also dem Normalfall, dass er längst ein Teil der ritualisierten Unterhaltungsindustrie, des Beschwichtigungsbusiness, des Affirmationsjahrmarkts geworden ist, auf dem man sich in bunten Karussells immer um die eigene Achse der Empörung dreht. Und am Ende geht es nur darum, dass man spannend unterhalten wurde, so wie die Besucher einer Georg-Schramm-Veranstaltung doch nur gut ablachen wollen, die in der ersten Reihe, weil sie genau wissen, dass ihnen das ganze Theater eh nichts anhaben kann, die in den hinteren Reihen, weil sie sonst nicht viel zu lachen haben und froh sind, dass es noch Menschen gibt, die das, worüber es nichts zu lachen gibt, lächerlich machen. Und jetzt werden wir ganz seriös und wollen dem auf den Grund gehen. Politischer Krimi – alles für die Katz?