Das also ist ein Pageturner. Mehr Mordwerkzeug als Buch, eine bis weit jenseits der 500-Seiten-Marke planierte Geschichte, ein Zeitaufwand mithin, den man sich sonst nur bei wirklich wichtigen Werken erlaubt. Aber keine Panik. Als Pageturner erfüllt Linwood Barclays „Kein Entkommen“ alle Voraussetzungen des Hochleistungssports Lesen. Eine seltsam flüchtige Story in seltsam flüchtigen Sätzen, von seltsam flüchtigen Augen irgendwann nur noch wie eine monotone Landschaft überflogen.
Liest sich wie Butter, wenn sich Butter lesen ließe, und ist wie diese – man hat gerade seine persönliche Bestleistung im Weglesen eines Krimis gebrochen – am Ende nur noch ein dunkler fettiger Fleck in einem Hinterzimmer der Erinnerung.
David Harwood ist Journalist bei einer Provinzzeitung. Er ist örtlicher Korruption auf der Spur, denn ein privates Gefängnis soll erbaut werden, was nur mit genügend Schmiermittel für die Stadträte zu bewerkstelligen ist. Privat hat Harwood Probleme, seine Frau Jan ist schwer depressiv, ein Ausflug in den Vergnügungspark mit dem gemeinsamen kleinen Sohn soll sie auf andere Gedanken bringen. Doch dort verschwindet erst einmal kurzzeitig das Kind und schließlich die Ehefrau selbst. Spurlos natürlich und die Polizei wird misstrauisch, als sich die Fakten gegen David verdichten. Hat er selbst seine Frau ermordet? Harwood weiß nicht wie ihm geschieht, zumal er herausfindet, dass Jans Vergangenheit eine andere ist als vermutet. Es kommt, wie es kommen muss: Alles verschwört sich gegen den wackeren Helden, das Ganze könnte eine Intrige der Gefängnismafia sein.
Ist es aber nicht. Der Leser erfährt dies relativ früh und spätestens jetzt nimmt alles seinen krimigerechten Lauf, erhöht sich die Lesegeschwindigkeit. Dass Barclay keinen Wert auf sprachliche Feinheiten legt, weiß man seit den ersten Sätzen, dass er in unregelmäßigen Abständen den Fall rekapituliert, ebenfalls. Vor allem aber weiß man, wie das Ganze endet, obwohl man bis zum Ende nicht weiß, was das Ganze eigentlich soll. Aber zum Nachdenken hat der gehetzte Leser eh keine Zeit. Er liest wie im Rausch und fühlt sich wie ein Formel 1 – Pilot, der unablässig seine Runde um sämtliche Versatzstücke des Genres dreht. Nichts bleibt hängen, keine einzige Figur besitzt auch nur entfernt so etwas wie Glaubwürdigkeit oder lädt zur Empathie ein. Statt dessen wird uns ein buntes Menü aus Trivial-Fastfood vorgesetzt, dessen Kombination hinten und vorne verpfuscht ist. Spannung? Kann man vergessen. Dafür ein paar hoch aktuelle Gedanken zur Zeitungskrise in den USA, ein Blick in die – hier wirklich gähnenden – Abgründe diverser Seelen, ein Spürchen Humor im immer sentimentaler gerührten Brei der Emotionen.
Andererseits: Man ahnt, dass so etwas seine Zielgruppe hat. Das Lesen solcher Bücher ist eben kein Hürdenlauf, nichts gilt es zu überwinden, der Sport, der hier ausgeübt wird, heißt Zeittotschlagen. Die Stoppuhr läuft, dann, nach einem wie erwartet hochdramatischen Showdown, wird sie angehalten, die Veranstaltung ist vorbei und man begibt sich zur nächsten. Wahrscheinlich wieder über 500 Seiten, wahrscheinlich noch schneller, wahrscheinlich noch folgenloser. Kein Entkommen? Nein, denn selbst der unsinnigste und billigste Sport (574 Seiten! 9,99 Euro!) kann süchtig machen.
dpr
Linwood Barclay: Kein Entkommen.
Ullstein 2011 (Never Look Away. 2010. Deutsch von Nina Pallandt).
574 Seiten. 9,99 €