Oslo sichten, Oslo sehen

asimov_sonne.jpeg In Isaac Asimovs Science-Fiction-Krimi „Die nackte Sonne“ verschlägt es den Protagonisten zur Aufklärung eines Mordfalles auf den fernen Planeten Solaria. Nur 20.000 Menschen, Nachkommen früher Auswanderer von der Erde, „Spacer“ genannt, leben dort, weitab voneinander auf riesigen Anwesen, von Heerscharen willfähriger Roboter versorgt und von der Angst besessen, einander zu begegnen, sich leibhaftig SEHEN zu müssen. Ihre sozialen Bedürfnisse befriedigen sie durch SICHTEN, dreidimensionale Projektionen, die die Illusion eines direkten Kontaktes garantieren, im Grunde aber nichts anderes sind als Fern-Sehen. Man ist da und doch weit weg. Der Ekel vor der Unmittelbarkeit des Sehens, die schaurige Vorstellung, verbrauchte Atemluft eines anderen menschlichen Wesens in die eigenen Lungen zu saugen, ist nicht angeboren, dieser Ekel wird anerzogen. Einzige Ausnahme: Ehepartner, doch auch hier nur unter Qualen, aus Gründen der Fortpflanzung indes unumgänglich. Andererseits haben Solarier bei aller verqueren Sexualität kein Problem damit, beim Sichten nackt zu sein, wie unser Protagonist gleich zu Beginn seines Aufenthalts peinlichst berührt erfahren muss.

Es fällt mir leicht, diesen Aspekt von Asimovs Roman hier wiederzugeben, denn ich habe ihn gerade zur Vorbereitung meiner August-Kolumne auf der Krimicouch gelesen. In dieser Kolumne geht es um die Zusammenhänge von Krimi und Science Fiction. Die aparteste – manche werden sagen: die steilste – These dieser Kolumne wird die sein, bei den Martin-Beck-Romanen des schwedischen Autorenpaares Sjöwall / Wahlöö handele es sich AUCH um Science Fiction, weil hier die negative Utopie einer Gesellschaft heraufbeschworen werde. Tja. Und dann kam Oslo, kam der Massenmord, kam der Zwang zur journalistischen „Sichtung“, kam aus der Rumpelkammer des Gehirns die scheinbar zwanghafte Assoziation Verbrechen in Norwegen – Schwedenkrimi – wie hängt das zusammen? – kam →Thomas Steinfeld in der „Süddeutschen“ und schrieb u.a. dies:

„Man wird nicht sagen können, Dutzende, wenn nicht Hunderte von skandinavischen Kriminalschriftstellern hätten geahnt, dass eine friedliche, schöne Welt und grenzenloser Schrecken zusammengehören. Aber sie rechneten offenbar damit, in der Fantasie: Die plötzliche Überwältigung der heimatlichen Idylle durch das (womöglich international vernetzte) Verbrechen gehört ebenso zum engsten Repertoire des nordischen Kriminalromans wie die unerhörte Grausamkeit, mit der diese Überwältigung vollzogen wird“

Sein Text heißt „Heimsuchung der Idyllen“ und eine inhaltliche Auseinandersetzung mit ihm ist eigentlich gar nicht möglich, weil die ihn tragende krimispezifische Argumentation so hanebüchen unwissend daherkommt, dass man zum xten Mal an der Hybris des Feuilletons verzweifeln müsste oder sagen wir es etwas positiver: An der Waghalsigkeit, mit der man sich ohne größere Kenntnisse von dem, was man da in die Welt hinausschreit, so seine zeilenfüllenden Gedanken macht. Was es zu Steinfeld zu sagen gibt, hat →Ludger Menke gesagt, also Schwamm drüber. Dennoch wollen wir uns die Schlüsselsätze seines Aufsatzes noch einmal zu Gemüte führen, weil sie eben nicht nur auf Steinfeldschem Mist wachsen. Sie lauten: „So kommt es, oder genauer: so kam es, dass gerade die friedlichsten Gesellschaften die blutigsten Kriminalromane hervorbrachte(n) (…) In der Fantasie werden die der Gemeinschaft schädlichen Elemente erkannt und wirkungslos gemacht. So gesehen, sind diese Bücher immer auch Träume von Erlösung (…).“ Denkt man sich jetzt noch das Schlüsselwort des „Idylls“ dazu, wird aus dem Krimi das, was er für den Nichtkenner nun einmal ist: Eine Zufuhr eskapistisch gewürzter Wortspeisen für von all dieser Idylle gelangweilte Menschen, ein neckisches Exorzieren des bösen Einzelnen aus dem guten Allgemeinen.

Doch dieses „Idyll“, das hier beschworen wird, existiert lediglich in einer oberflächlichen medialen Vermittlung, man erinnere sich nur an das in aller Welt gepriesene Modell des schwedischen „Volksheims“, in dem eine Utopie sozial(demokratisch)er Gerechtigkeit und Fürsorge Realität geworden zu sein schien. Eine SICHTUNG, um es mit Asimov zu sagen, keineswegs ein SEHEN. Dann kamen Sjöwall / Wahlöö und SAHEN genauer hinter diese Projektion. Was sie in zehn Kriminalromanen zu erzählen hatten, demontierte das vorgebliche Idyll, aus fürsorglichen Umarmungen wurden bevormundende und im Wortsinne atemberaubende Strangulierversuche, die alles organisierende, ursprünglich philantropisch motivierte Bürokratiemaschine mutierte zum quasifaschistischen Moloch, das ach so liberale Individuum offenbarte engstirnige, reaktionäre Reflexe – ja, das war Science Fiction, es war die Hochrechnung erkennbarer Anfangssymptome zu künftigen Krankheiten, die sich heutzutage bequem auch in diesem unserem Lande besichtigen lassen, man setze für „Volksheim“ nur „Agenda 2010“ ein, diesen Freifahrschein für die Unterhöhlung von Arbeitnehmerrechten und die Stigmatisierung der Opfer ungezügelter Profitmaximierung, man nehme sich einen dieser „sozial abgefederten“ Namenlosen und vergleiche ihn etwa mit dem Kindesmörder in Sjöwall / Wahlöös „Der Mann auf dem Balkon“, einem Frührentner in all seinem Elend und seiner Einsamkeit – man tue das und wird erkennen, dass hier nicht ein „Idyll“ via Spannungsliteratur gereinigt werden sollte, man nichts „vorausahnte“, sondern einfach Realitäten mitteilte und auch, wie sie sich entwickeln MUSSTEN. Idyll? Keine Spur. Ahnung? Nein, logisches Weiterdenken. Eskapismus, gar pseudoreligiöse Katharsis? Mitnichten.

Die unmittelbar nach dem Massenmord von der norwegischen Autorin →Anne Holt ausgesprochene Empfehlung, Politiker sollten doch Krimis lesen, diese seien schließlich ein Spiegel, mag auf den ersten Blick logisch und vernünftig klingen, ist jedoch auf den dringend notwendigen zweiten rührend naiv („The only way to prevent this from happening in the future is to turn the mirror, look at ourselves and see what the hell happened,“ says Holt“). Denn Spiegel projizieren. Man SICHTET sich, aber man SIEHT sich nicht. Was also würde ein krimilesender Politiker sichten aus sich selbst in einer Welt, für die er mitverantwortlich ist, eine Welt, in der sich plötzlich „Abgründe“ auftun und Mordgestalten ausspucken, die es zu bekämpfen gilt, damit das gesichtete Bild von jener Makellosigkeit bleibt, die allem Künstlichen anhaftet, das die Wirklichkeit nachzuahmen versucht. Wer also – und hier voltieren wir elegant zum „politischen Krimi“ – in einem Krimi ein Bild erwartet, bekommt genau das geliefert: eine Selbstbestätigung. Die Romane von Sjöwall / Wahlöö indes sind alles andere als das. Sie warnen nicht vor Entwicklungen, sie warnen vor den Anfängen. Sie sichten keine „Apokalypse mit Killer“, sie sehen eine Gegenwart als Massaker.

In ihren besten Momenten besitzt (Kriminal-)Literatur die Fähigkeit, sich vor sich selbst zu ekeln, was schon bei Asimov als Hauptargument gegen den unmittelbaren Kontakt mit seinesgleichen galt. Ein Krimi soll keine Bilder projizieren, keine Illusionen errichten, er soll im Gegenteil Bilder zertrümmern, Illusionen zerstören, er soll Ekel erzeugen, nicht vor anderen, sondern vor uns selbst. Er ist in diesem Sinne Science Fiction, die Aussicht nämlich auf das was geschieht, wenn der gutgemeinte Fortschritt unweigerlich aus dem Ruder läuft. Er pendelt aus in die Zukunft – und pendelt sofort wieder zurück in die Gegenwart. Nur dann kommunizieren wir wirklich, nicht mit einem Fremden, aber mit uns selbst – also doch mit einem Fremden.

Ein Gedanke zu „Oslo sichten, Oslo sehen“

  1. „so kam es, dass gerade die friedlichsten Gesellschaften die blutigsten Kriminalromane hervorbrachte(n)“
    Dieses Zitat des SZ-Autors steht ja für viele Kommentare über die ach so idyllische skandinavische Welt, die mich nicht nur wundern, wenn ich von Ansässigen (oder jüngst in Per Olov Enquists Autobiographie) über die repressiven religiösen Bewegungen erfahre, die zumindest bis in die jüngere Vergangenheit einigen Einfluss hatten. Fährt man über endlose Straßen in die abgelegenen Dörfer und teils öden Städte (es gibt nicht nur Oslo und Stockholm), in die so depressiven wie faszinierenden Wälder an einem der häufigen Regentage – mal in Sommern, die nie dunkel, mal in Wintern, die nie hell werden – taucht die Frage auf, wie das alles auszuhalten ist. Einen Krimi lesen brauche ich dafür nicht. Religion, Sozialideologien und Alkohol waren einige der durchaus gewaltsamen Auswege.

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