Liebe Leserinnen, liebe Leser: Der Krimi boomt. Jetzt fällt Ihnen die Kinnlade auf die Brust, schon klar. Der Krimi? Ausgerechnet der Krimi? Ja, denn immer mehr Menschen müssen sich in Scheinwelten flüchten, weil die wirkliche Welt – die Eurokrise, die Libyenkrise, die Bayern-München-Krise – einfach nicht mehr auszuhalten ist. Aber warum der Krimi? Warum nicht der Arztroman?
Krimis gab es schon immer, im Gegensatz zu Arztromanen. Bereits der Grieche Sophokles schrieb mit „Antigone“ (eine Frau verstößt gegen die städtische Friedhofsordnung) einen Psychothriller aus dem Adligenmilieu, während sein Mitgrieche Äskulap zwar die Rolle des Arztes in der Neuzeit definierte, es jedoch versäumte, den dazugehörigen knackigen Roman zu verfassen. Dumm gelaufen. Oder nehmen Sie Shakespeare. Nichts als Mord und Totschlag! Goethe, wer sonst, erfand dann den Ermittlerkrimi, in seinem „Faust“ ist es der Titelheld selbst, der sich des gemeinen Giftmordes und der Unzucht mit Minderjährigen überführt. Oder Kleist, Dorfrichter Adam im „Zerbrochenen Krug“. Ok, nur Sachbeschädigung und sexuelle Belästigung, aber der Ermittler ist auch der Täter, die Sache geht gut aus, das ist Krimi wie er sein sollte, die Aufhebung von Gut und Böse (Dichotomie!) und eine Brise Sex und Humor.
Diese ersten Krimis waren noch stark dialoglastig, so dass man sie, in Ermangelung von Hörbüchern, sogar im Theater spielen konnte. Hingegen der Arztroman: fast Fehlanzeige. Büchners „Woyzeck“ ist der zarte und gescheiterte Versuch eines Genremixes, denn der Titelheld – hat seine Freundin umgebracht – soll von Ärzten vermittels Hülsenfrüchten kuriert werden. Problem: Das Ding ließ sich später nicht verfilmen, weil die knackige Krankenschwester fehlt und witzig ist es auch nicht.
Dann schlief der Krimi eine ganze Weile und wurde von Bert Brecht wiedererweckt. In der „Dreigroschenoper“ thematisiert der Dichter das organisierte Verbrechen, in „Der kaukasische Kreidekreis“ geht es um ein Kind, das schlimmstenfalls gevierteilt wird. Ein visionärer Vorgriff auf die Päderasten- und Sadothriller der Gegenwart. Arztroman? Nichts zu sehen. Zwar war Alfred Döblin Arzt, doch auch er bevorzugt Thriller („Berlin Alexanderplatz“). Wie auch sein großer Nebenbuhler Thomas Mann („Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“, immerhin mit einer köstlichen Arztszene vor der Musterungskommission).
Den nächste wichtige Schritt hin zum Erfolg des Krimigenres machte Friedrich Dürrenmatt, wie wir alle gelernt haben. Er erfand den literarischen Krimi, ein paar Jahre nach Friedrich Glauser, der den Regionalkrimi erfunden hat, der schließlich von Henning Mankell verfeinert wurde, der auch den literarischen Krimi so aufpeppte, dass er schließlich im SPIEGEL erwähnt wurde. Die Konkurrenz aus dem Arztroman-Genre schlief nicht, agierte indes zu zaghaft. Alexander Solschenizyns „Krebsstation“ war der erste literarische und regionale (Sibirien) Arztroman, allerdings wieder ohne Krankenschwester. Heinrich Bölls „Dr. Murkes gesammeltes Schweigen“ düpierte die Leserschaft (Frauen) damit, dass der Titelheld überhaupt kein richtiger Arzt ist, sondern für den Hörfunk arbeitet.
Den endgültigen Durchbruch zum Boomgenre schaffte der Krimi – Sie werden es kaum glauben, ich tue es selbst nicht – mit dem Subgenre Arztkrimi. Zur Jahrtausendwende war jeder zweite Protagonist Gerichtsmediziner, es gab schöne Krankenschwestern und viel Humor, wenn eine Schädeldecke aufgesägt wurde. Seither hat der Arztroman keine Chance mehr gegen den Kriminalroman. Aber wem sag ich das. Sie lesen ja auch lieber einen Krimiblog als einen Arztromanblog.
Dagmar Puschig-Reichelt
(die Autorin hat Germanistik studiert und hospitiert momentan beim „Itzehoer Volksboten“, Abteilung „Bunte Welt“. In ihrer knapp bemessenen Freizeit rezensiert sie für „Focus im Spiegel der Welt online“ und schreibt ihre Doktorarbeit zum Thema „Das Elchmotiv im Frühwerk Henning Wallanders und sein Einfluss auf den Regionalkrimi“.)
Sehr geehrte Dagmar, hätten Sie nicht auch H. Esser, Thrillerkönig des 20. Jh., erwähnen sollen? Hat er doch maßgeblich dazu beigetragen, das Spannungselement der Diagnose breitenwirksam zu machen und den üblen Machenschaften von Doktor Bild und anderen ein bisschen öffentliche Liebe zu entziehen, indem er auf Risiken und Nebenwirkungen institutionell unterstützter Massenverschaukelung hinwies. Insofern hätte es der Arztroman ohne ihn durchaus noch schaffen können, oder ist diese These zu gewagt?