Goethe hat Geburtstag und äußert sich zum Krimi

„Das größte Übel“, sagte der Titan und ließ seinen Kopf dabei pendeln, wie er es stets tat, wenn ihm das Leben gerade trostlos erschien, „sind ja nicht die schlechten Bücher. Es sind die schlechten Leser.“ Wir, die wir in den Genuss einer Audienz gekommen waren, nickten die bittere Erkenntnis ab. Nicht dass er uns da etwas Neues erzählte. Es aus seinem Munde zu vernehmen, war indes tröstlich, obwohl es doch unsere Vermutung zu einem Naturgesetz machte, zu einem Zustand jenseits des Feldes, auf dem wir selbst oder andere (was den Titan mit einbezog) hätten heilend wirken können. „Nehmen Sie nur einmal diesen —“ Er zögerte, suchte scheinbar den Namen in seinem Gedächtnis; wir wussten aber, es war eine seiner skurillen Eigenheiten, nichts sonst, er kannte den Namen ganz genau.“— diesen Hoffmann aus Berlin, diesen Kammergerichtsrat. Soeben hat man mir eine neue Arbeit von ihm gebracht, darin ein hübsches Kriminal um ein Fräulein von Scuderi.“

Herr von Wolzogen zückte Notizbuch und Bleistift, was uns in seinem Eifer peinlich dünkte. Konnte man sich doch auch so merken, die beiden Namen. Herrn Hoffmann kannten wir sehr wohl, einen Romantiker, aber die romantischen Zeiten waren vorbei, Napoleon dämmerte auf einen fernen Insel, Europa restaurierte sich prächtig zurück in die alte Zeit und am Horizont erschien eine geheimnisvolle Dame namens Wirklichkeit und begehrte Einlass in die Literatur. Was wir jedoch im Beisein des Titanen lieber nicht erwähnten, er goutierte solche Flintenweiber nicht sonderlich.

Noch immer pendelte der Kopf des Titanen, aus dem heraus nun aber kein weiterführender Gedanke zu den schlechten Lesern entkommen wollte. Was hatte der Meister geruht uns damit zu sagen? Wir warteten es geduldig ab. Nur der ungeduldige Wolzogen murmelte, den Blick in sein Notizbuch gestochen, die Namen Hoffmann und Scuderi, als wollte er IHN daran erinnern, was sein Thema gewesen sei.

„Das Kriminal“, begann er endlich, nachdem eine gehörige Spanne Zeit für unsere eigenen Gedanken verstrichen war, „das Kriminal oder wie ich es nenne die Verbrechensgeschichte wird dereinst die Welt des Geschriebenen beherrschen. Dies ist gewiss.“ Wir wollten ihm empört entgegnen, in der Welt des Wahrhaftigen werde dem niemals so sein, die Verbrechensgeschichte, wie man sie seit seinem Schwager kenne, diesem unmöglichen Vulpius und seinem „Rinaldo Rinaldini“, es gehörte überhaupt zu den größeren Mysterien im Leben des Titanen, dass er eine Frau wie diese Christiane… doch wir vertrieben diesen unerquicklichen Gedanken, empörten uns auch nicht, denn ein kurzer Blick des Meisters gab uns zu verstehen, da sei nichts, worüber zu empören sich verlohnte.

„Denn sehen Sie“, sagte er nun, „die wahrhaftige Sintflut von schlechten Büchern, welche zunehmen wird, was wir kaum glauben können, weil wir eher glauben, dies sei nicht mehr möglich, diese Sintflut also von reißerischen Kriminalfällen wird nur jene mit sich reißen, die auch im stillen Bächlein der guten Bücher schon am Ertrinken sind. Hier ist es ihnen zu besinnlich, dort aber zu tosend, hier reißt sie die Notwendigkeit des Selberdenkens nicht vom Stuhl, dort hebt sie der Zwang zum Nichtdenken von jedem Boden, den sie ihren Allerwertesten titulieren, der aber, anatomisch betrachtet, ihrem Kopfe auf die nur erschütterndste Weise ähnlich sieht, außen wie innen.“

Wir brauchten einige Zeit, den Sinn dieser Worte zu begreifen. Dumme Leser, so reimten wir es uns endlich zusammen, bleiben dumme Leser, ganz gleich was sie lesen. Sie fühlen sich selbst nur anders, nämlich nicht dumm. Lesen sie die guten Bücher, dann deshalb, weil sie sich über sie erhaben dünken, da sie ihre Dummheit nicht füttern. Lesen Sie die schlechten Bücher, dann fühlen sie sich gescheit, denn sie glauben halt, ein gutes Buch sei allein dazu da, die Zeit zu vertreiben und seine Leser mit einem Nichts zurückzulassen, in dem kein Gedanke mehr Platz hat.

Manch einer der Anwesenden entsann sich bei dieser Gelegenheit der leidigen Affaire Kleist, als der Unglückliche seinen „Kohlhaas“ dem Titanen mit intimer Dedikation zugesandt, auf ein Wort des Lobes und Ermunterung zu weiterer prosaischer Tat hoffend. Was aber schlecht von diesem aufgenommen und mit harschem „Bockmist!“ quittiert worden war. „Der Held eines Kriminals“, so hatte der Meister dekretiert, „soll erhaben sein und von höchstem logischen Fertigkeiten, kein Querulant und Hitzkopf. Zudem es mir nicht behagen mag, wenn man den Übeltäter sogleich ausmacht und zum Rätseln nichts mehr bleibt.“ Ähnliches Urteil hatte schon des Titanen Verhältnis zu Schillern getrübt. „Er gehe mir doch fort mit seinem ‚Geisterseher‘! Ich mag kein übernatürliches Kriminal! Und ‚Der Verbrecher aus verlorener Ehre‘ vermag es auch nicht, mich zu packen! So etwas würde ich nicht lesen, wenn ich jeden Morgen auf dem Bahnhofe eine halbe Stunde auf die nächste Beförderung warten müsste!“

Es war lange still im Zimmer. Nur Zelter, der Musikus, summte ganz in Gedanken eine Melodie, wir anderen erwarteten des Meisters Definition des guten Lesers. Sie kam endlich.

„Der gute Leser zieht seinen Honig auch aus den sauersten Sätzen. Ihm ist das Triviale von Mord und Totschlag, welches zu schildern sich auch jener Herr Hoffmann nicht enthalten kann, ein schlechtes Beispiel für den Talmi der gegenwärtigen Literatur, wo es von Geheimen Gesellschaften, irren Mördern und wildesten Planen nur so wimmelt. Was aber ein schlechtes Beispiel ist, wird zum guten, weil man dann die wahre Literatur zu schätzen lernt.“

Auch diesem tiefen Gedanken tauchten wir sinnend nach. „Ich denke“, sagte Wolzogen (der, unter uns, niemals denkt, denn dächte er, würde er nichts sagen, er spricht aber pausenlos), „dass dieses Kriminal eine Mode ist wie der furchtbare Realismus und nicht mehr. Wer mag schon von Morden lesen? Ihro Gnaden unsterblicher ‚Faust‘ allerdings…“

Der Titan winkte ärgerlich ab. „Gut gemeint, mein bester Wolzogen, doch ich sage Ihnen, das Kriminal wird uns alle unter sich begraben, es werden die schlechten Leser und die miserablen Kritiker aus ihren Löchern kriechen und sich gute Leser, gute Kritiker dünken. Der gute Leser aber wird durch den Schutt des Kriminals kriechen und die guten Bücher erreichen wie das fleißige Kamel die Wasserstelle in der Wüste. Vielleicht aber auch …“ Der Titan schaute zur Decke hin, was immer bedeutete, dass er von der Zukunft träumte- „Vielleicht wird die Verbrechensliteratur doch eines Tages gute Literatur sein. Monströse Gestalten ziehen mordend überland, geistvolle Detektive auf ihren Spuren, dies alles in reizender deutscher Landschaft – Frankfurt, das Allgäu, die Saarbergwerke – und eine Brise echten Humores dazu. Das Wichtigste aber – Wolzogen, schreiben Sie es auf – ist: Ich will erst auf der letzten Seite erfahren, wer es gewesen ist mit den Morden.“

Ein Diener trat nun ein und tat kund, das Supper sei aufgetragen. Damit war die Audienz beim Titanen abrupt beendet.

(aus: Johann Heinrich von Schmettau: Kuriose Denkmäler vom Frauenplan. 
Weimar 1846 (Meyersche Verlagsbuchhandlung). S. 345 ff;
behutsam an die moderne Rechtschreibung angepasst von dpr)

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