Über das literarische Experiment sagte Hans Magnus Enzensberger einmal sinngemäß, es habe im Labor stattzufinden und nicht in aller Öffentlichkeit. Mit anderen Worten: Was den Lesern vor die Augen kommt, ist das Ergebnis von Experimenten, das Endprodukt einer Versuchsreihe, im besten Fall eine Novität, die ihre Marktnische sucht oder, weg von den Chiffren der Ökonomie, die optimale Verpackung für einen neuen Inhalt. So hält es die Literatur seit jeher, auch die Kriminalliteratur brachte solche neuen Inhalte und suchte ihre Formen, fand sie, stellte sie infrage, ließ sich von allgemeinen literarischen Weiterentwicklungen inspirieren – oder auch nicht.
Den Lesern fiel das zumeist nicht groß auf, aus zwei Gründen: Zum einen finden Veränderungen selten radikal statt, es sind eher kleine Schritte, die man geht. Zum anderen korrespondieren Neuerungen in der Form logischerweise mit den Inhalten, mit dem, was man „Wirklichkeit“ nennt und was man als bekannt voraussetzen kann. Das Neue ersetzt nicht das Alte, sondern ergänzt es. Dennoch wirken neue Bearbeitungsformen zumeist als Provokation, sie erschüttern das Insteingehauene gerade dort, wo sich Literatur als Genre definiert.
Belassen wir es bei dieser kleinen theoretischen Hinführung und kommen zu einigen Beispielen, wie sich die Auffassung von Kriminalliteratur schrittweise verändert, weil sie sich an einer ebenso sich verändernden Wirklichkeit orientiert. Kein „Trend“, aber auch keine Einzelfälle. Das erste Beispiel präsentiert keine Neuerung, es verweist vielmehr auf die Notwendigkeit zu einer solchen. Der vom Krieg traumatisierte Held fehlt in der deutschen Kriminalliteratur völlig, weil es ihn mangels Krieg mit deutscher Beteiligung nicht geben konnte. Im Gegensatz etwa zu den USA, wo er uns in vielfältiger Form begegnet. Lee Childs „Jack Reacher“ zum Beispiel, diese perfekte Kampfmaschine, zehrt vom Nimbus des Kriegers, seine traumatischen Brüche mag er kaschieren, sie lassen sich dennoch decodieren. Als „witterndes, zur Kampfmaschine trainiertes Tier“, eine „Verkörperung des Rationalen“ hat ihn Ekkehard Knörer ausgemacht („Der Held, der krumme Linien gerade macht. Zu Lee Childs ‚Reacher‘-Romanen“ in Krimijahrbuch 2007, S. 185-190, hier: S.190), ohne seine „mythischen Züge“ zu übersehen. Das Trauma des Kriegers zeigt sich hier als Ordnungsprinzip, Reacher ist – noch einmal Knörer – „ein ungebrochener Held, der krumme Linien gerade macht“.
Völlig anders und der „Reacher“-Figur doch verblüffend ähnlich agiert Rex Millers titelgebender „Fettsack“, eine in den Zeiten des Vietnamkrieges zum Tötungsapparat hochgezüchtete monströse Figur, die das Träuma des Krieges als schiere Gewalt und Verkörperung des Irrational-Bösen abbildet. Beide, Reacher wie der „Fettsack“, verarbeiten ihre Deformierungen in vergleichbarer Weise. Der eine auf Seiten der „Guten“, der andere auf der des „Bösen“, zwei Seiten eines Helden.
Den es bis zu den Kampfeinsätzen der Bundeswehr hierzulande nicht geben konnte, jetzt aber schon, etwa in Gregor Webers „Feindberührung“. Nur agiert er dort nicht als „Held“. Allgegenwärtig sind die Traumata des Krieges dennoch, als „posttraumatische Belastungsstörungen“ (PTBS) in die wissenschaftliche Terminologie gepresst und sowohl in der Person des Opfers, des Täters und ihrer Bezugsgruppe Soldat evident. Die Form indes bleibt der biedere Polizei-/Ermittlerroman mit seinen Stereotypen, die Story verheddert sich ebenfalls im Gestrüpp des Altbekannten (Rocker, Rauschgift etc.). Herauskommt eine Art Mogelpackung, die das „das Neue“ verspricht und doch das Alte liefert (eine Rezension folgt).
Doch gerade der Polizeiroman, dieser Inbegriff der Aufarbeitung und Klärung von Sachverhalten, befindet sich momentan im Fluss. In seinen Konstantin-Kirchenberg-Romanen hat Norbert Horst die Objektivität der Polizeiarbeit mit der Subjektivität ihrer Wahrnehmung durch den Polizeiarbeiter verbunden und konterkariert, eine vor allem sprachliche Operation mit gehörigen Auswirkungen auf das Resultat. Immer bleibt ein blinder Fleck, etwas nicht zu Klärendes. „Splitter im Auge“, Horsts aktueller Roman, geht scheinbar hinter diese Position zurück, wirkt in seiner Erzählweise konventionell, ist es aber nicht (→Rezension). Auch hier steht am Ende eine Ungeheuerlichkeit, die sich jedweder Aufklärung entzieht. Ein Krimi ohne Happyend sozusagen, die Straße Wirklichkeit, die in der Kehrwoche bürgerlicher Kriminalliteratur nicht mehr völlig gefegt werden kann.
Diesem Phänomen begegnen wir auch in Monika Geiers „Müllers Morde“ wieder. Es ist wie Horsts „Splitter im Auge“ ein sogenannter Standalone. Geiers Serienheldin, die Kommissarin Bettina Boll, bleibt weitgehend außen vor, hat eine Art Gastauftritt, für die Lösung des Falles ist sie aber nicht entscheidend. Eine „Lösung“ gibt es auch gar nicht. „Müllers Morde“ ist ein verhinderter Polizeiroman, der eigentlich ermittelnde Beamte eine vollständige Niete in seinem Beruf, mit Vorurteilen behaftet, scheuklappig und jedwedem Neudenken abhold, sprich: das typische Politikerprofil. Wieder lässt sich die Wirklichkeit nicht in die bewährte Schablone pressen, sie ist mächtiger als ihre Ordnungsmittel. Eine angemessene Wahl von Geier, die nicht zufällig ein Verbrechen behandelt, das mit den Undurchsichtigkeiten globaler Finanztransaktionen zu tun hat und damit schon durch seine Form politisch wird. (Auch hier folgt die Rezension)
Vollends obsolet wird „Ermittlung“ in Sandro Veronesis „XY“, einem Roman, in der die Staatsgewalt von Anfang an kapituliert und mehr an Vertuschung denn an Aufklärung interessiert ist. In einem abgelegenen italienischen Bergdorf werden zehn (oder elf?) Menschen tot aufgefunden. Sie starben an Krebs oder wurden bestialisch vergewaltigt, geköpft oder verschluckten sich an Brotrinden, eine Frau weist gar Verletzungen auf, wie sie nur der Angriff eines Hais erklärbar macht. Hier sträubt sich also die Wirklichkeit der Indizien und ihrer Bewertung so sehr, dass an die Stelle der Beleuchtung die Verdunkelung tritt. Fortschritt bedeutet Kapitulation, die Gesetze der Kriminalliteratur werden aus den Angeln gehoben.
Horst, Geier, Veronesi: die Auswahl ist willkürlich, weil meiner ebenso willkürlichen und naturgemäß lückenhaften Lektüre geschuldet. Es sei auch gar nicht behauptet, hier vollziehe sich etwas völlig Neues (Namen wie Charyn, Persson, Peace oder Carlo Emilio Gaddas „Die grässliche Bescherung in der Via Merulana“ fallen einem ein, von Hardboiled / Noir gar nicht zu reden), doch eines zeigt sich deutlich: Das seit der Mitte des 19. Jahrhunderts für die Kriminalliteratur bedeutsame Moment der Beherrschung von Welt gerät angesichts der immer weniger zu ignorierenden Nichtbeherrschbarkeit derselben zunehmend ins Wanken. Gute Kriminalliteratur zieht daraus die Konsequenzen, schlechte belässt alles beim Alten. Das wiederum ist nichts Neues, sondern die Regel.
Bei „XY“ ist mir auch der Gadda in den Sinn gekommen und damit auf die List der nochmal neu zu lesenden Bücher gerückt. Dann habe ich heute die willkürliche Lektüre von „The Sisters Brothers“ von Patrick deWitt begonnen, bei dem sich mir sehr stark die Parallelen der Veränderung, der Ausweitung, der Verneinung von so etwas wie „Genre-Grenzen“ im „Western“ und im „Krimi“ (de Witts Roman lässt sich schwerlich kategorisieren) aufgedrängt haben. Spannend, soviel Bewegung.
Schönen Abend
Ludger
Spannend, lieber Ludger, genau, da wackelt es gehörig in Krimiland und es wird interessant sein zu verfolgen, wie das werte Publikum das Ganze annimmt. Gadda muss ich mir auch noch mal zu Gemüte führen.
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