Krimis sind kein Fußball. Auf dem Platz zählen Tore, sie bestätigen oder widerlegen die Kritiker. Zwischen den Buchdeckeln findet ein Spiel statt, dessen Regeln und Sieger oder Verlierer erst durch die Kritiker bestimmt werden. Was das Ganze aber noch komplizierter macht: Während die mediale Inszenierung durch die Meinungshaber und –macher ein Buch in ein Koordinatensystem hinein argumentiert (wobei die Argumente mal mehr, mal weniger stichhaltig daherkommen), hält sich der Markt an Tatsachen, die so schlicht sind wie die beim Fußballspiel. Was sich gut verkauft, ist gut, was sich schlecht verkauft, ist eben schlecht.
Dass sich beide Systeme gelegentlich ergänzen und ein von den Kritikern als gut bewertetes Buch auch ein gut verkäufliches ist, steht ebenso außer Frage wie der Umstand, dass dem eben meistens nicht so ist. Kritik und Publikum finden selten auf einer Ebene zusammen (um das Modewort „Augenhöhe“ zu vermeiden). Und wenn doch, sind Missverständnisse vorprogrammiert.
Das noch immer aufschlussreichste Exempel für diese häufig von Missverständnissen geprägte Interaktion der System bleibt Andrea Maria Schenkels „Tannöd“, ein Buch, das Glanz und Elend des doppelten Marktes Kritik / Käufer wie kein zweites verkörpert. Als das schmale Werk erschien, war es sofort Liebling aller Kritiker und verkaufte sich prächtig. Dann, nachdem auch die obersten Instanzen der Massenrezension auf das Phänomen reagierten (von Elke Heidenreichs TV-Buchempfehlungen bis zum SPIEGEL), brach ein für das Genre ungewöhnlicher Hype los, der auch den „Markt“ erfasste und „Tannöd“ in nie für möglich gehaltene Sphären katapultierte. Ein beeindruckender Erfolg für die Kritik und der definitive Beweis ihrer geradezu pädagogischen Wirkmächtigkeit? Nur zum Teil.
Dazu muss man verfolgen, wie die Nachbeben des spektakulären Ereignisses „Tannöd“ ausfielen. Eine Lektüre all der „Lesermeinungen“, wie sie von Krimicouch bis Amazon leicht zu bewerkstelligen ist, zeigt nämlich, wie gespalten das Urteil der LeserInnen ausfiel. Eine Hälfte lobt, die andere schimpft. Und zwar mit Vorliebe auf die Kritik und ihre Maßstäbe, auf den euphorischen medialen Push und auch auf die latent manipulative Kraft von Preisen und sonstigen Hervorhebungen, derer „Tannöd“ teilhaftig wurde. Hier manifestiert sich, für jeden erkennbar, ein Bruch. In dieser Form vielleicht zum erstenmal, denn zum erstenmal hat das Lesevolk, das sich düpiert wähnt, eine Stimme, hat ein Forum, hat das Internet.
Für die Kriminalliteratur ist das Internet ein Segen. Für ihre Diversität, ihre Lebendigkeit, ihre Zukunft. Noch nie gab es für das Genre mehr Möglichkeiten als jetzt, im digitalen Zeitalter. Die eher überschaubare Anzahl von Verlagen etwa, die sich in Krimi versuchten, die Rowohlts und Diogenes‘, die Bastei-Lübbes und Dumonts, hat sich zu einem für den Laien nicht mehr zu überblickenden Gewimmel ausgeformt, einem Gewimmel vor allem kleiner und kleinster Verlage, für die es wohl auch in Vor-Internetzeiten eine Nachfrage, nicht aber eine effektive öffentliche Plattform gab. Das traditionelle Feuilleton, angestammter Daumenheber und –senker, fiel aus. Es beschränkte sich, wenn überhaupt, auf jene Genreprodukte, die mit dem Stempel „literarisch“ versehen werden konnten, also dem intellektuellen Mainstream genügten, oder behandelte das Phänomen des Trivialen akademisch und fachsprachlich verklausuliert von oben herab, als die obskuren Empörungen einer nur halb alphabetisierten breiten und dumpfen Masse wider den Kanon des „Literarischen“. Dem konnte man, sicher im Wolkenkuckucksheim, beiwohnen wie die Insassen der österreichischen und preußischen Monarchenpaläste der französischen Revolution. Etwas passierte, das was da passierte, störte, war aber weit weg und faszinierend, ein Phänomen, das man wieder an die Kandarre nehmen, totschweigen, unterdrücken konnte. Der Lesepöbel tobt sich aus bis zur Selbstvernichtung, derweil in den Spielsälen der literarischen feinen Welt der geregelte Gesellschaftstanz weitergeht.
Dann jedoch tauchten die ersten Sprecher der neuen Bewegung auf. Sie nutzten, was sonst, das Internet. Ein so gut wie kostenloses, jedermann für Verfügung stehendes Medium, dessen quantitativen Möglichkeiten sämtliche traditionellen Multiplikatoren alt aussehen ließen und zu Zwergen schrumpfte. Aber wer waren die schon. Blogger, Leute ohne Namen, Leute ohne die Weihen des „Betriebs“, verhinderte oder gescheiterte Papierrezensenten, die nun (wie es ein reichlich viertklassiger Krimiautor einmal verächtlich formulierte) „irgend so Netzsachen abließen“. Eintagsfliegen. Dazu ein paar Plattformen (mit der Betonung auf „platt“), die der größten und wichtigsten und bisher sprachlosesten Gruppe eine Stimme gaben: den Lesern.
Diese neue Situation zeigte Folgen. Zunächst für all die Verlage, die es bis dahin entweder nicht gegeben hatte oder die hinter dem mächtigen prächtigen Vorhang der Feuilletons unbeachtet vegetierten. Jetzt gab es ein Feld, das die Nischen sichtbar machte, ausleuchtete. Ob radikaler Pulp, traditionsbewusster Hardboiled, verpönter politischer Krimi mit sozialem, emanzipatorischem Anspruch, ob harmloser Regiokrimi oder wider den Genrestachel löckendes Experiment: HIER, im Internet, unter den Bloggern und in Foren, bei den engagierten Lesern, den Propagandisten, Schnüfflern und Sammlern, kam zusammen, was zusammen gehörte, Kritik und Markt, Angebot und Nachfrage, Öffentlichkeit und Rezeption, Autoren und Verlage, Kritiker und Leser.
Die Blogger der ersten Stunde waren Freaks. Manche Renegaten der Papierwelt oder dort nie Aufgenommene, manche mit, manche ohne literaturwissenschaftlichen Hintergrund, stets jedoch Liebhaber des Genres, Informanten, Sucher, bisweilen Missionare und In-die-Suppe-Spucker. Vor allem für die Nischenverlage wurden sie wichtig als ein Teil der neuen Mechanik, die jenseits nicht vorhandener Buchhandels- und Kritikpräsenz das Überleben sichern konnte. Für die Feuilletonisten, die sich allmählich, nachdem sie gelernt hatten, dass ein Browser für die morgendliche Duschprozedur denkbar ungeeignet war, durch die Blogs lasen, bedeuteten die Blogger eine nette neue Folklore, gelegentlich auch ein Ärgernis. Sie taten nämlich etwas, das den Feuilletonisten weitgehend fremd war: Sie ließen ihre Leser zu Wort kommen. Blogs verfügen über eine Kommentarfunktion, die weitaus mehr ermöglicht als Leserbriefe, die sich aussortieren, kürzen, ignorieren lassen.
Natürlich kam es auch zu den erwarteten Spannungen, wie es halt immer geschieht, wenn eine alte Form der Vermittlung plötzlich Konkurrenz wittert und sich gegen ihren Untergang sträubt. Das Internet nun ließ sich nicht ignorieren, die Feuilletonisten marschierten frohgemut, wenngleich nicht selten tollpatschig in das neue Medium und „bloggten auch“. Oder sahen ihre wertvollen Papierkritiken nun auch im flüchtig Digitalen veröffentlicht, aber, und das war das Besondere, eben NICHT auf einem bevorzugten Platz, sondern rein technisch gesehen auf einer Stufe mit den Bloggern und Foren. Dies wiederum hat etwas mit dem Verhalten der Konsumenten zu tun, die sich der Suchmaschinen bedienen, wo eine ZEIT-Rezension zwar in der Regel VOR einer Blogrezension rangiert, letztere aber durchaus im Fokus der Sucher verbleibt. Mochte sein, dass man zuerst die ZEIT-Rezension anklickte. Dann aber eben auch die Blogrezension.
Übergehen wir an dieser Stelle das nun schon seit Jahren andauernde Spannungsverhältnis zwischen den Feuilletonisten und Bloggern. Es ist recht uninteressant. Weitaus interessanter ist die Entwicklung, die Blogs (und auch Foren) durchmachten. Hielt sich nämlich die Zahl der Krimiblogger in Grenzen, so sind diese Grenzen inzwischen längst überschritten. Und noch interessanter: Aus den Freaks wurden ganz normale Leserinnen und Leser, aus den Rezensionen gelegentlich Inhaltswiedergaben (das auch, na ja), kurz: Aus den Konsumenten, den gewöhnlichen Buchabkäufern, wurden Produzenten, Rezensenten (wobei wir das Phänomen der Amazon-Rezensionen sogar noch außen vor lassen wollen, es wäre ein eigenes Thema). Daran hatten und haben die einstigen und immer noch Konkurrenten, die Feuilletonisten und die Urblogger, zu knabbern. Nicht so der Markt selbst, schon gar nicht die Verlage, denen diese Entwicklung zupass kommt. Längst werden etwa auch „Hobbyrezensenten“ zuverlässig mit Leseexemplaren beliefert, findet sich das Urteil von Frau X. oder Herrn Y. blurbend auf den Buchcovern und in den Verlagsvorschauen, lassen sich selbst namhafte Autorinnen und Autoren geduldig ausfragen, beteiligen sich an „Leserunden“ und pflegen via Facebook und anderen sozialen Netzwerken den Kontakt zu ihren aktiven wie passiven Lesern.
Die haben die Macht. Eines nämlich ist sehr deutlich geworden: Der Anspruch der Netzkritik auf die Wirkmächtigkeit des Feuilletons, die Hoffnung, man fege das Papier hinweg und ersetze es durch Bits und Bytes, hat sich SO nicht erfüllt. Es gibt keine digitalen „Krimipäpste“, keine Kritiker als Erfolgsgaranten, keine „Listen“; die Bestseller machen, keine Kampagnen, die Autorenexistenzen begründen oder vernichten könnten. Die Kritik, ob papieren oder digital, ist ein kleines, wenn auch notwendiges Rädchen, das sich selber dreht und froh sein kann, wenn es seinen Platz im großen Rad findet, dem Rad, das die Leser selbst drehen. Sei es als Blogger, als Forumsbetreiber oder –teilnehmer, als stille Teilhaber in den sozialen Netzwerken, dort, wo sich „Freundeskreise“ bilden und manche Empfehlung, von der Öffentlichkeit unbeachtet, über Mails ausgetauscht werden. Dort sitzt die Macht. Nicht auf den Thronen einer Kritik, die glaubt, sie mache die Regeln.