Schule der Rezensenten -10-

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Der Leser längerer Krimirezensionen. Nicht ausgestorben wie der Tasmanische Tiger, aber vielleicht so selten wie der Sibirische. Behutsame Nachzucht dieser aussterbenden Spezies ist also geboten.
Das Internet, denkt man, könnte ein solcher idealer Ort zu Hege und Pflege sein, zumal er, wenigstens in den Sphären, in denen wir uns bewegen, „contentmäßig“ kosten- und gebührenfrei ist, wo man nicht zur Auflage hinschielt wie nach einer schönen Frau, wenn die eigene neben einem steht. Bliebe die Frage: Wünscht der Leser überhaupt längere Rezensionen?

Und, was wäre eine solche? Die Buchkritiken in diesem Blog sind meist nicht länger als eine Din A 4 – Seite und liegen, verglichen mit anderen, damit durchaus innerhalb der „Norm“. Sie werden, soweit ich das abschätzen kann, von Menschen gelesen, deren Fassungsvermögen über sieben Zeilen hinausgeht, was wiederum nicht normal ist. Man liest, sich zu informieren und das Pro oder Contra wenigstens im Ansatz abgewägt zu sehen. Dazu reicht eine Seite in der Regel aus.

Aber man vergegenwärtige sich, dass da 3, 4, 500 Seiten Text analytisch auf eine gedampft werden müssen, was unweigerlich zum Gebrauch von Stereotypen und sonstigen Versatzstücken von Seiten des Kritikers führen muss. Am Ende der Lektüre nenne ich einen Roman „sprachlich gelungen“ und wüsste das auch mit reichlich Beispielen zu begründen – nur, wer möchte das in aller Ausführlichkeit lesen? Zwischen dem Kritiker und seinem Leser muss sich also eine Art stillschweigende Übereinstimmung entwickeln. Erfahrungswerte sagen dem Leser, dass er meinem „sprachlich gelungen“ trauen darf, weil er ihm bisher immer oder doch meistens trauen konnte.

Indes: Die Diskussion um „Gefälligkeitsrezensionen“ hat angedeutet, dass die erzwungene Verwendung von Signalwörtern und -formulierungen auch niedere Motive des Rezensenten kaschieren kann. Wenn ich einen sprachlich verhunzten Roman „sprachlich gelungen“ nenne, ohne dies zu begründen, vermag ich mich am Ende, wenn man mir das Gefälligkeitsmoment der Rezension nachzuweisen trachtet, immer noch herauszureden. Doch, doch, glaubt es nur: Ich beweise euch auch, dass dürftigster Stil sprachlich gelungen ist. Aber ich lege dadurch meine Karten offen auf den Tisch – und wer genau hinsieht, bemerkt, dass sie gezinkt sind. SO betrachtet, bräuchte man also immer die Langrezension, um mögliche Manipulationen wenigstens als solche kenntlich zu machen.

Aber Rezensionen sind eben „nur“ die Zusammenfassung und Ausformulierung eines Leseeindrucks, sozusagen das zielgruppengerechte Metzgern, Formen und Eindosen eines zuvor recht lebendigen Wesens. Braucht man mehr? Eigentlich nicht, eigentlich schon. Jedenfalls müsste man wirklich einmal ausprobieren, wie dieser Lektüreprozess, die quasi noch wiederkäuende Kuh, auf den Leser von Rezensionen wirken würde, verglichen mit dem Stückchen Salami, das er sonst immer bekommt.

Aber ich sehe gerade: Es sollte um längere Rezensionen gehen, und das, was da auf euch zukäme, wäre gar keine Rezension. Oder doch? Wir müssten das mal ausprobieren, und was wohl würde sich dafür besser eigenen als Detlef Opitz‘ „Der Büchermörder“, ein von mir →an anderer Stelle nach angefangener Lektüre ziemlich schnöde verbal in die Ecke gestelltes Buch. Das noch einmal zu lesen ich ja versprochen habe und was ich verspreche, das halte ich manchmal.

Also: Ab nächste Woche gibt es hier – keine Rezension von Opitzens Buch (die folgt dann ganz am Ende), sondern der ungeschnittene Leseeindruck des am Vortag absolvierten Pensums. Und dann sehen wir weiter.

13 Gedanken zu „Schule der Rezensenten -10-“

  1. Hallo dpr,

    dein offener Ton ehrt dich, aber trotziger Anstand
    kann auf Dauer auch anstrengend sein: nur weil anderswo die Rezensentenethik stillschweigend eingeäschert wurde, muss dein Armsünderglöcklein hier nicht stellvertretend den ganzen Strolchen des Kritiker-Milieus heimläuten (n.b. nicht bös‘ gemeint, eher nachdenklich – und den Blick auf der
    ‚Hygienehysterie‘).

    Als Konsumentin von Krimirezensionen in allen verfügbaren Formaten, Farbsortierungen und Fertigbackmischungen habe ich genung gelitten, um behaupten zu dürfen, dass im Chaos der steten Neuerscheinungen allein persönliches Vertrauen rettet.

    Einen guten Kritiker finden, das ist pures Goldgräberglück. Man entdeckt ihn als integere Persönlichkeit und gleichzeitig als ordnendes Zentrum eines komplexen (und bei entsprechendem Leseappetit kostenintensiven:-) Systems. Man schenkt ihm zögernd einen Vertrauensvorschuss, wenn man in einer Rezension kritischen Zweifel
    und einen Sinn fürs Absurde entdeckt hat.

    Vertrauen ist dann die generelle Erwartung und Ausgangsbasis, mit der man jede weitere Kritik liest: darauf, dass der Kritiker seine Urteilskraft im Sinne eben jener Persönlichkeit einsetzen wird, die er in vorangegangenen Arbeiten bereits sichtbar gemacht hat.

    Insofern ist jede noch so knappe Kritik immer zugleich auch eine knappe Selbstdarstellung des Kritikers – nicht im negativen Wortsinn, sondern eben mit Blick auf den erneuerten Vertrauensvor-
    schuss. Als Leserin bekomme ich im Idealfall zweierlei: meine Krimiinformationen und den Abgleich der aktuellen Haltung des Kritikers mit
    dem Persönlichkeitsbild, das mich Jahre zuvor überhaupt bewogen hat, auf das Urteil dieses Herrn / dieser Dame etwas zu geben. Man kennt die Nuancen. Sowas macht Spaß.

    Ob man den Apparat des Rezensierens und die Zeremonie des Lesens dichter zusammenrücken kann, wie von dir kühn angedacht, weiß ich nicht. Die Leseerfahrung ist privat. Tür zu. Hier ist auch der Kritiker erstmal ’nur‘ weltversunken im Text unterwegs. Gibt er in diesem Stadium unge-
    schnittene Eindrücke weiter, plaudert er womöglich zu viel aus!? Und dann fährt die Lesefreude der gesamten Gemeinde in die Grube!

    Als Fingerzeig reicht mir ein spartanischer Einspalter. Lange Rezensionen sind nach der Lektüre spannend – aber dann nicht Mitschnitt der
    Leseerfahrung, sondern eher versehen mit analytischer Tiefe, mit langem beim Kontext-Allerlei, mit literarischen Vergleichen…

    Connie

  2. Hallo Connie,

    du hast die Problematik exakt angesprochen: Wer ernsthaft Rezensionen liest, verteilt Vertrauensvorschüsse, die er im Laufe der Zeit entweder erhöht – oder desillusioniert abschreibt. Problematisch ist dabei aber, dass dieser von dir genannte „Abgleich des Persönlichkeitsbildes“ dazu führen kann, eine Art von Geistesverwandschaft zwischen Rezensent einer- und Leser andererseits zu konstruieren, die es SO meines Erachtens nicht gibt. Mal ein Beispiel: Normalerweise sind die Krimigeschmäcker von, sagen wir, Thomas Wörtche und mir ziemlich deckungsgleich. Ich bin mir aber sicher, dass jeden Tag der Fall eintreten könnte, dass Wörtche ein Buch empfiehlt, ich es mir beschaffe, lese – und furchtbar sauer auf Wörtche bin, weil ich das Buch für den größten Schmarren halte. Und das, obwohl ich jeden Satz des Rezensenten bestätigen könnte, er mir seine Urteile belegt hat und ich eigentlich sicher sein konnte, wir wären wieder „einer Meinung“. Was ist passiert? Nun, vielleicht hat Wörtche Aspekte, die ihm nicht wichtig erschienen, gar nicht genannt, Aspekte, die mir wiederum von essentieller Bedeutung sind. Und vielleicht würde ich gewisse Aspekte, die wiederum für Wörtche wichtig sind, nicht ansprechen usw usf.

    Das hat nun nichts mit „Rezensentenethik“ zu tun, sondern ist ein reichlich natürliches Phänomen, da Texte nun einmal reichlich offene Bedeutungssysteme sind, die kein Rezensent der Welt in ihrem wahren Umfang erfassen, geschweige denn darstellen kann. Worum es mir geht, ist das Aufzeigen von Mechanismen, Automatismen beim Lesen eines Buches. Darum also, wie ich mich in dieses Deutungssystem einarbeite, es interpretiere, gewichte, beschneide und schließlich in einer Rezension fixiere. Das ist KEINE Rezension, wie ich ja in meinem Artikel auch gesagt habe, sondern der Versuch, das Schreiben von Rezensionen zu analysieren und irgendwie ein bisschen auch den Leseprozess.

    Ich bin durchaus nicht darauf erpicht, durch möglichst umfassende Rezensionen den Missbrauch ausschließen zu wollen! Ach, das würde eh nicht gelingen. Nur: Je mehr Signalwörter ich verwende (und je kürzer eine Kritik, desto häufiger solche Signalwörter wie „gut“, „spannend“), desto leichter die Manipulation. Aber, noch einmal, darum geht es mir gar nicht. Dass eine „Langrezension“ den Missbrauch erschweren würde: wahrscheinlich. Du musst schon very clever sein, über zehn Seiten einen Bockmist en detail zum Meisterwerk umzudeuten! Aber ich möchte eigentlich erst einmal den Prozess selbst beschreiben. Das kann, muss nicht, spannend werden.

    bye
    dpr

  3. Na, det is knorke: Klingt in jedem Falle nach einem interessanten
    Selbstversuch im tageslichttauglichen Laboratorium der Literatur-
    rezeption. Hals- und Wortbruch dazu, ich schau auf jeden Fall wieder
    rein, Resultate bestaunen!

    Postscript

    An der Geistesverwandtschaft zwischen Leser und Kritiker im aller-
    weitesten Sinne halte ich sturerweise fest: albeit under close scrutiny
    ever so often…Für dich mag das eine fragwürdige Konstruktion sein,
    aber sie trägt. Zumindest bislang. Man will das nicht an Namen fest-
    machen, aber man hat seine zwei, drei Leute, und das funktioniert
    prima. Und wenn man den Krimiautor schon lieben gelernt hat, kauft
    man sowieso blind: verlagerter Vertrauensvorschuss. Kaufent-
    scheidungen habe ich kaum je bereut, Reibungsverluste gibt’s hingegen
    immer wieder. Und die sind willkommen: als Basis zum Weiterdenken.
    Vergiss nicht, in meiner Welt regnet es keine Rezensionsexemplare,
    und Kritiker sind keine Kollegen…

    best regards

    connie

  4. Na, dann bin ich doch auch mal so stur (wie sonst nur gewisse gehässige Hamburger Blogger) und behaupte, dass es manchmal gar nichts schaden kann, sich von seinen Leitbildern abzulösen und andere auszuprobieren. Also ma‘ nich‘ den Wörtche oder den Gohlis oder den XYZ, sondern (hier folgt der Name einer bekannten Kritikerin). Klar, in deiner Welt regnet es keine Rezensionsexemplare (aber das hat immerhin den Vorteil, nicht davon erschlagen zu werden), aber vielleicht könnte man EINMAL wenigstens ein Werk versuchen, das man eigentlich nicht lesen wollte? Mach dir einen Vorschlag: Nenn mir einen Krimi, den du ganz bestimmt nicht lesen willst, und wenn ich ihn zufällig hab, schicke ich ihn dir. Nenn am besten ein paar Alternativen…und vielleicht berichtest du dann kurz von deinen Leseerfahrungen?

    bye
    dpr

  5. schade, jetzt liegst du schief und schießt mit Kanonen auf Spatzen. Das Bild des Bücherregens war kein böser Seitenhieb mit dem Ziel, Mankell
    oder Leon zu schnorren, damit Papier zum Verfeuern
    ins Haus kommt. Der Hinweis sollte einfach nur illustrieren, dass normale Leser mit begrenztem Budget und einer Literaturwunschliste, die vom Zettel längst zum Ordner angeschwollen ist, sich anders auf Kritik einlassen – und verlassen, als sich das die Insiderebene träumen lässt.

    Sorry

    Connie

  6. Oh, so war das nicht gemeint! Aber wenn ich dich schon verführen möchte, eventuell deine Lesezeit an ein Buch zu verschwenden, das du gar nicht lesen möchtest, dann wollte ich dir wenigstens die Kosten ersparen! Mankell und Leon führe ich eh nicht in meiner Rezensionsexemplarliste! Und Schnorrer benehmen sich eh anders als du!

    bye
    dpr

  7. Patricia Cornwell
    Portrait of a Killer: Jack the Ripper Case Closed

    Knapp drei Jahre Widerstand in Betonqualität. Brechbar? Falls
    das Ding bei dir rumsteht, sind im Gegenzug 27,5 Zeilen Lese-
    erfahrung geboten.

    cheers!
    Connie

  8. Ui, nee, kann ich leider nicht mit dienen. Aber wenn dir was in deutschen Landen Publiziertes, möglichst einigermaßen aktuell, einfallen sollte, kann man gewiss was machen.

    bye
    dpr

  9. Andreas Eschbach
    Der Nobelpreis

    alte Hassliebe. Jesus-Video: klasse Buch! Aber
    seit ‚Eine Billion Dollar‘ hab‘ ich mir geschworen:
    nie wieder!

    greetings
    connie

  10. Eschbach hab ich zwar nicht greifbar, kann aber versuchen, es zu besorgen. Maile dir dann das Ergebnis und du mir im Gegenzug deine Lieferadresse. Abgemacht?

    bye
    dpr

  11. Hallo,
    Sie erinnern sich, wir hatten bezügl. Opitz auf einer anderen Seite schon einmal miteinander zu schaffen. Heute nur eine Frage:
    bitte, wo finde ich das avisierte „Lesetagebuch“ (oder mie immer man es heißen soll) zu Detlef Opitz‘ Tinius-Roman (Büchermörder)? Oder haben Sie von Ihrem Vorhaben Abstand genommen? Das wäre schade, denn ich war so neugierig darauf.
    Ich kann eigentlich gar nicht so genau sagen, warum mich dieses Buch so fasziniert und sein Schicksal so interessiert. Ich gestehe ja ganz unkritisch ein: ich erachte es als eines der aufregendsten und eigenwilligsten Bücher der letzten Jahre.
    Und noch eine Frage: kennen Sie Opitzens vor einigen Jahren erschienenen Roman „Klio, ein Wirbel um L.“ – ein Buch, das heute schon eine Art Kultstatus genießt und, weil nicht mehr lieferbar antiquarisch teuer gehandelt wird? – Ich will mit der Frage nur andeuten: man versteht die Schreibe Opitzens vielleicht besser, wenn man diesen noch viel schwereren Brocken einmal in „Be-Arbeitung“ hatte.
    Nun denn, ich schweife ab… Also nochmal: wo kann ich Ihre Leseerfahrung zum Büchermörder finden?
    Mit freundl. Gruß, Dietrich N. Uzinger

  12. guten Tag, Herr Uzinger,

    Sie legen den Finger in eine offene Wunde. Nein, von Opitz habe ich noch keinen Abstand genommen, aber das „Experiment“ verschiebt sich um zwei Wochen, d.h. am 14. November gehts definitiv los. Im Moment liegt noch zuviel anderes an, und ohne eine gewisse Muße möchte ich nicht an die Sache heran.
    „Klio“ kenne ich vom Hörensagen, es wurde, wenn mich jetzt mein Gedächtnis nicht täuscht, mit den üblichen Verdächtigen verglichen, also von Joyce mit Schmidt, very heavy stuff, und da ich früher ausgiebig und lange durch solcherlei Stacheldrahtverhaue gerobbt bin, würde es mich schon interessieren.
    Kennen Sie schon Thomas Wörtches Opitz-Urteil? →hier zum Nachlesen, aber ich sags gleich: Wörtche siehts negativ, und bisher gebe ich ihm recht, aber ab 14. November vielleicht nicht mehr, obwohl nach mir nur wenige so oft recht haben wie Wörtche (abgewandeltes Schmidt-Zitat übrigens).

    Bis dann also
    dpr

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