Norbert Horst: Blutskizzen

Leichensache – Todesmuster – Blutskizzen. Schon die Titel der Kriminalromane Norbert Horsts weisen den Weg; vom Konkreten über das Abstrakte hin zum Vorläufigen. Es ist der umgekehrte Weg, auf dem Ermittler gemeinhin vorwärts schreiten, Ermittler, die Polizisten oder Schriftsteller sein können oder, wie im Falle Norbert Horsts, beides Blutskizzen. Konstantin Kirchenberg und KollegInnen werden mit einem Serienmörder konfrontiert, der ältere Männer tötet und nackt in Müllcontainern entsorgt. Die Ermittlungen laufen an, erste Muster kristallisieren sich aus dem Faktengemenge, frühere unaufgeklärte Morde passen ins Raster und recht bald schon gerät ein Tatverdächtiger ins Visier der Beamten. Er, jetzt biederer Buchhalter, Familienvater und Mitglied einer christlichen Sekte, ist schon einmal wegen des Mordes an einem älteren Mann verurteilt worden, und die Indizien, dass er weiterhin tötet, verdichten sich bis zur Gewissheit.

Bis zur Gewissheit? Eben nicht. Es sind nur Skizzen, logische Bausteine. Einen schlüssigen Beweis gibt es nicht. Dafür tauchen Fragen auf, die die Täterschaft des Verdächtigen in Zweifel ziehen. Welches Motiv treibt ihn an? Ein sexuelles, blanke Habgier? Und wie verträgt sich das alles mit seinem neu gefundenen Christsein?

Verlassen wir hier kurz die Handlungsebene und wenden uns der stilistischen zu.

„Dieses Schreien. Der Flur ist leer. Die Tür. Drei Schritte. Thorsten hält Kontakt, seine Schulter schabt am Rücken, heiß, feucht. Durchatmen, zweimal, schneller Blick ins Zimmer. Leer. Nächster Raum, stopp, Konzentration. Na denn.“

Kein Zweifel: Das ist der Polizist Norbert Horst als Autor Norbert Horst. Skizzen, Faktensammlung, Stichwörter, Eckpunkte für eine konventionelle Sprache. Die aber nicht entsteht. Das Primat der vollständigen Sätze, der wie auch immer zu definierenden fließenden und poetisch eingelegten Wörter hat ausgedient. Das Skizzenhafte steht nicht am Anfang der Arbeit, ist nicht Grundlage jener sprachlichen Ermittlung, die mit der polizeilichen die Eindeutigkeit des Resultats gemein hat. Das Skizzenhafte ist das Ziel, sowohl sprachlich als auch inhaltlich.

Das Überführen von Tätern und das Beschreiben des Überführens von Tätern sind identische kommunikative Akte. Dritte wollen überzeugt werden: Staatsanwalt, Richter, Medien, Zuhörer, Leser, Kritiker. Überzeugt durch Schlüssigkeit, Eindeutigkeit, durch eine Kommunikation in einem allgemeinen Regelwerk und unter Bedingungen, die jedermann versteht und akzeptiert. Was an Skizzen gezeichnet worden ist, wird zu Tat- und Sprachmustern, die wiederum zu juristisch oder sprachlich einwandfreien, unangreifbaren Beweisketten und Sprachgebilden, konkreten Gemälden also, die sich vom Skizzenhaften emanzipiert haben.

Norbert Horsts Stilprojekt hingegen erhebt nicht den Anspruch, solche ausgemalten Sprachgemälde zu präsentieren. Die Gedankenskizzen selbst werden zu Literatur geformt. Das Medium, mit dessen Hilfe dies bewerkstelligt wird, ist eben dieser Protagonist Kirchenberg, der niemals „ich“ sagt, sondern die Dinge auf Abstand hält, objektiviert.

„Kaum Leute auf den Bürgersteigen, gleiten vorbei, vereinzelt. Der dritte wird ein Mann sein. Frau, Frau mit Hund, Frau. Verloren. Noch mal. Mann, Frau, Frau. Null zu zwei. Wenigstens einen Punkt, los. Frau, Frau, Mann. Eins zu… Das war Ernst. Wie sah der denn aus? Furchtbar. Hat der getorkelt. Die Bahn hält, aussteigen.“

Dazu viel wörtliche Rede. So entsteht Kommunikation, die keine Einbahnstraße ist, vom Empfänger, den LeserInnen, Mitarbeit verlangt, eine Re-Subjektivierung, die Kirchenbergs Welt der Faktenaufnahme zur Welt des Lesers macht, der Fakten aufnimmt, wertet, also ermittelt.

Zurück zum Inhalt von „Blutskizzen“. Auch hier kann keine Rede von Eindeutigkeit sein, so sehr uns dies auch suggeriert werden mag. Wohl wird der Täter schließlich überführt, doch die Fragen bleiben unbeantwortet. Wie schon in „Todesmuster“ ist der Mörder am Ende flüchtig, es gibt keine Gelegenheit, jene Eindeutigkeit durch ein Geständnis etwa herzustellen, die die gestörte Welt des Verbrechens zur heilen der Verbrechensaufklärung macht. Alles verbleibt im Skizzenhaften: die Frage nach dem Motiv, die Frage nach dem christlichen Einfluss. Einer der Morde gar passt nicht ins Schema, vielleicht hat ihn jemand anderes begangen.

Das ist ein Kunststück und nicht etwa ein Manifest des Unfertigen, gar künstlerisch Unüberlegten. Norbert Horst holt das weit überstrapazierte, mit allerhand Küchenpsychologie und blutigen Versatzstücken vollgepfropfte Thema „Serienmord“ auf den Boden des Unerklärlichen, des letztlich Banalen zurück. Der Text ist präzise gearbeitet, weil nichts mehr Präzision verlangt als dieses im krimiliterarischen Sinne Unvollendete, das sprachlich und inhaltlich außerhalb der Norm Angesiedelte, irgendwo zwischen Authentizität und Fiktion, zwischen nicht zu bändigender Wirklichkeit und bändigender Phantasie.

Blutskizzen. Der dritte Teil eines faszinierenden literarischen Projekts; nicht nur sprachlich originell, nein, das wäre zu wenig und auch die „Authentizität“ der Dienstverrichtung, wie sie der Polizeipraktiker Horst natürlich aus dem FF beherrscht und wiedergibt, ist eine zu vernachlässigende Größe. Wichtiger, viel wichtiger ist es, wie die Bearbeitung von Sprache als Herzstück der Ästhetik mit der Bearbeitung des Inhalts korrespondiert, wie die Arbeit des Autors zur Arbeit des Ermittlers wird. Und umgekehrt. Beides Tätigkeiten, die Wirklichkeit konstituieren, Wirklichkeit allerdings, die sich als fragiles Gebilde erweist, als subjektive Aneignung von Fakten und Wahrnehmungen. Das herkömmliche Kommunikationsmuster von Kriminalromanen, dieses ledigliche Ver- und Übermitteln von Lösungen und den Wegen zu diesen Lösungen, wird bei Horst außer Kraft gesetzt. Es gibt weiterhin Wege, es gibt weiterhin Lösungen so wie es weiterhin Sprache und Form gibt, aber sie sind vorläufig, sie sind Konstrukte, sie werden an die Leser weitergereicht als diese Provisorien. Krimi ist Sprache und Sprache ist Krimi.

Das ist für die deutsche Krimiszene revolutionär, nicht nur, aber vor allem, weil es die vielfach als bloßes Transportmittel missbrauchte Sprache in ihr eigentliches Recht zurückversetzt, sich mit dem Inhalt ständig auszutauschen, ihn zu verändern, durch ihn verändert zu werden. Die Kriminalromane Norbert Horsts markieren einen Höhepunkt des Genres hierzulande, und wir besitzen zu wenige davon, um sie nicht gebührend zu feiern.

Norbert Horst: Blutskizzen. 
Goldmann 2006. 383 Seiten. 7,95 €

2 Gedanken zu „Norbert Horst: Blutskizzen“

  1. Ich auch. Schon die ersten beiden Bücher von Horst fand ich ausgezeichnet. Und Dir, lieber dpr, sei natürlich zu der sehr anschaulich argumentierenden Kritik gratuliert.

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