(Eigentlich wollte ich, so gegen Ende des Jahres, am Beispiel des überragenden Werkes der vergangenen 12 Monate ein paar Thesen zur artgerechten Exegese von Kriminalromanen formulieren. Das Werk ist natürlich Robert Littells „Die kalte Legende“; aber dann habe ich Paulus Hochgatterers „Die Süße des Lebens“gelesen und erkannt, wie schön doch die Betrachtung dieses Buches zur Betrachtung von Littells Text passt. Deshalb jetzt sofort, mit noch frischen Leseeindrücken, die zwar präzisierten und praktisch untermauerten, aber immer noch skizzenhaften Thesen.)
Vorspann
Dieses Eingeständnis vorweg: Ich habe mich jahrelang dagegen gesträubt, Kriminalromane als Produkte eines „Genres“ zu kennzeichnen. Inzwischen halte ich genau diese Begrenzung für sinnvoll, ja, für unbedingt notwendig, wenn man sich theoretisch über Kriminalliteratur auslässt. Meine Ablehnung war, jetzt weiß ich das, nichts weiter als ein Reflex auf das von vornherein Diminuitive, das auch Denunziatorische, dessen Mitschwingen in der Verwendung des Genrebegriffs jedem halbwegs beschlagenen Kenner der Kriminalliteraturgeschichte bekannt sein sollte. Dabei steckt in „Genre“ ursprünglich nichts Negatives. In der Literatur bezeichnet man damit solche Texte, die zumeist beschauliche Szenen aus dem Alltagsleben beschreiben. Sie sind einfach „typisch“, realistisch im Sinne von „nicht überhöht“. Jean Pauls „Siebenkäs“ etwa hat über weite Strecken diesen Genrecharakter, da hier in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß Alltagsleben ausgebreitet wird, der literarische Realismus ist denn überhaupt der Ort schlechthin für Genreliteratur.
Dass der Begriff selbst, der aus dem Französischen kommt und schlicht „Gattung“ bedeutet, der Malerei entlehnt wurde, sei nur erwähnt. Jedenfalls: Kein Mensch käme auf die Idee, Genrekunst generell als minderwertig zu bezeichnen. Doch die Begriffslage hat sich geändert. Was wir heute als „Genre“ kennen, also vor allem Krimis, SF und Western, strömt den Geruch des Trivialen und somit Minderwertigen aus. Ging es bei den „guten“ Genrestücken um das Nachzeichnen von Musterhaftem, Unspektakulärem, so verbindet man heute „Genre“ mit dem Schablonenhaften, das dafür herhalten muss, oberflächliche Spektakel zu inszenieren.
Nun ist es aber selbst der schläfrigsten Wissenschaft nicht entgangen, dass innerhalb dieser begrenzten „Gattung“ bisweilen so etwas wie höhere Literatur entsteht, deren Charakteristikum es ist, sich mit den akademischen Instrumentarien vermessen, sezieren, bewerten zu lassen. Diese Werke gehören also nicht ins „Genre“, sie müssen aussortiert oder doch wenigstens besonders gekennzeichnet werden, ob als „literarische Krimis“ oder als „eigentlich gar kein Krimi“, obliegt der Strategie des jeweiligen Exegeten. Das Genre, das von Natur aus ein in die Vertikale wirkendes Ordnungsmittel sein muss, weil es sich qua definitionem nicht darum schert, ob ein Stück anspruchsvoll oder anspruchslos, ge- oder misslungen ist, solange es die Genrebedingungen erfüllt, wird so zum Sammelbecken des literarisch zu Vernachlässigenden, dem der Makel der Trivialität, bestenfalls des Kunsthandwerks anhaftet.
Das im deutschen Sprachraum bekannteste, weil eklatanteste Beispiel sind die Kriminalromane des Friedrich Dürrenmatt. Sie SIND Kriminalromane, stehen also irgendwie in Verbindung zu den Jerry-Cotton-Heftchen am unteren Ende der Werteskala des Genres. Dennoch käme kein vernünftiger Mensch auf die Idee, sie mit einem Jerry-Cotton-Heftchen zu vergleichen. Ja—warum eigentlich nicht? Täte man es nämlich, der Begriff des Genres wäre nicht mehr be-, sondern entgrenzend. Einerseits. Andererseits würde er uns die Beschränktheit der wissenschaftlichen Instrumente zeigen, mit denen man in den Eingeweiden literarischer Texte zu Werke geht. Diese Instrumente reichen völlig aus, den literarischen Wert seiner Romane zu bestimmen. Es sind aber KRIMINALromane, will sagen: in die Strukturen des Trivialen eingebundene, von ihnen formal, dramaturgisch und hinsichtlich ihrer intendierten Wirkung beeinflusste Texte. Oder ganz einfach: Da es in der Natur des Trivialen liegt, kurzweilig zu unterhalten – und NUR kurzweilig zu unterhalten, ganz gleich auf welchem Niveau, das zu bestimmen eine Frage des angepeilten Marktes ist -, sollte ein Kriminalroman auch das können. Ungeachtet seiner literarisch messbaren Werte. Kann er es nicht, ist er ein misslungener Kriminalroman. Vielleicht ein literarisches Meisterwerk, aber nicht nach den Gesetzen des Genres.
Dürrenmatts Texte nun sind, sauber literaturwissenschaftlich auseinandergenommen, durchaus „gelungen“. Sie besitzen philosophische und psychologische Tiefe, sind wohl nicht unbedingt Meisterwerke, erfüllen jedoch alle Anforderungen, die man an „gute Literatur“ stellt. Auch als KRIMINALromane können Sie überzeugen. Teilweise. Was nun nicht darauf zurückzuführen ist, dass Dürrenmatt „das Genre“ ernstgenommen hätte. Hat er nicht; für ihn bedeutete das Schreiben von Kriminalromanen den Zugang zu einer garantiert sprudelnden Einkommensquelle in schwerer wirtschaftlicher Zeit. Er war eben ein überdurchschnittlich guter und gewiefter Autor, der mit den Genrevorgaben zu spielen verstand. Der Schluss von „Das Versprechen“ etwa ist hervorragend, weil es ein Krimischluss ist. Ein unkonventioneller, gewiss, aber ein Krimischluss, der mit der literarischen Aussage korrespondiert (warum Dürrenmatts Ausflug ins Krimifach nur teilweise gelungen ist, wie hier neckisch angedeutet, kann an diesem Ort nicht ausgeführt werden. Ich habe momentan auch keine Lust dazu.)
Flimmernde Bilder
Aber genug der einleitenden Worte. Sie waren notwendig, um ein Eröffnungsszenario zu ermöglichen, in dem wir Kriminalromane dezidiert als einem Genre zugehörig markieren wollen, einem Genre, dessen Spitzenprodukte gleichermaßen als Romane und triviale Spannungstexte überzeugen. Und da will es nun der Zufall, dass uns in den letzten Monaten zwei Werke erreichten, die sich in vielem ähneln, die beide literarisch durchaus gelungen sind, von denen aber nur eines wirklich „Krimi“, wirklich Meisterwerk ist. Ich spreche von Robert Littells „Die kalte Legende“ (im folgenden immer mit dem Originaltitel „Legends“ angesprochen, weil es EBEN NICHT um EINE Legende geht, sondern um mehrere) und Paulus Hochgatterers „Die Süße des Lebens“. Beide standen respektive stehen zum gegenwärtigen Zeitpunkt an der Spitze der KrimiWelt-Bestenliste, auch das bezeichnend.
Beginnen wir mit dem literarischen Wert der beiden Texte. Hier fasse ich mich bei Littell kurz, da meine Beurteilung schon →an anderer Stelle vorliegt, und resümiere lapidar: „Legends“ zeigt uns eindrucksvoll, dass man mit mehreren ineinander verschlungenen, durchaus künstlichen Identitäten leben kann, ja, dass wahrscheinlich jeder Mensch damit lebt, dass DIE Identität nichts weiter ist als eine Hilfskonstruktion, mit der man das Disparate der Existenz verschleiert, aber angesichts der Weltlage nicht mehr länger verschleiern kann.
In Paulus Hochgatterers Roman „Die Süße des Lebens“ geht es im Grunde ebenfalls um Identität, hier jedoch um die Zwänge, die Identität vorgeben und zerstören. Am Beispiel einer österreichischen Kleinstadt werden uns Beispiele beschrieben. Wir lernen Menschen kennen, die mit sich nicht im Reinen sind, um es euphemistisch auszudrücken. Sie sind psychisch erkrankt, halten ihre Neugeborenen für Teufelsbälger, kommen mit den Anforderungen des Zölibats nicht zurecht, werden als Kinder windelweich geprügelt, sind unzufrieden im Beruf oder einfach fremd in der Kultur, in der sie leben müssen. Mittelpunkt der Romans ist die Psychiatrieabteilung eines Krankenhauses, Protagonist ein Psychiater. Er bekommt es mit einem kleinen Mädchen zu tun, das seinen Großvater tot aufgefunden hat, nachdem ihm irgendjemand den Kopf zertrümmerte und zwar auf so schreckliche Weise, dass man zunächst vermutet, ein Fahrzeug habe ihn überrollt. Das Kind ist traumatisiert und spricht kein Wort mehr, es hat seine Identität, seine Sprache verloren, der Fall ist nun der rote Faden, an dem uns Hochgatterer durch eine Welt führt, deren Bewohner allesamt entfremdet und identitätslos sind.
Das ist nicht schlecht gemacht. Ein Beispiel: Auf der psychiatrischen Klinik gibt es eine Mutter, die ihr Neugeborenes ablehnt, nicht als ihr Kind anerkennt, es als Satansbrut bezeichnet. Eine Mitpatientin, mit einem Österreicher verheiratete Koreanerin, behauptet nun in einer Szene, dieses Kind sei ihr eigenes und heiße auch wie sie. Wir ahnen sofort, dass diese durch die Kultur von sich selbst entfremdete Koreanerin das Baby nur deshalb als das ihre beansprucht, um der Identitätslosigkeit zu entkommen, indem sie das orientierungslose Ich an einem ihr gehörenden Objekt neu ausrichten kann.
Wir ahnen das, wir wissen das, obwohl uns Hochgatterer – dafür sei ihm herzlich gedankt – diesen Zusammenhang nicht aufwendig und wortreich erklärt. Manchmal lässt er seinen Protagonisten etwas arg analysieren, das wohl; da es sich jedoch um die Berufskrankheit eines Psychiaters handelt, sei es akzeptiert.
Diese Stränge sind nun aber nichts weiter als Illustrationen, Verstärkungen und Abwandlungen des eigentlichen Erzählfadens, wo uns in einer Kriminalhandlung das Thema des Textes personalisiert und dramatisiert werden soll. Das entspricht exakt dem Littellschen Verfahren. Sein „Held“, dessen Legenden in ihrer Verschränktheit aufgezeichnet werden, ist ebenfalls in einen Kriminalfall verwickelt, alle anderen Besitzer mehrerer Legenden (der Text wimmelt nur so von ihnen) sind dazu da, das Exemplarische auf eine allgemeine Ebene zu heben. An dieser Stelle verkneife ich mir einen Exkurs zu Induktion und Deduktion in der Literatur und belasse es bei der Feststellung, dass Littells Text ein Paradebeispiel für die Technik ist, vom Besonderen auf das Allgemeine und vom Allgemeinen auf das Besondere zu schließen. Hochgatterers Roman ist immerhin auch ein GUTES Beispiel dafür, wie ein solches ständiges Verallgemeinern und Spezifizieren Literatur lebendig werden lässt und den Leser dazu bringen kann, ebenfalls zu deduzieren und zu induzieren. Aber darum soll es hier nicht gehen; kommen wir zur entscheidenden Frage: Wie halten es Littell und Hochgatterer mit dem KRIMINAL?
Ganz lapidarer erster Eindruck: Littells Roman ist hochspannend, Hochgatterers nicht. Würde man beide Texte einem lediglich auf ihren Unterhaltungswert erpichten Menschen zur Lektüre überlassen, bekäme man beide mit exakt diesem Kommentar zurück: Littell zu lesen befriedigt die Thrillbedürfnisse, Hochgatterer zu lesen ist eine Tortur, wenn man an Action, Suspense, Nervenkitzel gewöhnt ist und sich um andere Qualitäten nicht kümmert.
Nun, spricht das gegen Hochgatterer? Von unserer Anfangsthese, die Genres betreffend, ausgehend: aber sicher. Einwand: Nein, überhaupt nicht! Man darf Hochgatterer nicht an den Erwartungen eines Lesers messen, dessen Augenmerk auf das KRIMINAL- gerichtet ist und dort lediglich auf die Versatzstücke, aus denen man auch Kolportageschund basteln kann. Hochgatterers Einsatz der Krimi-Elemente ist eben subtiler. Hier wird nicht geschossen und gemordet wie bei Littell, hier gibt es keine vordergründige Action, keine Russenmafia, keinen kalten Krieg, keine Intrigen im Hintergrund. Es ist eben alles viel psychologischer.
Schön; dieser Einwand ist berechtigt. Aber jetzt ein kleiner Versuch: Könnte man das, was Littell / Hochgatterer uns zeigen wollen, auch in einem seines KRIMINALs völlig entkleideten ROMAN zeigen? Bei Littell eindeutig: nein. Er benötigt die Verwerfungen, die dieses KRIMINAL bietet, um seine Geschichte zu erzählen. Besäße er sie nicht, verlöre sein Text sofort seinen literarischen Rang, da es nicht besonders interessant ist, Menschen mit diversen Identitäten abzubilden und aufzuzeigen, dies sei nun einmal so. Das Kriminelle wird bei Littell zum Welterhaltenden, das Welterhaltende zwingt zur Täuschung der nicht teilbaren Identität, eine Täuschung, die wiederum durch das Subversive des Kriminellen entlarvt wird, womit sich der Kreis zum Teufelskreis schließt, der doch seinerseits ein logischer, den Realien des Lebens geschuldeter Kreis ist.
Bei Hochgatterer hingegen könnte man „den Fall“ getrost herausschneiden. Er besitzt für die Illustrierung des „Literarischen“ keinerlei Relevanz, da sich das Kriminelle von dem Nichtkriminellen nur dadurch unterscheidet, dass es eben einen Toten gegeben hat und ein Mörder gefasst werden muss. Übrig bliebe ein durchaus als gelungen zu bezeichnendes Stück Literatur, das aber um einiges davon entfernt wäre, ein Meisterwerk genannt zu werden. Littells „Legends“ aber IST ein Meisterwerk, gerade weil es nicht nur literarisch gelungen ist, sondern die Trivialitäten des Genres ernst genug nimmt. Täte es dies nicht, wäre Littells Text nicht Littells Text. Er ist untrennbar mit dem Trivialen verbunden, ja, das Triviale macht ihn erst zum Meisterwerk, ohne die Beachtung der Genreregeln wäre es weit weniger wert als Hochgatterers Roman, der seinerseits das Genre nicht braucht und genau aus diesem Grund als KRIMINALroman kein Meisterwerk sein kann. Um uns nicht misszuverstehen: Hochgatterer arbeitet durchaus gut mit dem KRIMINAL, die Auflösung des Falles ist überraschend und logisch zugleich. Man kann „Die Süße des Lebens“ auch Krimifreunden ans Herz legen, nicht aber als Beispiel für jene Emanzipation des trivialen KRIMINAL in seiner untrennbaren Vereinigung mit dem ROMAN. Und das Ärgerlichste ist eh die Bauchbinde, auf der eine sichere Christine Westermann fantert: „Das Buch ist nicht einfach nur ein Krimi, es ist eine Geschichte über das Leben…“, doch, schwupps, ist die Bauchbinde schon im Abfalleimer angekommen.
Nachspann
Bis hierhin. Etwas noch: Ich neige zu der Ansicht, dass die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Kriminalromanen so lange ins letzlich Leere läuft, wie man das Triviale eines Genres nicht endlich als qualitätsbestimmend akzeptiert. Das kriminelle Element in Hochgatterers Text ist in seiner Qualität immer von der Qualität des „Literarischen“ abhängig, während es bei Littell quasi autonom agieren könnte, als Nur-Krimi, nicht jedoch als Nur-Literatur, was einen Deutungsraum schafft, dessen Betreten in den Schuhen herkömmlicher Exegese untersagt ist.
Natürlich beschäftigt sich Literaturwissenschaft inzwischen auch mit dem Trivialen. Allerdings und selbstverständlich literaturwissenschaftlich. Und genau hier dürfte das Problem liegen.
Paulus Hochgatterer: Die Süße des Lebens.
Deuticke 2006 (Original: "Legends", 2005, deutsch von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel).
294 Seiten. 19,90 €
Robert Littell: Die kalte Legende.
Scherz 2006. 447 Seiten. 19,90 €
Wo bleibt das Montagsrätsel?
Welches Montagsrätsel? Du meinst bestimmt das alle-14-Tage-Montagsrätsel. Das kommt in 7 Tagen, weil das letzte vor 7 Tagen gekommen ist und 7 und 7 überall, nur nicht in Karlsruhe 14 ergeben. Armes BW!
bye
dpr
Ach.
Alle 14 Tage? Warum bin ich dann heute aufgestanden? Und heißt es nicht treffend: Wir können alles, außer Hochrechnung?
Jaja, das Rechnen ist halt so ne Sache für sich! Das muss halt gekonnt sein!
Gruß Mirko
Sie wissen, sehr geehrter dpr, daß ich mich aus mancherlei brotlosen Gründen für die Literaturwissenschaft interessiere — und allein deshalb wäre ich dankbar für eine Konkretisierung Ihrer Bemerkung über deren Beschäftigung mit dem Kriminal und dem Trivialen. Dank im voraus!
Guten Morgen, mein lieber JL, von Brotlosem zu Brotlosem: Ich erzähle Ihnen mal eine kleine Geschichte. Als sogenannter „Fahrschüler“ hab ich jeden Morgen am Bahnhof gestanden, mit den Mädels geschäkert und irgendwann einen Mann beobachtet, der in einer Ecke stand und las. Ein Arbeiter; ich sehe noch das Pepitahütchen vor mir, als hätte ich es selbst auf dem Kopf. Der Mann las in einem Heftchen, unverkennbar Jerry Cotton. Er las, bis der Zug kam, er setzte sich in den Zug und las weiter. Manchmal habe ich ihn auch gesehen, wenn er von der Arbeit heimkam (und ich von den Schülerzeitungstreffen oder anderweitigen Ereignissen außerhalb der Schulstunden). Er saß dann im Bus (Züge fuhren damals wie heute so spät nicht mehr) und las.
Und jetzt zur Literaturwissenschaft, die sich mit dem Trivialen beschäftigt und vielleicht auch mit Jerry Cotton. Was weiß sie uns über den Mann mit dem Hütchen zu berichten, was über seine Motivationen, was über den „Mehrwert“ seiner Lektüre? Nichts. Sie fragt ihn nicht. Sie fragt SICH nicht, meistens, und wenn sie es tut, dann fragt sie es im Rahmen ihrer Mittel, was verständlich ist und logisch und in Ordnung – aber auch nicht genug.
Nun, was hätte der Mann mit dem Hütchen überhaupt zu erzählen? Vielleicht könnte er uns Dinge über den Kriminalroman sagen, die wir noch nicht wissen oder nur ansatzweise oder nur andeutungsweise. Ich weiß es nicht. Ich weiß aber, dass es etwas außerhalb des Wissenschaftlichen gibt, das wir fassen müssen, um Kriminalromane (und mit ihnen Literatur generell) wirklich zu verstehen. Etwas sehr Triviales, etwas sehr Essentielles, Existentielles. Mich freut es ja durchaus, wenn sich die Literaturwissenschaft mit den Trivialen beschäftigt. Das ist hilfreich, keine Frage. Aber es genügt nicht. Die Mittel genügen nicht. Die Form genügt nicht. Darüber sollten wir mal schwer nachdenken und dran arbeiten. Und an den Mann mit dem Hütchen denken.
bye
dpr, der auf dieses Thema sicherlich noch einmal, mehrmals zurückkommen wird, er ahnt schon, dass ihm das nicht erspart bleibt.
Lieber dpr, Ihre Geschichte ist schön, aber ich finde keinen Anschluß und befürchte, daß Sie mich mit ihr in die kommunikative Wüste schicken wollen. Ich räche mich und erzähle ebenfalls, und zwar von meinen Zugfahrten, die ich am Wochenende absolviert habe (zu/von einem Fest in Kiel mit mindestens 50% universitär arrivierten Literaturwissenschaftlern, der Rest waren so genannte Normalmenschen). Die ICE-Großraumabteile für Raucher waren erfreulich leer und boten sich geradezu an zur (rezensionsbedingten) Lektüre einer eben erschienenen Diss. über „Kriminalerzählungen von der Romantik bis in die Gegenwart“. Es wird sie zunächst freuen und bestätigen, daß dort das ganze lange 19. Jahrhundert mit E. T. A. Hoffmann, Annette von Droste-Hülshoff und Theodor Fontane vertreten war, während für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts Doderer und Glauser glänzten, die dann von Bosetzky und Hey abgelöst wurden, denen wiederum Gercke, Berndorff und Gg. Klein folgten (ich zitiere aus dem noch frischen Gedächtnis, deshalb kaum unvollständig). Ich vermute, um jetzt einen Anschluß wenigstens bei mir zu finden, daß Sie diese Art von Literaturwissenschaft (bzw. Literaturgeschichte des Kriminal) im Blick haben. Mir selbst würde ich in diesem Falle raten, die Suche hinter diesem Horizont fortzusetzen bzw. erst einmal aufzunehmen. Aber Ihnen so zu raten, steht mir selbstverständlich nicht zu, obwohl ich fast vermute, daß wir beide da fündig werden könnten.
Beste Grüße!
Das Inhaltsverzeichnis besagter Diss., verehrter JL, ist mir neulich auch untergekommen, beim Studium von Herrn Przybilkas Sek-Lit.-Liste, glaube ich. Und ich wollte auch wirklich was Kurzes, Böses dazu bloggen, aber lohnt sich ja nicht wirklich, gelt?
Aber nein. Das ist irgendwie DIE Literaturwissenschaft, und sie interessiert mich nicht. Ich will sie aber auch nicht in eine kommunikative Wüste locken, jedenfalls nicht, damit Sie dort allein nach dem Wasserloch suchen müssen. Ich befinde mich momentan auch irgendwie in dieser Wüste und suche. Das mit dem Mann und dem Heft und dem Hut könnte man jetzt natürlich gebührend theoretisieren und sagen: Welche Wissenschaft erklärt uns eigentlich, was SPANNUNG ist? So wie der normale Leser von Spannungsliteratur dem Littell gegenüber dem Hochgatterer klar den Vorzug gäbe, so würde der normale Literaturwissenschaftler sich wohl auf den Hochgatterer stürzen, weil ihm dort sein Fresschen garantiert ist. Damit kommen wir aber nicht weiter und ja, dahinter gibt es durchaus einen Horizont, aber ich bezweifle eben, dass es einer ist, den wir auf den Schwingen der Wissenschaft erreichen können. Worauf aber dann? Das ist die Frage, an der ich ja selbst herumkaue und weit davon entfernt bin, eine Antwort zu haben. Ich habe nur die erste Arbeitshypothese, dass wir die Trivialitäten beobachten sollten. Einfach nur mal beobachten. Ich komme da auf ganz merkwürdige Gedanken, die teilweise schon was mit meiner eigenen Lesebiografie zu tun haben, etwa damit, dass ich Arno Schmidt immer am liebsten außerhalb des ganzen Meta- und Subtextdenkens gelesen habe, also irgendwie auch trivial. Was geht. Jean Paul desgleichen. James Joyce sowieso. Lesen Sie mal Joyce wie Jerry Cotton, das ist schön erhellend. So, und jetzt lese ich noch ein Stück Hiaasen (trivial!) und dann denke ich noch einmal über den Mann mit dem Hütchen nach.
bye
dpr
Lieber dpr, anstatt nun — eh vergeblich — nach einer auftrumpfenden Antwort zu suchen (etwa davon ausgehend, daß ich Arno Schmidt vermutlich ganz ähnlich gelesen habe wie Sie — und damit das Ende meiner unangefangenen Juristenkarriere nicht herbeigeführt, aber doch beschleunigt habe), erzähle ich den Nebenplot der Geschichte meiner schwer literaturwissenschaftlichen Eisenbahnreise. Um mich zu erholen und körperlich, geistig und sinnlich zu ertüchtigen, suchte ich den Speisewagen auf (seit ich Fahrschüler war, verlasse ich das Raucherabteil nur noch für diesen) und nahm mir als Lektüre die mediale Repräsentation eines allzu schönen Mädchens von Jan Seghers mit. (Alleinreisende müssen bekanntlich vorsorgen.) Was soll ich sagen: Im nachhinein will es mir scheinen, daß dieses kunstfertige Stück Ihren trivialitätstheoretischen Anmerkungen geradezu vorweihnachtliche Lichtlein aufsteckt.
Nochmals beste Grüße!
PS zu besagter Diss.: Ich möchte fast versprechen, daß Sie getrost auf die Rezension warten können.
Vermutlich, meine Herren, ist die Rede von M. Wigbers? In der Tat ein schlimmes Beispiel von „Wissenschaft“ – was man vermutlich weniger der Doktorandin vorwerfen kann, sondern den Herren/Damen C, die so ein Zeug mit akademischen Graden belohnen. Gedruckt wird´s dann auch noch, wenn auch gegen Geld. „Die Wissenschaft“ ist ja eine legitime Erkenntnis-Instanz, dass sie selbst sich gerne als Monade verhält, nu … Immerhin gibt es ja Aufbrech-Versuche, cf. z.B. die Vogt-Initiative, die immerhin geeignet ist, Dialoge loszutreten. Unbescheiden, ich versuch´s ja auch – auch in den Argumentations-Arten, zwischen denen man natürlich schon hin- und her schalten kann, ohne sich einer total zu ergeben. Also Boulevard und Wissenschaft nicht als grundsätzlich inkompatibel betreiben. Geht. Nur beliebt macht man sich dabei natürlich auch nicht bei allen, was aber auch wieder seine Vorteile hat. Also einfach: Machen!
Cheers
TW
Na, bester Mosaikfliesenleger, machen wa ja! Der Mann mit dem Hütchen in der Eisenbahn wird beim nächsten Schlag eine gewisse Rolle spielen, aber mehr sag ich noch nicht. Und lassen wir sie doktorieren! Ist ein klarer Wettbewerbsvorteil beim Kampf um die Ein-Euro-Jobs oder die besten Plätze in der Taxireihe vor dem Hauptbahnhof.
bye
dpr
Ach ja, lieber JL, Ihren Lektüretipp hab ich ganz verdrängt. Seghers? Das allzuschöne Mädchen? Hurra, finde ich nicht in meinen Bücherschluchten! Hat mich nie erreicht! Tut mir leid!
bye
dpr