Robert Littell: Zufallscode

Ach, hätte ich doch nur Zeit und Gelegenheit! Unauffällig in einer Buchhandlung platzieren, dort, wo sie auf dem Novitätentisch Robert Littells „Zufallscode“ hingelegt haben (kleines Schildchen: „Gewinner des Deutschen Krimipreises 2007!“). Na, was heißt hier Novität. Der Roman ist 1993 erschienen, hieß auf Deutsch „Der Gastprofessor“, weil „The Visiting Professor“ nun einmal so zu übersetzen ist, jetzt also bei Knaur „Zufallscode“, auch okay. Und ganz klein unten drunter: Thriller.

Ich stehe also dort und warte, bis der typische Thrillerfresser erscheint und sich das Büchlein greift. Interessiert wendet und rückseitig liest: „…Plötzlich tauchen Geheimagenten auf, und ein Serienkiller scheint willkürliche Morde zu begehen…“ Und schwupp: gekauft!

Dann müsste man Mäuschen spielen können. Zugucken, wie der stolze Erwerber mit der Lektüre beginnt. Sich die Stirn allmählich irritiert faltet. Die Mundwinkel sich biegen vor Enttäuschung. Zuerst formen die Lippen stumm ein garstig Wort: „Be-schiss!“ Dann zischts durch die Zähne. Und endlich fliegt das Buch in hohem Bogen gegen die nächste Wand. Betrug! Müsste man anzeigen! — Oder doch nicht?

„Zufallscode“, man ahnt es jetzt, ist weder Serienkiller- noch Spionagethriller, obwohl schon heftig seriengemordet und spionagiert wird. Ganz nach Gusto lese man die Geschichte des russischen Zufallsforschers Lemuel Falk, den ein Gastsemester an eine amerikanische Provinzuni verschlägt, als ergreifende Liebesgeschichte, philosophisch-religiösen Traktat mit erfrischender Nähe zum seriösen Klamauk oder, das wird man automatisch tun, als Kompendium allerfeinsten zitierfähigen Sprachwitzes. Literaturbeflissene, die schon den Vornamen des Protagonisten mit dem des unsterblichen Lemuel Gulliver assoziiert haben, seien zudem an Vladimir Nabokovs wunderbaren „Professor Pnin“ verwiesen. Denn wie der große Russe sich stets in seine verlorene Kindheit zurückgeschrieben hat, so ist auch Falk, der den reinen Zufall sucht, doch nur einer, der eine bestimmte Sekunde seiner frühen Jugend manipulieren möchte. Auch das ein ergreifender Moment, einer unter vielen.

Aber nein: Thriller. Wir wollen vielleicht ja gar nicht wissen, dass Falk auf der Suche nach dem reinen Zufall ist (der, nebenbei, nichts mit Chaos zu tun hat, dem ja immer ein Kern Ordnung innewohnt), dass dieser Zufall vielleicht der Beweis für die Nichtexistenz Gottes wäre oder – der Beweis, Gott selbst sei der Zufall. Dies zu beleuchten überlassen wir Falk und seinem Wohnungsgenossen, dem sehr schrägen Rabbi Nachman, der Gott liebt, aber irgendwie nicht mag.

Selbst die wirklich sehr schön und nicht weniger schräg erzählte Liebesgeschichte von Falk und der jungen Rain, die ihr Studium „summa cum lausig“ absolviert, dafür aber Spitze im Haareschneiden und Oralsex ist, auch diese Geschichte vermag uns Krimivolk nur am Rande zu ergötzen. Wir wollen, noch einmal: Serienmord! Spionage!

Also schön. Ja. In „Zufallscode“ geht es um einen Serienmörder, der „wahllos“ tötet und damit natürlich das berufliche Interesse des Zufallsforschers Falk erregt. Dieser wird mit Hilfe der Dezimalzahlenstrukur von Pi beweisen, dass hier ganz und gar nicht zufällig gemeuchelt wird. Er wird den Täter überführen, es gibt einen von Littell geradezu rotzfrech ironisch inszenierten Showdown, mit dem das Phänomen des „Serienkillers“ in der modernen Kriminalliteratur ein für alle Mal als abgefrühstückt zu gelten hat, und doch: Vergessen Sie alles, was Sie von einem Serienkillerthriller erwarten, Sie werden es hier nicht finden, seien Sie also froh.

Spionage. Aber en masse! Falk hat früher in Russland Codiersysteme entwickelt und jetzt, nachdem Russland im Chaos versunken ist (aber nicht zufällig!), interessieren sich alle dafür und wollen Falk anwerben: die Israelis, die Syrer, die Mafia, die Amerikaner. Bei letzteren heuert Falk schließlich notgedrungen an – und wird wenige Wochen später wieder rausgeworfen. Warum? Das lesen Sie jetzt aber selbst. Es ist nichts weniger als der lapidare Abgesang auf den Spionageroman klassischen Zuschnitts, ganz kurz und bündig und logisch begründet, und alles natürlich überhaupt nicht thrillerhaft, versteht sich. Spätestens jetzt nehmen Sie sich vor, endlich auch „Die kalte Legende“ zu lesen, falls noch nicht getan.

Am Ende ist Falk…nein, das lesen Sie natürlich auch selber, Sie Thrillersuchtling. Sie werden so enttäuscht werden, dass Ihnen das Herz aufgeht, wenn vorhanden. Sie werden Littell zu Füßen liegen, Sie werden ergriffen sein, amüsiert und – ja, tatsächlich, ein denkender Leser, eine denkende Leserin, man wird Sie nur schwer aus diesem Buch vertreiben können, längst haben Sie sich dort wohnlich eingerichtet. Das ist der Thrill. Deshalb lesen wir doch. Oder?

Robert Littell: Zufallscode. 
Knaur 2007
(Original: „The Visiting Professor“, 1993, übersetzt von Rudolf Hermstein).
361 Seiten. 7,95 €

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