Okay, streiten wir uns

KrimiWelt-Bestenliste – pro und contra. So lautete der Arbeitstitel eines für das neue Krimijahrbuch geplanten Beitrags, in dem sich Tobias Gohlis, Initiator der Liste, und N.N. über Sinn und Unsinn des Projektes austauschen sollten. Den Beitrag aber wird es nicht geben; zwei potentielle Contra-Autoren haben, aus durchaus nachvollziehbaren Gründen, abgesagt. Und selbst die Rolle des teuflischen Advokaten zu übernehmen, dazu bin ich nicht der richtige Mann. Ich mag die Liste nämlich. Aber.

Eine Liste ist eine Liste. Ein Kompromiss, 17 Meinungen zu einer zusammengefasst und die 17 individuellen Listen dürften wohl mitunter dramatisch anders bestückt sein als die eine, die publik gemachte. Das ist Statistik, das ist in Ordnung, das ist eben Hitparade.

Natürlich gefällt mir nicht alles, was Monat für Monat auf die Liste kommt. Muss auch nicht. Die siebzehn Juroren machen sie kaum, um mir den Tag zu retten. Dass mich manches ärgert, versteht sich also von selbst. Spitzenplatz für Ani? Wo ist Laura Lippman mit ihrem famosen „Gefährliche Engel“? Wo Pentti Kirstilä? Und so weiter. Und erst die Dezember-Liste. Auf Rang 1 Richard Rayners „Das dunkle Herz der Wüste“: ganz passabel, aber so versatzstückartig wie vorhersehbar. Profiarbeit, darf mal an den unteren Rängen schnuppern, aber Rang 1? – Rang 2: Thomas Kastura, „Der vierte Mörder“. Gewiss auch Profiarbeit, man darf aber nicht so genau hingucken. Versatzstückartig, vorhersehbar auch hier alles, die Kunst des perspektivischen Erzählens ist noch nicht bis nach Köln gekommen, wird aber angewandt, erzeugt außer Gähnen nichts, sorry.

Ich gebe zu: Hätten es beide Titel nicht auf die Spitzenplätze der Liste geschafft, ich hätte kein Wort darüber verloren, sie vielleicht noch nicht einmal gelesen. Und das ist mit das Beste an der Liste: Man liest Bücher und streitet sich über sie, die man ansonsten nicht gelesen, über die man nicht gestritten hätte.

Das könnte das Beste sein, denn man muss es sofort relativieren und darauf hinweisen, aus welchen Gründen die Liste ins Leben gerufen wurde. Ein Wegweiser durch den Krimidschungel soll sie sein, Spreu vom Weizen trennen, zeigen: Guck, es gibt den seriösen Kriminalroman als Teil der Literatur, man kann ihn bewerten, er ist nicht bloß Geschmackssache, billiges Zeug. Man will kleinere Verlage, von Conte über Shayol bis Zebu, aus dem Nichtvorhandensein in die Buchläden holen, denn dort hängt die Bestenliste als ein memento und wispert „Probiers doch mal mit uns“, während es von den Wühltischen „Kauf mich!“ schreit. Sie ist also: Werbemittel, PR-Instrument, durchaus wichtiges Indiz für die Emanzipation eines lange genug der Ignoranz preisgegebenen Genres. Das ist schön, das ist ehrenwert. – Und nicht genug.

Besucht man die Internetseite der Bestenliste, gelangt man per Klick auch zu den Begründungen der jeweiligen Wahl. Man liest lauter Lobpreisungen, versteht sich, denn der gute Eindruck darf nicht getrübt, das Publikum, hat man es erst einmal in den Fängen, durch Diskurs nicht verstört werden. Der allerdings wäre notwendig, um zu zeigen, dass der Kriminalroman Objekt einer Streitkultur ist (ich mag das Wort eigentlich nicht; Esskultur, neulich gar Häkelkultur; nu, lassen wir es trotzdem dabei) und die Liste eben nur statistischer common sense. Es gibt keine „zehn besten Krimis“, es gibt aber unterschiedliche Meinungen zu Ani, zu Horst, zu Kastura, zu fast allen. Warum also nicht auch „Gegenstimmen“ zu Wort kommen lassen? Warum nicht zeigen, dass Literaturkritik nicht Bestandteil einer exakten Wissenschaft ist (nicht sein kann), dass aber Kriterien der Kritik durchaus existieren und nur im Diskurs wirklich in all ihrer Widersprüchlichkeit dingfest zu machen sind?

Schön; man kann sich die ganze große Welt der gegensätzlichen Ansichten ergoogeln. Sich, als normaler Krimileser, dem die Besprechungsexemplare nicht kostenlos ins Haus wehen, fragen, wie es denn möglich sei, dass A und B in ihren Meinungen so weit auseinanderdriften. Nur: Wer tut das, wer hat die Zeit, es zu tun?

Die KrimiWelt-Bestenliste nicht als ein jeden letzten Samstag im Monat zu bestaunendes Produkt, ecken- und kantenlos, sondern als ein durchaus labiles, als Kompromiss erkennbares Konstrukt: das wäre, vielleicht, der erste Schritt weg vom reinen Image- und Werbeinstrument, hinein in die Wirklichkeit der widerstreitenden Erklärmodelle, die, hätte man sie auch räumlich ganz dicht beieinander, eine Diskussion über das Grundsätzliche von Kritik anregen könnten. Nicht nur die Begründungen, warum dieser oder jener Roman es verdient hat, auf die Liste zu kommen. Auch die Begründungen, die dagegen sprechen. Ich gebe zu, dass ich mir selbst, da ich das schreibe, eine gewisse Blauäugigkeit vorwerfen muss. Würde ein solches Vorzeigen der Gegenstimmen die Liste nicht diskreditieren? Allzu viel Wirklichkeit schadet bekanntlich dem guten Zweck, irritiert — ja, genau: irritiert. Vielleicht ist es genau das, was mich am Ende doch überzeugt: Um jemanden aufzuwecken, muss man ihn irritieren, und aufwecken sollte man so manche, die sich notorisch in den Federn wohlfeiler Klischees und Ansichten räkeln.

Die Bestenliste gibt es nun seit fast zwei Jahren. Sie hat sich, trotz allem, bewährt, ist eine Institution geworden, doch wie jede andere Institution schwebt sie in der latenten Gefahr, träge zu werden, zu erstarren. Und trotzdem: EINE Bestenliste ist mir immer noch lieber als KEINE Bestenliste. Am liebsten wäre mir allerdings eine, die sich bewegt, bevor sie endgültig auf einem Podest und damit in der totalen Erstarrung landet.

39 Gedanken zu „Okay, streiten wir uns“

  1. Wobei ich ja immer wieder denke, dass die Leute, die sich wirklich für Für und Wider interessieren, auf deine und andere Seiten stoßen und dann auch die Gegenmeinungen finden. (Noch etwas mehr wünschte ich mir immer von Herrn Ludger und Herrn TW.)

    Oder?

  2. Nun, Dschordsch, von Ludger wünschen wir uns im Moment alle mehr und von TW sowieso immer, wenngleich von dorten her ja zweimal im Monat durchaus auch Kontroverses kommt. Aber genau das ist es: Die Sache wäre viel effektiver, wenn der Widerstreit der Meinungen integraler Bestandteil der Liste und ihres Selbstverständnisses wäre. Ich verlange jetzt ja keinen sofortigen Vollzug (wer bin ich denn, dies fordern zu können), aber mittelfristig wärs ein lohnendes Ziel.

    bye
    dpr

  3. Wenn die man nicht zu faul dafür sind. Einen Widerstreit zu fördern und zuzulassen und dann auch noch zu dokumentieren, das kostet Zeit. Viel einfacher ist es, jeder liefert seine Punkte und Voten ab und gutiss.

  4. Streit über ästhetische Urteile ist immer eine feine Sache, aber ist eine „Bestenliste“ wirklich der richtige Ort dafür? Schließlich ist die Krimi-Top-Ten der SWF-Bestenliste nachempfunden, und auch da mag sich nicht jeder den Entscheidungen der Jury anschließen. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn die durchaus vorhandenen Kontroversen nicht nur im Internet, sondern auch im Feuilleton der großen Zeitungen Beachtung fänden. Aber leider ist ernsthafte Krimi-Kritik noch immer eine Sache weniger.
    Herzlich
    Joachim

  5. Ich glaube, Joachim, dass die Krimibestenliste gerade deshalb in sich etwas streitbarer werden sollte, um ihrem naturgemäßen Status als Meinungsquerschnitt einen Kommentar hinzuzufügen. Bisher ist es tatsächlich so, dass man die Entscheidungen billigen oder missbilligen kann. Das erscheint mir auf Dauer etwas zu wenig zu sein. Ist wie Kabarett: Hin gehen meistens diejenigen, die das, was da auf der Bühne passiert, eh affirmieren. Die anderen bleiben weg und schimpfen höchstens.
    Die SWF-Bestenliste als Vorbild, ja. Aber gibt es da nicht z.B. jeden Monat die Vorstellung eines Titels, den ein Juror ganz besonders empfiehlt, der es aber nicht unter die Besten geschafft hat? Wäre auch so was.

    bye
    dpr

  6. Wenn wir mal in den Feuilleton-Alltag schauen – auf den Kampfplatz der täglichen Literaturkritik für’s Publikum – finden wir doch auch nichts anderes. Wann findet dort wirklich ein Diskurs zwischen Kritikern und Kritikern, Kritikern und Lesern, Lesern und Lesern statt? Wann reagiert zum Beispiel ein Kritiker auf die Kritik eines anderen (oder gar auf einen Leserbrief zu seiner Rezension), wann entsteht dort so etwas wie ein roter Faden? Wenn es hoch kommt drei, vier Mal im Jahr, bei Romanen, die über Wochen oder gar Monate durch die Zeitungsspalten geistern. Wieso sollte dies nun ausgerechnet bei Kriminalromanen passieren, die von vielen Kritiker (immer noch) als „diskussionsunwürdig“ qualifiziert werden?

    Mal ganz davon abgesehen, dass eine solche „Diskssionskultur“ bei Kritikern (und Lesern) eine – auf den ersten Blick befremdliche – Voraussetzung benötig. Nämlich die Vorraussetzung, dass man sich als Kritiker irren könnte, dass sich im Laufe einer solchen Diskussion herausstellen könnte, das Argumente anderer Kritiker überzeugender sind. Man stelle sich vor, ein TW, ein Gohlis, ein Noller, würde im Laufe einer Diskussion eingestehen, dass er sich, vielleicht nur in Teilen, bei seiner Einschätzung geirrt hat. Wie oft dürfte er das öffentlich machen, ohne seinen Status als anerkannter Kritiker zu gefährden?

    Wir als Blogger können das tun, das macht uns vielleicht sogar ein Stück weit sympathischer. Aber ein Kritiker, der in den großen Medien publiziert und das auch noch in der Zukunft tun möchte, kann es sich kaum leisten. Ein Kritiker, der sich im Feuilleton-Alltag behaupten muss, umgibt sich (fast schon zwangsweise) mit einem gewissen Unfehlbarkeitsstatus. Fehlurteile werden höchsten von älteren Kritikern akzeptiert, die dass dann als Altersweisheit verkaufen können.

    Um nicht missverstanden zu werden: Ich traue den oben genannten Kritikern schon zu, selbstkritisch zu sein. Es ist halt nur die Frage, ob sie dass öffentlich machen können. Man stelle sich vor, ein Kritiker schreibt eine Kritik und weißt gleichzeitig auf zwei Gegenstimmen hin – wer würde das tun, es sei denn, seine Kritik ist die Antwort auf eine andere?

    Wie Du schon richtig schreibst, ist eine Liste eine Liste. Der Hintergrund, den diese Liste hat, ist vermutlich eher Wenigen bekannt. Die Situation, die Du aus der Buchhandlung beschreibst, sagt es doch schon eigentlich: Werbemittel, Kaufanregung, in kurzen, knappen Annotationen. Zack, kaufen oder nicht kaufen, lesen, freuen oder ärgern, fertig. Nächstes Buch. Wer sich in diversen Foren und Blogs umschaut, wer einfach mal seine Bekannten und Freunde fragt, wird schnell merken, wie wenig Bereitschaft es bei den Lesern gibt, sich ernsthaft, tiefgründig, analysierend mit Kriminalromanen auseinander zu setzen. Gerade mit Kriminalliteratur. Das ist Konsum, das ist Spannung, das ist Spaß. Nothing more.

    Liebe Grüße
    Ludger

  7. Jeweils eine besondere Empfehlung eines Jurymitglieds? Das wäre wirklich eine gute Idee. Sollte sich Tobias Gohlis vielleicht mal durch den Kopf gehen lassen.
    Joachim

  8. Lieber Ludger,
    Du hast ja recht, so weit ist es mit der „Diskussionskultur“ im gewöhnlichen Feuilleton auch nicht her. Und wie gesagt, unter den Freunden der Kriminalliteratur sind die „ernsthaft Interessierten“ eine absolute Minderheit. Andererseits soll man nicht auf diejenigen herabsehen, denen der Krimi einfach nur eine Quelle des Vergnügen ist. Schließlich wohnt auch in manch kritischer Brust eine spannungssüchtige Seele. Ich spreche aus Erfahrung und bekenne mich in diesem Zusammenhang gerne zu manch ästehtischem Fehlurteil. Denn wer hat nach der Lektüre der ersten Wallander-Romane flugs ein Mankell-Lob zu Papier gebracht, dessen Berechtigung ihm heute mehr als zweifelhaft erscheint? Und ob der Verriss, mit dem er vor vielen Jahren den ersten Arjouni „Happy Birthday, Türke“ bedachte, ein wohlüberlegtes Urteil war, auch das mag der Unterzeichnende nicht wirklich noch einmal nachprüfen…
    In diesem Sinne,
    Joachim

  9. Du hast in vielem Recht, Ludger, aber in einem möchte ich dir widersprechen: Es geht nicht darum, dass sich „Kritiker auch irren“ können und dies im Verlauf einer Diskussion eventuell sogar eingestehen müssten. Wenn jemand wie ich etwa Anis letzten Roman ziemlich verrissen hat, alle anderen ihn aber in den Himmel gelobt haben (passendes Bild), heißt das doch nicht, diese KollegInnen hätten sich geirrt (Es gibt, nebenbei, auch keinen quantitativen Maßstab, der mich Einzelwesen automatisch zum Irrenden machen würde, was tröstlich ist). Sie haben eine andere Meinung und wenn sie sie einigermaßen begründen können, akzeptiere ich das und möchte gar nicht jemanden „widerlegen“. Aber dieses Nebeneinander von begründeten Meinungen, wie es in der Kritik nun einmal nicht nur möglich, sondern natürlich und wohl auch objektgeschuldet ist, sollte doch nicht geleugnet werden! Für den Leser, der sich „informieren“ will, bedeutet das eine Abkehr von der handelsüblichen Form des Sichschlaumachens. Er sucht nicht nach der Schablone, die ihm am meisten zusagt, er wird mit mehreren dieser Schablonen konfrontiert. Erinnert mich an den weitverbreiteten Irrglauben, das Internet biete „Informationen“. Nein! Es bietet DATEN, die ICH SELST denkenderweise zu Informationen veredeln muss. Das ist Arbeit, ich weiß, und macht den kleinen Kreis derer, die sich dem überhaupt aussetzen, noch kleiner. Die Vision, auch in die Gefilde der nur auf Unterhaltung erpichten Leser vorstoßen zu können, hatte ich eh nie. Eine Lese-Haltung übrigens, da gebe ich Joachim ausdrücklich Recht, die überhaupt nicht zu beanstanden ist. Nur geht sie mich nichts an.

    bye
    dpr

  10. Oh ja, lieber Joachim, da hätte ich auch so manches Machwerk zu bieten, dass ich heute nicht mehr lesen möchte. Meine erste Krimi-„Besprechung“ im Internet war Val McDermids „The Mermaid Singing“ – furchtbar (die Besprechung, das Buch müsste ich wohl nochmal lesen). Es wären noch mehr zu nennen, auch Herr Mankell. Deshalb: Es geht mir gar nicht darum, auf irgend jemanden herabzublicken, es ist einfach eine Feststellung, dass viele Leser Krimis so wahrnehmen und damit zufrieden sind. Mir reicht das nicht.

    Die Idee mit der besonderen Empfehlung wäre sicher eine Bereicherung.

    Was die Krimi-Kritik betrifft: Schaue ich auf die letzten zehn, zwölf Jahre zurück, hat sich ja durchaus etwas bewegt. Krimis werden mehr wahrgenommen, auch im Feuilleton. Das dabei nicht immer gut begründete Urteile zustande kommen, mag ja sein. Hätte mir vor fünf Jahren jemand erzählt, es gibt im deutschsprachigen Raum 17 auf Kriminalliteratur spezialisierte Kritiker, die regelmäßig für Zeitungen und andere Medien schreiben, dazu noch eine ganze Reihe von Leuten, die nicht zur Jury gehören, hätte ich wohl mit der Stirn gerunzelt.

    Optimistische Grüße
    Ludger

  11. „Sie haben eine andere Meinung und wenn sie sie einigermaßen begründen können, akzeptiere ich das und möchte gar nicht jemanden „widerlegen“. Aber dieses Nebeneinander von begründeten Meinungen, wie es in der Kritik nun einmal nicht nur möglich, sondern natürlich und wohl auch objektgeschuldet ist, sollte doch nicht geleugnet werden!“

    Nun, lieber dpr, sie wird ja auch nicht geleugnet, es ist eben für den Rezipienten mehr Arbeit (sofern er sie sich überhaupt machen möchte), diese Meinungen zu finden und nebeneinander zu legen. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass jeder Kritiker für ein, zwei bestimmte Zeitungen/Zeitschriften/Sender/Internetseiten schreibt, die sich in der Regel als Konkurrenten verstehen, wie es Kritiker untereinander natürlich auch tun. Ich kann doch von so einer Liste nicht erwarten, dass sie mir die Gegenstimmen präsentiert. Und auch die Bestenliste steht in einer Konkurrenzsituation, die sich gegen andere Empfehlungen behaupten muss.

    Für ein Nebeneinander ist in der Tat das Internet ganz gut, Perlentaucher macht es (sogar nach Buchtiteln sotiert), Alligatorpapiere ja auch (wobei dort die Suche schwieriger ist, weil lediglich chronologisch aufgelistet, nicht nach Buchtiteln). Im Englischen gibt es ebenfalls eine solche Seite, deren Link ich aber gerade nicht finde (wird nachgereicht).

    Wenn es aber, wie Du schreibst, gar nicht darum geht, andere begründete Meinungen argumentativ zu widerlegen oder sich kritisch mit ihnen auseinanderzusezten, worin sollte denn dann noch der Reiz an einer Diskussion liegen? Wenn Du den Ani verreißt, andere ihn loben, beide sicher Argumente dafür habt – was bringt mir dass, was bringt es der Kriminalliteratur, außer der Feststellung: dpr hat den Ani aus den und den Gründen verrissen, Kritiker A und B loben ihn aus den und den Gründen? Dann lese ich das Buch und je nach meiner Leseerfahrung tendiere ich vielleicht mehr zu dem einen oder zu dem anderen, vielleicht tritt der seltene Fall ein, dass ich Aspekte im Buch finde, die in keiner Besprechung bislang aufgetaucht sind. Dann steht halt noch eine vierte oder fünfte Meinung dazu im Netz oder in der Zeitung. Was soll ich damit, wenn diese Kritiker untereinander nicht kommunizieren und gerne auch streiten? Ich finde das langweilig.

    Liebe Grüße
    Ludger

  12. Ich fände, ganz ehrlich, genau dieses Streiten langweilig. Sieh mal, ich habe, weils im KJB Thema ist, mich etwas über die Häufigkeit von Kindesmissbrauch kundig zu machen versucht. Es gibt Leute, die behaupten, jedes vierte Kind werde Opfer solcher Übergriffe, es gibt andere, die schätzen, höchstens jedes 20. DAS ist etwas, worüber man streiten kann, streiten muss, wie solche Zahlen zustande kommen, wer sie warum lanciert oder ablehnt. Aber Literaturkritik? Wenn sie nachvollziehbar begründet ist? (Was nicht heißt, dass ich dem zustimmen muss!) Nicht wenn mir die Plattitüden entgegenhopsen, da wetze ich ja durchaus die Messer. Aber was soll ich dem guten Tobias Gohlis denn an Irrtümern „nachweisen“, wenn er Anis Buch aus einem anderen Blickwinkel als ich beurteilt? Nein, stellt die Sachen nebeneinander. Das alleine wird das Phänomen Literatur eindrucksvoller erklären als jedes feurige Debattieren um die reine Lehre. Davon habe ich im Verlauf der letzten 30 Jahre einfach schon zuviele mitgekriegt, es langweilt mich tatsächlich.

    bye
    dpr

  13. Ach ja: Diskurs. Ich nenne das mal spaßeshalber „Diskurs durch räumliche Nähe“. Was gäb das für eine Aufregung, wenn da plötzlich die Nummer 1 der Bestenliste von dreien gepriesen und von vieren verrissen werden würde…

    bye
    dpr

  14. Es wäre ja schon mal ein Service des Alligatoren oder noch besser der Bestenliste, wenn man im Internet auf alle Rezensionen, vor allem die abweichenden hinwiese.

  15. Lass mir die Alligatoren in Ruhe, Georg, die haben in nächster Zeit anderes zu tun. Aber ich kenne da einen Blog, auf dem ich in letzter Zeit kaum Krimieskes gelesen habe. Da könnte man doch Gefundenes präsentieren, nicht wahr, Bester?

    bye
    dpr

  16. Nun, verschiedene Kritiken nebeneinander gestellt ergeben – verschieden Kritiken. Nur: Tobias Gohlis schreibt für „Die Zeit“ anders als Thomas Wörtche für den „Freitag“ usw. Kritiken für’s Feuilleton haben bestimmte Zielgruppen und Adressaten. Wenn ich halbwegs das Profil einer Zeitung vor Augen habe, kann ich mir oft erklären, warum dieser oder jener Blickwinkel vom Rezensenten eingenommen wurde. Überraschungen gibt es natürlich immer wieder mal.

    Was mich erstaunt: Einerseits nennst Du Deinen Eintrag „Okay, streiten wir uns“ und bedauerst, dass eben jene Pro- und Kontra-Beiträge nicht erscheinen (wie ich übrigens auch). Andererseits schreibst Du, dass Dich dieses Streiten langweilt. Es geht mir ja auch nicht darum, dass Du nun dem Gohlis – oder wem auch immer – auf Teufel komm raus irgendwelche „Irrtümer“ nachweisen sollst. Aber: Wenn zwei Kritiker sehr ähnliche Blickwinkel einnehmen und zu unterschiedlichen Urteilen kommen, dann wird es doch spannend. Warum sollen sie darüber nicht streiten dürfen? Ich habe zwar nicht diese 30 Jahre Erfahrung, aber ich nehme im Feuilleton kaum irgendwelche Diskussionen wahr, kaum Beiträge, die sich irgendwie aufeinander beziehen. Jeder schreibt munter zu den gleichen Büchern vor sich hin, ohne irgendwelche Bezüge zueinander zu bekommen, ja, dies noch nicht einmal zu versuchen. Ob in Zeitungen, Zeitschriften, TV oder Radio: Fast alles Einzelkämpfer, manche Prediger, manche eitle Gecken, manche einschmeichelnde Schleimer. Ja, kann man nebeneinander stellen, kann das zusammenfassen und analysieren und bekommt einen Chor von vielen, verschiedenen Stimmen, die nebeneinander ansingen. Sie singen nicht miteinander, sie singen auch nicht gegeneinander.

    Um aber noch mal auf die Liste zurückzukommen: Das ist, wie schon richtig bemerkt, keine Literaturkritik. Es sind kurze, knappe Empfehlungen, die zwar aus literaturkritischer Arbeit und Juryabstimmungen entstehen, aber es ist eine Liste. Daraus lässt sich kaum irgendetwas anderes machen. Wer mehr dazu wissen will, muss sich schon die Mühe machen, die Grundlagen dieser Liste zu finden, ggf. zu kaufen und – was noch entscheidender ist – zu schauen, wer von den Kritikern über bestimmte Bücher NICHT geschrieben hat. Das ist manchmal aussagekräftiger, als die geschriebene Kritik.

    Und: Diese Liste ist für uns kostenlos. Da stehen drei Sponsoren / Kooperationspartner dahinter. (Die übrigens sehr empfindlich reagieren, wenn man die Liste so übernimmt). Die machen das ja nun nicht, um nun ausgerechnet die Stimmen zu Wort kommen zu lassen, die diese Liste oder einzelne Titel auf dieser Liste kritisch beleuchten. Das kann nicht die Aufgabe der Liste sein. Verlage drucken ja auch keine Verrisse auf ihre Buchumschläge.

    Die Kritik oder die Gegenstimmen müssen schon jenseits dieser Liste ansetzen. Dafür gibt es Blogs wie wdt.

    Gute Nacht
    Ludger

  17. Doch, lieber dpr, ein bißchen zu debattieren, würde es schon bringen, allein um das, was Du „andere Blickwinkel“ nennst, klarer zu fassen. Um es konkret zu machen: Ich lasse mir gerne an Beispielen erklären, warum jemand einen Plot, eine Charakterisierung, ein Erzählverfahren für gelungen hält oder eben nicht. Deine eigene Besprechung von Norbert Horst neuem Roman war doch ein vorzügliches Beispiel. Übrigens finde ich es angesichts dieser kleinen Blog-Diskussion richtig schade, dass beim „Treffen von Schwerte“, wo es genau um solche Fragen ging, keiner von Euch dabei war.
    Aber vielleicht beim nächsten Mal.
    Und jetzt gute Nacht.
    Joachim

  18. Guten Morgen, liebe Debattanten,

    gegen Debattieren habe ich ja nun gar nichts, lieber Ludger, nur wenns auf „Irrtümer nachweisen“ hinausläuft, werde ich sehr skeptisch (ich hab ein kleines Beispiel in petto und will es gleich in einem eigenen Beitrag kurz anreißen). Ich bin davon überzeugt, dass allein dieses Miteinander von Pro und Contra Debatten anfachen könnte, die dann, lieber Joachim, genau in dieses Explizieren von Blickwinkeln münden könnten. Ich übersehe auch nicht, dass Zeitungsschreiber gewissen Beschränkungen unterliegen, nicht nur was die Zielgruppe angeht, sondern auch die schiere Zeilenmenge, die man ihnen zur Verfügung stellt und die dann natürlich niemals zu ausführlicher Darlegung von Gründen reicht. Was Schwerte betrifft, lieber Joachim, nun, war eben Schwerte. Irgendwo weit, weit da oben im Niemandsland…vielleicht rückt die Tagung nächstesmal ja etwas weiter südlich…

    bye
    dpr

  19. Kritik ist immer subjektiv. Das war, mit Verlaub, das (dort allerdings nicht formulierte) Fazit in Schwerte. Der Eine findet Ani sterbenslangweilig, der Andere hält ihn für genial. Der Eine findet Hettche großartig, der Andere hält ihn für einen Blender aus der aktuellen Hochschwatzabteilung. So viele Kritiker, so viele Meinungen. Die akademischen Kritiker beschäftigen sich gern mit solchen Kriterien wie „Intertextualität“ oder „Welthaltigkeit“, was wiederum den gemeinen Leser weitaus weniger interesssiert als ein überraschender Plot, den wiederum der Literaturwissenschaftler nicht interessiert. Kritik der Kritik hilft höchstens, den Geschmack der Kritiker besser zu kennen. Aber welcher seriöse Programmmacher – außer vielleicht der selige Siegfried Unseld – entwickelte sein Programm schielend auf den Geschmack der Kritiker?
    Jeder Verlagsmensch, jeder Autor freut sich über Lob und Anerkennung. Die höchste Anerkennung findet jedoch dann statt, wenn ein Buch viele Leser findet – besonders, wenn es von der Kritik nicht wahrgenommen wird, wie es leider vielen guten Krimis passiert ( siehe dprs Einwand zum Nichtauftauchen von Kirstilä in der Liste).
    Am wirkungsvollsten ist die Kritik der Leser, nämlich die aktive Weiterempfehlung eines Titels im Freundes- und Bekanntenkreis.
    Im übrigen ist es, wo auch immer, eine Freude, über Bücher zu streiten trotz der überholten Floskel, dass über Geschmack nicht zu streiten sei. Der Eine findet Merkel toll, der Andere Müntefering … undsoweiter.

  20. Merkel toll, Müntefering toll? Na, na… dass Kritik immer subjektiv sei, ist einerseits natürlich richtig, andererseits ein Todschlagargument. „Die Geschmäcker sind halt…“ Klar, sind sie, aber wenn ich meine subjektive Meinung nicht halbwegs vernünftig begründen kann, ist sie nichts weiter als ein Meinungchen. Man kann gute Literatur erkennen, man kann schlechte erkennen. Die Interessen der Wissenschaft sind nicht die der „Normalleser“. Müssen sie auch nicht. Übrigens interessiert MICH ein Plot durchaus und ich denke, das trifft auch für die meisten der KollegInnen zu. Und SIE, mein lieber Herr Doktor Booß, schulden mir noch einen Kugelschreiber zu Weihnachten wg. fortgesetzter Kirstilä-Propaganda. Lest Kirstilä! Legt ihn euch und anderen unter den Weihnachtsbaum (2 Kugelschreiber!). Und der Mann hat noch andere Bücher überschrieben und wehe, wehe, die werden nicht übersetzt! (dann 3 Kugelschreiber)

    bye
    dpr

  21. von innen betrachtet:
    als mitglied der jury kann ich das erstaunen, was da so manchmal auf unserer „krimiwelt-bestenliste“ steht, nur zu gut verstehen. da geht es mir nicht anders. da hat man eine super-entdeckung, hat sie vielleicht gar den kollegen auch mitgeteilt und dann findet man sie traurig mit 2 stimmen auf rang 11 wieder. aber so ist das wenn viele leute sich demokratisch über kunst verständigen. demokratie war schon immer das ende der kunst. aber die „liste“ ist ja auch keine kunst sondern genau der gelebte leitfaden. der auch mich immer wieder zum lesen von bisher mißachteten titeln anspornt, die meine kollegen rätselhafterweise für gut befanden. wir machen trotzdem weiter und wundern uns über uns selbst.

  22. Die Freiheit der Kunst ist immer die Freiheit der Elftplatzierten; sehr wahr. Und da ich a.a.O. aufgefordert worden bin, meine Formulierung vom „reinen Image- und Werbeinstrument“ zu überdenken, bitte: Wäre sie etwas anderes, dann wäre sie etwas falsches, etwas gar verlogenes. Listen listen listig: Sie geben eine Ahnung den Ahnungslosen, sind BILD für Bilder. Wer genau gucken will, muss lesen. Mit der Bestenliste zum Besten geprügelt: das genügt schon mal, ist besser als nichts.

    bye
    dpr

  23. Sicherlich führt die Liste dazu, dass manches Schätzchen gehoben wird. Aber so eine Liste birgt natürlich auch die Gefahr, dass sich der Focus der öffentlichen Wahrnehmung nur noch auf die Gelisteten richtet und die Breite verloren geht.

    Beste Grüße

    bernd

  24. Liebe Diskutierer,
    ein paar Dinge möchte ich als Jury-Miitglied der Bestenliste bemerken: erstens, welchen Krimileser (und ich habe in meinem Bekanntenkreis viele) interessiert es wirklich, den Krimi als Kunstform wahrzunehmen? Einen verschwindend geringen Prozentsatz, würde ich nach zahlreichen Krimi-Gesprächen sagen.
    Zweitens: natürlich ist eine Liste nur eine Liste. Und allen, die bei Kritiken immer jammern, das sei jetzt aber nicht objektiv, sage ich: Eine Kritik ist nie objektiv. Och schreibe ja auch Theaterkritiken, und was ich dem normalen Theatergänger natürlich voraus habe, ist eine weit umfangreichere Seherfahrung und damti Vergleichsmöglichkeiten. Nicht mehr und nicht weniger.
    Drittens erscheint mir als fest in einer Tageszeitungsredaktion verankerter Redakteurin die Diskussion sehr weltfremd: Wo, bitte schön, sollen so ausführliche Pro-und-Contra-Debatten abgedruckt werden? Bei den realen Platzverhältnissen? Und soll die Bestenliste jeden Monat als 100-seitiges Bändchen erscheinen? Und wer soll dafür schreiben? Ich habe regelmäßig Wochen, in denen ich mehr als 50 Stunden arbeite. Vielen Dank auch und so viel zum Stichwort „Faulheit“, das in einem der Beiträge fiel.
    Grüße, Sylvia Staude

  25. Liebe Frau Staude,

    es geht nicht um eine Printversion der Liste, sondern, wenn denn überhaupt, um eine ERGÄNZUNG zu ihrer Online-Präsentation. Mehrarbeit ist damit auch nicht verbunden: Zu fast jedem Titel gibt es ja innerhalb der Jury durchaus divergierende Meinungen, die hier und dort und anderswo veröffentlicht wurden. Den Charme der ganzen Geschichte sehe ich, wie schon oben gesagt, im bloßen Nebeneinander der Ansichten: Das wäre eine Konzession an die Wirklichkeit der Literaturkritik und damit an die der Literatur schlechthin. Das Argument mit der Mehrheit, die Krimi nicht als Kunstform wahrnimmt, nun ja, genau, aber glauben Sie tatsächlich, dass diese Mehrheit die Liste wahrnimmt? Plötzlich hell begeistert Padura liest oder Littell (obwohl der durchaus auch auf diesem Niveau zu lesen wäre – was für ihn spricht!) oder Hochgatterer oder Amila oder… Ich verstehe, dass Verlage nur positive Rezensionen abdrucken, das ist ihr Geschäft. Aber die Liste sollte ein wenig mehr widerspiegeln als die Willkürlichkeiten einer Statistik.

    bye
    dpr

  26. Für mich hatte die Besten-Liste an jenem Tag sowohl ihre Unschuld als auch ihre Relevanz verloren, als ich – neben sechs weiteren Autoren – Zeugin folgender Ankündigung eines Jurors wurde: „Das wäre doch gelacht, wenn wir den Autor A nicht abschießen und den Autor B auf Platz 1 setzen können!“ Autor A war im nächsten Monat, was der Juror schon wußte, erstmals auf der Liste, und zwar auf Rang 2,wo er auch drei Monate blieb. Im Monat danach pirschte sich Autor B auf Rang 3 heran, im übernächsten übernahm er die Führung, die er im darauffolgenden Monat behielt. Von der Offenheit der Jurorenworte wie auch der Machtbesoffenheit, die aus ihnen sprach, war wohl nicht nur ich befremdet.Ihr Autoren mögt zwar Bücher schreiben, aber WIR machen sie (zum Erfolg oder auch nicht). Es müssen sich, so meine mit mir wohl kaum durchgehende Phantasie,ja auch nur 3-4 Gleichgesinnte absprechen, dem gemeinsamen Favoriten Höchstpunkte verleihen und gefährliche Konkurrenten leer ausgehen lassen. Die Juroren außerhalb des internen Meinungskartells verteilen ihre Punkte breit und arglos und können das Ergebnis somit nicht entscheidend beeinflussen.
    Allerdings wird die kommerzielle Wirkung der Bestenliste sicherlich überschätzt. Käufer von Belletristik sind überwiegend Frauen,die nicht nur häufiger Bücher von weiblichen Autoren kaufen, als sie auf der Liste vorkommen, sondern mehrheitlich auch keine noir- oder Gewalt-Krimis (etwa Peace & Konsorten), wie sie des öfteren von Kritikern favorisiert werden.
    Wertvoll ist die Liste für mich allein dadurch, daß manchmal Titel in den Blickpunkt gerückt werden, die man ansonsten nicht wahr- oder ernstgenommen hätte. Ob man auch der geeignete Leser für’s Buch sein könnte, läßt sich manchmal bereits der Jury-Begründung entnehmen…

    Gabriele Gordon (Wolff)

  27. Na, jetzt wirds ja intressant. Von der SWR-Bestenliste war auch schon öfter sowas zu hören, daß die Frankfurter Maffia Autoren „gemacht“ haben soll.

    Nennen Sie doch mal Roß und Reiter: Wer war das? Wer sind die Zeugen? Um welches Buch geht es? Sonst heißt es wieder: Die spuckt ja nur, weil sie selber keinen Besteller hat.

  28. Hallo, Frau Staatsanwältin, hallo, liebe Disputanten, werter dpr,
    eigentlich hätte ich ja lieber im Krimijahrbuch auf die eine oder andere Weise auf Kritik an der KrimiWelt-Bestenliste reagiert. Nun aber, nachdem der ungemein ausgewogene, geradezu salomonische Beitrag von dpr doch noch beginnt, die üblichen paranoiden Wellen hervorzurufen – gewissermaßen am Endausschlag der Debatten-Amplitude – einige Bemerkungen zur Arbeitsweise der Jury:
    1. Votiert jedes Mitglied der Jury einmal pro Monat für die vier Titel, denen er/sie/es „viele Leser wünscht“. Das geschieht per E-Mail und, was manche bedauern, ohne vorherige Absprache. Das Bedauern betrifft keineswegs eine unzureichende Kartellbildung, sondern die bei der Zahl der Jurymitglieder und der monatlich vorliegenden Titel unvermeidliche Ausgangsbreite. Es gibt keine Vorentscheidungen, keine Vorauswahl, und nichts anderes liegt dem einzelnen Jurymitglied auf dem Schreibtisch als die Masse der Neuerscheinungen, aus der es seine Wahl treffen muß.
    2. Die Mitglieder der Jury stimmen ab, ohne zu wissen, wofür die anderen gestimmt haben. Der einzige, der sein Votum abgibt bei Kenntnis aller anderen, bin ich. Selbst wenn ich mit meinen Stimmen etwas manipulativ verändern wollte, kann dies rechnerisch nur Einfluß auf die Titel haben, die auf den letzten Plätzen rangieren.
    3. Allerdings werden nach der Abstimmung alle Jurymitglieder vom gesamten Abstimmungsverhalten aller anderen informiert und können sich so aus der Liste von ca. 20 – 30 Titeln, die (noch) nicht genügend Stimmen bekommen haben, inspirieren lassen. Welch Glück und Leid damit verbunden ist, bezeugen die blog-Beiträge der anderen Jurymitglieder.
    4. Die (Nicht-) Relevanz der Liste ergibt sich deshalb hauptsächlich aus der Sorgfalt, mit der die Jury arbeitet. Ob durch die KrimiWelt-Bestenliste Autoren „gemacht“ werden, wie Frau Gordon zu Ohren gekommen sein will, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich bin da aber eher skeptisch, weil Literaturkritik – besonders im Krimibereich – wenig Einfluß auf den Erfolg eines Autors hat. Um auf das Beispiel Tannöd, den Shooting-Star der Saison, zu kommen: Vermutlich hätte es ohne die KrimiWelt-Bestenliste länger gedauert, bis so viele begeisterte Reaktionen aus allen Ecken kamen – aber die Begeisterung betraf das Buch und die Arbeit von Andrea Maria Schenkel. Was ist überhaupt Erfolg im literarischen Feld? Hohe Auflagen? Big Money? Wenns darum ginge, würde ich meine Schreibzeit eher als amazon-Kunde getarnt verbringen. Oder als Marketingmann, der im Buchhandel Regalmeter mit meinen Produkten besetzt und die Konkurrenz niederringt. Kaum zu glauben, wie sehr die Gleichsetzung von kommerziellem Erfolg und Qualität die Hirne vernebelt. Das reicht doch wirklich, wenn die Großverlage das glauben.
    Und „Machtbesoffenheit?“ Liebe Gabriele, da hätte ich ja nun gerade bei Dir als Staatsanwältin auf ein weniger populistisches Verständnis von „Macht“ gesetzt. Oder kolportierst Du Hörensagen aus Machtlosigkeitsbesoffenheit?
    Ich jedenfalls gehe davon aus, daß Literaturkritik nur in Respekt vor der Leistung des Autors und dessen kreativer Mächtigkeit geübt werden kann. Der Autor kann morden, leben lassen, Gold und Scheiße produzieren. Dann ist sein Werk getan. Dann kommt die Kritik und gibt sich Mühe, zu verstehen, zu bewerten, Gold Gold und Scheiße Scheiße zu nennen. Sie ist das Sekundäre, was wiederum auch nicht heißt, daß sie nichts ist. Sondern Anerkennung der Arbeit der Autoren.
    Ich finde es jedenfalls, um auf den Ausgangspunkt zurückzukommen, klasse, daß monatlich eine Rangliste von kompetenten Leuten erstellt wird, die zehn gute Bücher vorstellt, die eine Mehrheit als „beste“ deklariert. Das ist ein Spiel, aber kein geschmackloses. Werbungs- und Imagegewinne entstehen, lieber dpr, für die das Unternehmen tragenden Medien. Wir entscheiden schon nach Geschmacksbildung und Urteilskraft und denken nicht schlechter als das Nobelpreiskomitee von unserer Arbeit. Kein Mensch muß dessen Entscheidungen teilen, nicht einmal der Autor muß.
    Im übrigen möchte ich mich, überwältigt, für die Kritik, die Anregungen und Vorschläge bedanken. Tobias Gohlis

  29. Lieber Tobias Gohlis,

    danke für den ausführlichen Beitrag. Ich werde mir erlauben, am Mittwoch eine kleine Reprise der Diskussion zu veröffentlichen, ganz einfach, um auch die Dynamik der ganzen Sache noch einmal aufzuzeigen und offene Fragen wo nicht zu beantworten so doch als „noch offen“ zu markieren. Bis dahin!

    bye
    dpr

  30. Stimmung! Aufregung! Blanker Hass. Prima. Ich bin ganz begeistert. Da hast du, lieber deepeeerr, rechtzeitig zum Jahreswechsel den großen Boller losgelassen. Und ich sitze hier im kühl werdenden Mittelkalifornien, schreibe momentan mit Sohn Michael denglische Kinderkrimis und lache mir den Ast. Wonderful.
    Vor langer Zeit, vor vielen, vielen Jahren, war ich mal Sportler. Da hatten wir sowas nicht. Wir haben das, wie Sportler das von Natur aus tun, vereinfacht, das mit dem Bester sein wollen. Wir saßen einfach im Auto und warteten darauf, daß die Fahne fiel, was dem Sportler zu wissen gab, daß er nun losfahren müsse. Das taten wir dann alle, meist gleichzeitig. Wer nach vorher festgelegter Zeit oder Rundenzahl als erster über die Ziellinie fuhr, war Bester. Sofort und zweifelsfrei. Auch wenn er ein bisschen beschissen hatte, da hinten in der Ostkurve, zum Beispiel, wo alles so schnell war, daß sich keine Aufpasser dorthin trauten und der Sportler dann den vor ihm fahrenden Sportler beim Anbremsen etwas touchieren konnte, womit er sich meist freie Bahn schaffte. Aber das bisschen Anrempeln tat dem Zweck der Übung keinen Abbruch. Wer zuerst die karierte Flagge sieht, kriegt die Kohle, den Kuss und den Pott. No questions asked.
    Das wäre doch was, oder? Sollen sich doch die Krimischriftsteller einmal im Monat hauen. Wer stehenbleibt, ist Bester.

    Alles Gute von deinem Besten,
    Peter

  31. Mönsch, Peekeh, old but solid house, das freut mich jetzt aber! Denglische Kinderkrimis? Die wir auch hier im D-Land lesen können? Oder muss ich wieder, ihr Verlegerlein, die Rute rausholen? (Nö. Aber: Peter J. Kraus: Geier, Knaur 2003, lumpige Achtneunzig. Das schmückt den Gabentisch.)
    Wenn sich die Autoren hauen würden, wäre ich bereit, danach gegen den Sieger anzutreten. Und einmal im Quartal gibts die große Massenkeilerei Autoren – Kritiker, sprich Heringe gegen Giganten. Aus Kalifornien kommen halt immer die besten Ideen. Grüß mir die Mojave, wenn du wieder mal dort bist, um den ollen Gram…na, du weißt schon.

    Best & bye
    dpr

  32. Sehr geehrte Frau Staude,

    dass Kritikerinnen ihre persönlichen Vorlieben in Kritiken einfließen lassen, halte ich für gerechtfertigt, beinahe selbstverständlich.

    Ihre vierzehntägig erscheinende Krimi-Kolumne in der Frankfurter Rundschau ist für mich jedes Mal ein Highlight der Zeitungslektüre. Ihre Urteile fand ich bisher immer gut begründet und ausgewogen.

    Wenn nicht alle der hier Diskutierenden die Jury-Entscheidung zur Bestenliste akzeptieren, können Sie sicherlich damit leben.

    Widerspruch belebt das Geschäft …

    Olivia Kroth

  33. Ja, aber für 0,01 € plus 3 € Porto bei Amazon „wie neu“ zu kriegen. Sollte man zuschlagen und nicht auf die 2. Auflage warten, die es wohl so schnell nicht geben wird. Ist das alte Lied: Lieber die 690. „Steppenwolf“-Ausgabe als die 2. eines guten Krimis.

    bye
    dpr

  34. Also ich guck gerne bei Amazon. Da sind auch keine nervigen BuchhänderInnen.

    bye
    dpr
    *zahlt jetzt dem Patzer alle Frechheiten des vergangenen Jahres zurück

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