Mit der Veröffentlichung von Annie Hruschkas „Schüsse in der Nacht“ feiert die →„Criminalbibliothek des 19. Jahrhunderts“ ein kleines Jubiläum, ist doch Frau Hruschka der/die fünfundzwanzigste Autor/in unseres ebenso ehrgeizigen wie arbeitsintensiven Projekts. Anlass für eine kleine Rück- und Vorschau.
Am Anfang stand Verärgerung. Verärgerung über die so häufig leichtfertig in die Welt gesetzte Erkenntnis, der deutschsprachige Kriminalroman besitze keine Tradition, habe seit jeher von den großen, zumeist britischen Vorbildern gezehrt und könne sich, wenn überhaupt, auf eine Handvoll „Hochliteraturkrimis“ des 19. Jahrhunderts berufen, von E.T.A. Hoffmann bis Theodor Fontane. Der Nachweis, dass diese Behauptungen nichts weiter sein konnten als sorglos ins Öffentliche geplappertes Unwissen, ließ sich erschütternd leicht führen. Man musste nur einige Antiquariatskataloge flüchtig durchblättern, ein wenig durchs Netz googeln, um auf Namen und Daten und Titel zu stoßen, die in ihrer bloßen Quantität ein Vorhandensein von „Wurzeln des deutschsprachigen Kriminalromans“ nahelegten. Hatte man ein paar wenige der dort aufgeführten Werke gelesen, war man gleichermaßen ergriffen wie erschüttert. Ergriffen, weil sich hier, in den Werken von Holtei, Streckfuß oder Temme, etwas sehr Eigenständiges offenbart, erschüttert, weil mit jedem Jahr, das verging, auch diese Zeugen einer Tradition zu verschwinden drohen.
Der Entschluss, eine „Criminalbibliothek des 19. Jahrhunderts“ zu etablieren, in der diese frühen Zeugnisse deutscher Kriminalliteratur jenseits der Zelebritäten dokumentiert und für jedermann kostenlos zur Lektüre bereitgestellt werden sollten, war schnell gefasst. Es gab keine „Bedarfsanalyse“, keinen „Editionsplan“; wozu auch. Veröffentlicht werden musste schier alles, was man irgendwie in die Hände bekommen konnte, denn mit dem Sammeln und Zugänglichmachen der Quellen beginnt jegliche Wissenschaft.
Aber es ist eben nicht nur die Wissenschaft, der hier Quellen und Anregungen geboten werden sollen. Von Anfang an war an den interessierten Laien gedacht, all die neugierigen Menschen, denen pausenloser Verzehr aktueller Krimikost nicht mehr genügen will.
Heute, knapp 15 Monate nach dem Start der „Criminalbibliothek“, warten dort, grob übern Daumen, 6000plus Seiten auf die Neugierde der LeserInnen. Das ist, wirft man einen Blick in Mirko Schädels „Bibliographie der deutschsprachigen Kriminalliteratur“, immer noch wenig, zumal wenn man berücksichtigt, dass Schädel nur eigenständige Veröffentlichungen, jedoch keine Zeitschriftenkrimis listet, die wir sehr wohl in digitalisierter Form anbieten.
Wir? Die „Criminalbibliothek“ ist bislang das Werk von Zweien, der andere sei hiermit herzlich gegrüßt, der obligatorische Hut gezogen. Manchmal, selten nur, erreichen mich Hinweise von Dritten, auch Ihnen ein Dank. Noch können wir gewährleisten, dass die „Criminalbibliothek“ langsam, aber kontinuierlich wächst, das laufende Jahr ist schon verplant, doch wie es in dieser kleinen Besetzung weitergeht – man weiß es nicht. Aufforderung zum Mitmachen also.
Inzwischen hat sich die „Criminalbibliothek des 19. Jahrhunderts“ einen Appendix „frühes 20.“ geleistet, der die Willkür beim Publizieren (veröffentlicht werden darf ja nur das Werk „freier“, sprich seit wenigstens 70 Jahren toter AutorInnen) zwar noch steigert, zugleich jedoch zeigt, dass Jahrhundertgrenzen keine Entwicklungsgrenzen waren. Nicht zuletzt durch diese großzügigere Auslegung des Begriffs „alte Krimis“ spiegelt sich in den angebotenen Krimis die tatsächliche Situation des damaligen „Marktes“ wieder. Vom seriell gefertigten Heftroman über die Sherlock-Holmes-Imitation und die psychologische Fallstudie bis zum kritischen Zeitroman und den Vorläufern rasant geschnittener Polizeikrimis – all das findet sich in der „Criminalbibliothek“, und mit jeder neuen Veröffentlichung erhellt sich die Vergangenheit deutschsprachiger Kriminalliteratur weiter.
Es muss eigentlich nicht gesondert erwähnt werden, dass die „Criminalbibliothek“ ein unkommerzielles, von keiner Seite finanziell gefördertes Unternehmen ist. Der Versuch, eine Buchreihe „Criminalbibliothek“ zu etablieren, ist nach gutem Beginn (Carl von Holteis „Schwarzwaldau“ fand bisher über 200 Käufer) inzwischen wohl als gescheitert zu betrachten. Das Interesse ist mehr als mäßig, die Subskriptionsmengen ernüchternd bis katastrophal. Das ist schade, aber kein Beinbruch. Vielleicht inspiriert das digitale Vorhandensein der alten Krimis irgendwann einen Verlag, daraus ein auch papiernes zu machen; es würde uns freuen. Bis dahin behalte ich mir allerdings vor, jeden Verlag, der sich zum xten Mal „unterm Birnbaum“ ausruht, statt Emilie Heinrichs’ „Leibrenten“ zu drucken, bis ins fünfte Glied zu verfluchen und ihm jegliches Recht auf die „Dichter und Denker“ – Attitüde abzusprechen.
Wie geht es nun weiter? So wie bisher. Wir werden unverdrossen alte Krimis publizieren, am Teppich weben, auf dem es sich Wissenschaft und neugierige LeserInnen bequem machen können. Der 50. Autor, die 50. Autorin wartet schon am Horizont, wir werden auch dieses freudige Ereignis gebührend feiern. Mit der uns eigenen Bescheidenheit. Und dem auch dann geäußerten Wunsch: Wenn Sie mitmachen wollen, etwas beitragen können (und sei es nur einen „alten Krimi“, den Sie uns zum Digitalisieren zur Verfügung stellen): tun Sie es doch einfach!
Chapeau!
Nein, nicht die Autorin, sondern die gleichnamige Kopfbedeckung, die schon Hans Castorp pries (Sind Thomas-Mann-Zitate frei?): „Man soll aber einen aufsetzen, damit man ihn abnehmen kann, bei Gelegenheiten, wo es sich schickt.“