Spannung: historisch. Wie war das früher? Spannung gestern = Spannung heute? Mit welcher Erwartung begann man einen „Krimi“ zu lesen? Einige Beispiele, einige Schlussfolgerungen. Die Forschungen stehen noch am Anfang.
Ein ruhiger ländlicher Tag in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Frau Scheuermann, brave Frau eines Ökonomen, hat ein Laster: das Lesen. Nicht in erbauliche Schriften steckt sie ihre Nase, nein, es sind „Land= und Seeräuber=Romane, Criminalnovellen, verlorene und wiedergefundene Kinder, Krempel von Ehemännern von dem Schlage Blaubarts und dergleichen mehr“, die sie vorzieht.
„Sie las, wie immer, nur jene Theile der Erzählung mit Aufmerksamkeit und sogar wiederholt, welche sie in ihre »Rührung« versetzten. Konnte der Erzähler ihr ein Grausen beibringen, so war sie noch dankbarer. Alle übrigen Theile des Romans durchblätterte sie flüchtig. Denn sie pflegte zu erklären, daß sie keine Zeit habe, sich in den Büchern zu langweilen.“
Frau Scheuermann also möchte „gerührt“ werden, das erwartet sie von einem Buch. Der Verfasser jener Schriften möge sie, so sagen wir heute, emotionalisieren, ihre Nerven zum Vibrieren bringen, nur das unterhält die Leserin, alles andere langweilt und wird ergo wie lästiges Füllmaterial behandelt. Stellen wir uns die vibrierenden Nerven als ein Pendel vor, so schlägt die Scheuermannsche Rührung nach beiden Seiten gleichermaßen aus. Sie ist positiv gerührt, wenn der Liebeskitsch aus den Seiten trieft, es „graut“ sie, wenn gemordet, gebrandschatzt, geschändet, ehegebrochen wird. Mit ihrem Leben hat das natürlich nichts zu tun. Wohl ist Frau Scheuermann ein Kind des „aufgeklärten 19. Jahrhunderts“, hält den Papst für einen Tyrannen, ja, sie beschäftigt sich „nicht selten der Gedanke an die Abstammung des Menschen von dem Affengeschlechte ganz lebhaft“, aber so schlimm ist das auch wieder nicht, denn „doch hing sie mit einer großen Ehrfurcht an dem Lieblingsbuch ihrer Jugend, der biblischen Geschichte, und pflegte sich ihren Kindern als Muster einer fleißigen Schülerin vorzustellen, indem sie den ganzen Schöpfungsbericht noch jetzt auswendig wisse.“
Was Benno Bronner in seiner Criminal=Novelle →„Herr von Syllabus“ (1873) hier über Frau Scheuermann als Konsumentin von „Krimis“ und anderem Schund notiert, kann bis heute als Blaupause für jene Genreleser gelten, die zur „Spannungsliteratur“ nur greifen, um „gerührt“ zu werden. Alles andere ist ihnen herzlich egal. Das Ding mag furchtbar schlecht geschrieben, miserabel geplottet, übel zusammengeleimt sein – Hauptsache, die Sprache transportiert den erwarteten „thrill“ und happyendet, auf dass die vibrierenden Nerven sich beruhigen mögen, das emotionale Pendel zum Stillstand kommt und unsere Leserin in jene Normalität zurückfindet, die sie nur zum Zwecke eines kurzen Ausflugs verlassen hat.
Vielleicht hat Frau Scheuermann in späteren Jahren auch Wilhelm Raabes „Stopfkuchen“ verschlungen, verspricht doch der Untertitel „eine See- und Mordgeschichte“, die bevorzugte Kost also. Hier allerdings hätte Frau Scheuermann viel zum Überblättern gehabt, denn „Stopfkuchen“ ist weder das eine noch das andere. Die „Mordgeschichte“ erfüllt nur eine einzige Funktion: Sie aktiviert die Erwartungshaltung des Lesers, der Leserin – und das textintern, als Teil der Handlung also. Der Titelheld, wegen seiner Körperfülle und ihrer Ursache „Stopfkuchen“ genannt, erzählt aus seiner Lebensgeschichte, Frau und Freund hören zu, allerdings eher gelangweilt, denn Stopfkuchen ist ein Vertreter des Ausschweifigen, des Abseitigen, ein später Jean Paul gewissermaßen oder, ins Negative gewendet, Vorläufer jener aktuellen KrimiautorInnen, die eine 100-Seiten-Story auf mindestens 400 ausrollen müssen.
Dann jedoch erwähnt Stopfkuchen beiläufig ein vor vielen Jahren begangenes, nie aufgeklärtes Verbrechen, einen Mord, und dass er, Stopfkuchen, wisse, „wer es war“ – und sofort schwindet die Langeweile bei seinen Zuhörern, bedrängen sie ihn, doch nun endlich herauszurücken mit der Auflösung. Aber der Erzähler lässt sich Zeit und nicht aus der Ruhe bringen, er erzählt weiter, seine Zuhörer sind gespannt, ja, nicht selten genervt, aber sie hören ihm weiter zu, ihre Nerven vibrieren.
Wenden wir auch das ins Heutige, so wäre Stopfkuchen einer der cleveren Burschen, die „Krimi“ unter den Romantitel schreiben, dann aber eine ganz andere Geschichte erzählen und das Genreübliche nur andeuten, um am Ende routiniert-lieblos-nebensächlich mit der Auflösung die Erwartungshaltung zu befriedigen.
Und noch ein drittes Beispiel, Franz Wellers 1879 erschienener Roman „Der Spion“. Schon der Titel weckt die bekannten Erwartungen. Man beachte auch das Erscheinungsjahr, der deutsch-französische Krieg ist noch lebhaft in Erinnerung, Weller legt auch gleich die entscheidende falsche Spur, indem er einen deutschen Offizier sich in eine unglücklich verheiratete Französin verlieben lässt. Aber damit wäre auch schon Schluss mit dem Spionagethriller. Im folgenden wird fleißig intrigiert, wird entführt, erpresst – das Geheimdienstliche indes entpuppt sich als tragischer Irrtum, als Schlusspunkt einer rührseligen, wenn auch turbulenten und durchaus mit kriminellen Zutaten angereicherten Liebesgeschichte. Doch auch hier wird das Ziel erreicht. Der Leser „bleibt dran“.
Das erinnert uns nun an die Pawlowschen Reflexe, dieses Produzieren von Speichel, sobald das Glöcklein „Krimi“ klingelt. Geändert hat sich daran bis heute, wie schon gesagt, nur herzlich wenig. Wo „Krimi“ draufsteht oder sonstwie suggeriert wird, hat auch „Krimi“ drin zu sein, man stürzt in eine andere Welt – siehe Frau Scheuermann -, man lässt literarische Kriterien literarische Kriterien sein, Hauptsache, das Ding kommt zu Potte, „rührt“ uns, erschreckt uns. So lesen wir auch Liebesromane, SF-Geschichten, Western, alle Literatur, die durch den Aufdruck „Achtung, Genre!“ hinsichtlich der Erwartungen vorgeprägt ist.
Hat sich auch an dieser Grundeinstellung nichts geändert, so haben sich doch die Techniken, mit denen die Erwartungen erfüllt werden, gewissermaßen gemäß des allgemeinen industriellen Fortschritts verfeinert. Die „Kriminalromane“ des 19. Jahrhunderts sind bis zum Auftauchen des berüchtigten Herrn Holmes selten von jener dramaturgischen Windschnittigkeit, die uns gekonnt und dank vorgefertigter Bauteile durch das Spektrum des Gerührt- und Gespanntseins leiten. Spannung wird kaum als Rätseltext inszeniert, das Wer-wars? steht nur ausnahmsweise im Zentrum, die ermittelnde Instanz fehlt oft völlig oder ist beileibe nicht von jener alles ordnenden Souveränität wie in der Nachholmesära. Angesagt sind vielmehr Genre-Bilder, die Tat an sich ist schon grauslig genug, um Spannung zu erzeugen, das psychologische „Setting“ so ungewöhnlich, dass es des Rätsel- und Rateelements ebenso wenig bedarf wie der durchkalkulierten Action und der gezielt in den Text eingestreuten Morde und „cliff hanger“, von falschen Spuren ganz zu schweigen.
Carl von Holteis „Schwarzwaldau“ etwa ist für Agatha-Christie-Fans wohl eine herbe Enttäuschung. Die Leserschaft rätselt nicht über die Tatperson, auch nicht über die Tat selbst, sie bezieht ihre Spannung aus der verqueren Situation, in der sich die Akteure befinden. In Adolf Streckfuß’ „Der tolle Hans“ bleibt zwar der Mörder bis zum Ende unbekannt – aber nur den ermittelnden Instanzen. Die Leser wissen sehr rasch, wer da was zu welchem Zwecke inszeniert hat. Was sie „rührt“, ist eine reichlich kitschige, aber ins Dramatische gewendete Liebesgeschichte, der Thrill ergibt sich aus der unerhörten Tatsache, dass der Täter einem Berufsstand angehört, der gemeinhin nicht mit Morden in Verbindung gebracht wird.
Vielschichtiger ist es bei J.D.H. Temme, der mit den Spannungselementen schon sehr gekonnt umgeht, dennoch meilenweit vom „Thrillerautor“ entfernt ist. In „In einer Brautnacht“ z.B. entsteht Spannung nicht aus der Frage, wer was zu tun beabsichtigt, sondern daraus, OB die Tat wirklich durchgeführt wird. Zu diesem Zweck führt Temme zwei Halbwüchsige ein, Sohn und Tochter des Gastwirts, unter dessen Dach die Meucheltat vollzogen werden soll. Die Kinder merken, dass da was nicht stimmt – doch können sie die Tat verhindern?
Dem „Rätselkrimi“ schon recht nahe kommt Temme in „Mord beim Sandkrug“. Ein Verdächtiger für die Tat ist schnell ausgemacht, die Indizien sind erdrückend, doch Zweifel sind angebracht. War ers, war ers nicht? Die Auflösung dann ist, aus heutiger Sicht, enttäuschend, aus dem Hut gezaubert, wie viele andere aus dieser Zeit auch. Doch geht es eben auch darum gar nicht, viel interessanter ist das Familiendrama, das Temme hier erzählt, das Abgründige einer Beziehung. Die Spannung aber wird sehr wohl schon mit Mitteln des „suspense“, der Vorahnung erzeugt.
Diese Form von „Suspense“ ist aber noch nicht sehr verbreitet, dennoch gibt es sie schon. Im Mittelpunkt aber steht „das Andere“ an sich, die kriminelle Atmosphäre als Kontrast zu den Scheuermannschen Normalitäten. Wer einen Krimi liest, möchte in Angst und Schrecken versetzt werden, aber nicht mehr im Lessingschen Sinne des Geläutertwerdens (Katharsis), sondern aus purer Lust am Abgründigen. Die Inszenierung selbst ist noch nicht perfekt, muss es auch nicht sein. Die schiere Existenz dieses „Anderen“ genügt – doch das wird sich ändern, wie sich generell mit dem technischen Fortschritt alles ändert, alles perfekter, elaborierter wird. Das Fabrizieren von Spannung unterliegt wie das Fabrizieren jeglicher Waren dem Verbesserungszwang. So wie wir uns heute kaum noch vorstellen können, ein drei Kilo schweres, sperriges „Handy“ mit uns zu schleppen, so auch nicht, durch das einfache Vorzeigen von Abgründen in irgendeiner Form angespannt zu werden. Der Trend ging auch im Krimi zum durchdachten Design. Und genau da stehen wir heute. Mit einer „anspruchsvollen Erwartungshaltung“, die doch im Gegensatz zu den frühen Krimis deren atmosphärisches Prickeln nur selten erreicht. Das ist der Preis, den wir für Massenproduktion zahlen müssen.
Ja, Spannung ist körperlich. Der von der entsprechenden Literatur erwartete thrill hatte sein Gegenstück in der durchaus auch körperlich erfahrenen Herausforderung der zeitgenössischen Technik, die der Arbeiter in den neuen Fabriken und der Bürger während der Eisenbahnreise mit ihren Ängsten und ihrem wohligen Geschaukeltwerden (siehe Schivelbusch) erlebte. The Sensational Novel und The Sensational Drama im England der 1860er und 70er Jahre sind Stationen auf dem Weg der Kriminalliteratur. Der Begriff „sensational“ wurde schon von den Zeitgenossen in seiner doppelten Bedeutung gesehen: das Sensationelle und das „preaching to the senses“.
Grüße
luju
So ist es, lieber luju. Vielleicht auch das entscheidende Kriterium, die allgemeine Spannung, die eigentlich jeder Literatur immanent sein sollte, von der des Krimigenre zu unterscheiden. Wenn ich Proust lese, was durchaus spannend sein kann, rührt es mich geistig-intellektuell, wenn ich Krimi lese – körperlich? Ich überlege gerade, ob das wirklich stimmt…eben dacht ichs noch…jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher…
bye
dpr
Natürlich kann auch andere Lektüre „spannend“ sein, lieber dpr. Proust kenne ich nicht, aber ich lese mit Vergügen Joyce. Ein erhöhter Pulsschlag bleibt bei dieser Lektüre allerdings aus. Wenn er beim Krimi ausbleibt, mag er mir immer noch gefallen aber er wird mit Sicherheit von der Gemeinschaft der Krimileser verworfen werden. Oder stimmt das alles nicht? Ich müsste die nächste Joyce-Lektüre mal mit einem Blutdruckmesser versuchen.
luju
Tun Sie das, mein lieber luju! Und melden Sie mir die Resultate! Es gibt eine Reihe von Sachen, bei denen wuchs meine Spannung beim Lesen körperlich (Unruhe, hin und her laufen), und zwar immer dann, wenn ich die Struktur durchschaut hatte. Natürlich Nabokov, „Pale Fire“ etwa. Döblin hat in „Die drei Sprünge des Wang Lun“ etwas Mitreißendes, man gerät beim Lesen außer Atem.
Andererseits: Krimis. Solche, bei denen man in einen Sog gerät, ich erinnere mich jetzt spontan an einige Sachen von Himes und Woolrich, auch Fred Vargas kann das. Hat mit konventioneller Spannung wenig zu tun und mag von der krimilesenden Hauptgemeinde auch nicht goutiert werden. Ist aber so.
bye
dpr
Ach ja: Und dann natürlich die Sachen, die körperlich wehtun. Gerade wieder so was glücklich zu Ende gebracht.
was für ein joyce, was für ein proust?
* g e s p a n n t
Bei Joyce, Liebste, hast du die Auswahl zwischen dem Ulysses und Finnegans Wake, letzteres Spannungsliteratur sondergleichen, wenn mans mag. Proust natürlich die Recherche. Gut, man kommt schwer rein, aber wenn man erst mal drin ist: Spannung pur! Aber lies erst mal Nabokov.
bye
dpr
*hat soeben einen Mordanschlag auf dich verübt, siehe morgen
ich mag nabokov nicht. ich mag auch thomas manns venedigdingsda nicht. ich mag keine du weißt schon.
*bitte DAS nicht ausdiskutieren
**findet weder den ulysses noch finnegans wake spannend
Nein, wird nicht ausdiskutiert. Ich bin nur tief traurig, dass du dir das entgehen lässt…den größten Prosaisten des 20. Jahrhunderts…so unsagbar traurig…gebt mir eine Zwiebel, ich möchte heulen…
bye
dpr
du verträgst doch keine zwiebeln …
*mahnt
ja, nabokov ist ein guter prosaist. ein gutes beispiel für einen hervorragenden autor mit falschem thema. und thomas mann grauenvoller kitsch (venedig).
mit rick moody ging es mir letztens auch so. ein grandioser autor, sehr sogartig, aber das thema so abseitig, dass ich nach ein paar seiten aufhörte. ich habe einfach keine lust dazu.
**mordanschlag heute?
Nur zur Information, liebste, leider zur Zeit etwas lädierte Anobella: Nabokov hat nicht nur „Lolita“ geschrieben…und „guter Prosaist“ ist in etwa so wie „Pablo Picasso hätte leicht den Kunstförderpreis der Kreissparkasse Wunsiedel gewinnen können“.
bye
dpr
DU hast was von prosaisten gesagt …
*wird noch verrückt mit dpr
**jeder satz ein disput
… und für mich ist er nicht mehr als ein guter prosaist, keineswegs ein brillanter.
ich lese gern WAS ANDERES von nabokov, her damit, die qualität seiner texte entgeht mir DURCHAUS nicht.
ABER … ***besteht auf ihrem standpunkt … gute prosa gibts genug, dazu brauche ich weder den nabokov noch den moody, obwohl DER in meinen augen brillante 12 seiten über das licht geschrieben hat, das sich jeden morgen von ost nach west über die erde wälzt (schade, dass das nicht in einer leseprobe zu finden ist).
danach wurde er mir entschieden zu splatterartig.
****differenziert
*****lässt sich von autoren nicht die themen aufdrängen
Lektüreempfehlungen Nabokov: „Die Gabe“ (aus der russischen Periode), „Professor Pnin“ (amerikanische Periode). „…keineswegs ein brillanter…“: Nabokov, das erkenne ich mit Entsetzen, wird immer zwischen uns stehen, der Schatten, der auf unsere Beziehung fällt, das Schwert, das am seidenen Faden über uns hängt…
bye
dpr
In Proust schlecht rein? ich nicht: bin gleich reingefallen.
Ich empfehle noch Musils „Mann ohne Eigenschaften“ oder seine „Drei Frauen“.
Und Arno Schmidt. Sowieso.
* ist mit dpr einer Meinung, oft.