Vorbild Studer oder Der ideale Ermittler

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Er ist ein kleiner Beamter, eher bieder als extravagant, er hat Mitgefühl mit den Zukurzgekommenen, entwickelt väterliche Gefühle, kann aber auch mächtig mit der Faust auf den Tisch hauen. Er ist verheiratet, hat eine Tochter, raucht Zigarillos. „Innere Dämonen“ hat er wohl nicht; vielleicht den, dass ihn einst eine „Bankenaffaire“ um die Karriere gebracht hat?

Klar, wir reden vom Wachtmeister Studer, Friedrich Glausers Ermittler. Seitdem sind viele, viele Krimis aus den Druckereien entlassen, fast ebenso viele Ermittler und Ermittlerinnen in die Welt gesetzt worden, aber nur die wenigsten kommen, was ihre Biografie, ihre Befindlichkeit angeht, so kümmerlich daher wie dieser Studer. Dessen persönliche Zurückhaltung hatte Methode. Glauser war es nicht um diesen Ermittler zu tun; ihn interessierte das, was ermittelt wurde, vor allem aber: wo es ermittelt wurde. Bei den herzlosen Herren und den geduckten Knechten, den Skrupellosen und den Skrupulösen, den Insassen von Villen und Irrenhäusern.

War Studers Charakter nicht mehr als eine biografische Notiz, so kommt der moderne Ermittler scheint’s nicht mehr ohne dickleibige Biografie aus. Er ist problembeladen, ständig am Grübeln, er leidet an der Welt und an sich und manchmal auch daran, dass er nicht leidet, wo doch alles und jeder leidet. Doch seltsam: So dick wie hier aufgetragen wird, so schnell hat man sie auch schon wieder vergessen. Während Studer in Erinnerung bleibt.

Die Konzentrierung auf das Innenleben der ermittelnden Person hat viele Gründe, von denen der, dass wo kein Plot ist, wenigstens viel Tiefsinnig-Psychologisches sein muss, noch der banalste ist. Wichtiger wohl der, dass durch die Verzahnung von Verbrechen, Verbrecher und Ermittlerpsyche jene Dichte erzeugt werden soll, die (nicht nur) heutzutage als „engagierte“, sprich: hochwertige Literatur durchgeht. Der Ermittler ist Teil jener Verstrickungen, die er aufzudröseln hat.

Nun, das war Studer auch. Aber das brauchte Glauser nicht seitenlang zu explizieren. In Studers Gehirn sehen wir so gut wie nie. Wir lesen, wie er reagiert, wie lesen, wie andere auf ihn reagieren. Das genügt. Die Überfrachtung des Ermittlers mit allerlei „Abgründen“ (säuft, hurt, ist einsam, hat eine rauschgiftsüchtige Tochter, einen Sohn auf kriminellen Abwegen, zweifelt an der Politik, der Moral etc.) steht vielmehr für ein tiefes Misstrauen, das der Autor seiner Geschichte und ihrer Dramaturgie entgegenbringt. Das kennen wir aus dem Deutschunterricht. Wenn uns zu einem Thema nichts einfiel, haben wir entweder ein weißes Blatt abgegeben – oder bis zur Besinnungslosigkeit drauflos geschrieben. Ersteres war ein sicheres „Ungenügend“, letzteres hielt die minimale Chance am Leben, den Lehrer durch schiere Masse zu erschlagen und ihm wenigstens ein „Ausreichend“ zu entlocken.

Wagen wir folgende These: Je mehr ein Autor seinen Lesern zutraut, mit desto sparsameren Strichen zeichnet er seinen Ermittler. Okay, das klingt wie eine Anleitung zum wirtschaftlichen Suizid; denn ein Autor, der seinen Leser wenig zutraut, wird in den Lektoraten bevorzugt, von der Kritik gehätschelt, von den Konsumenten konsumiert. Dort wo es wenig für das Gehirn zu tun gibt, wo die Paraphrase das Selbstdenken längst ersetzen musste, hat jedes andere Konzept schlechte Karten. Wer Glauser liest und nicht dabei denkt, kann ihn nicht verstehen; der kann nur wiederkäuen, das Offensichtliche beschreiben. Und wird scheitern. Wer Mankell liest und ebenfalls nicht dabei denkt, scheitert nicht. Er hat das getan, was ihm der Roman vorgelebt hat: friss und scheide wieder aus.

Was steckt dahinter? Tatsächlich „eine dumme Verschwörung von Kritikern, „amazon“-Rezensenten und Lektoren im Auftrag ihrer Marketing-Abteilung, die uns die Notwendigkeit einer ermittelnden Instanz aufschwätzen“, wie es →Anne Chaplet (siehe dort Eintrag vom 23.7.07) vermutet? Schön wär’s ja. Die Wirklichkeit sieht schlimmer aus: Es ist pure Gewohnheit, es ist die in Fleisch und Blut übergegangene Philosophie, ein Buch müsse sich nur saftig und schwungvoll und möglichst noch in Rekordzeit („Konnte das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen!“) konsumieren lassen, möglichst keinen „gewöhnungsbedürftigen Schreibstil“ haben, dafür aber Ermittler, „die einem ans Herz wachsen“ und jedes Fragezeichen geradebiegen, bis man vor lauter Ausrufezeichen die Sprache nicht mehr sieht.

Aber zur Klarstellung: Eigentlich reden wir hier nicht pauschal über „die ermittelnde Instanz“. Wir reden über die DIKTATORISCHE ermittelnde Instanz, die uns am Gängelband führt, die uns mit der Nase auf „die Botschaft des Buches“ stößt, die mit allen marktgängigen Problemen und sonstigen Themen so vollgepackt ist, dass sie im wirklichen Leben längst unter der Last ihres eigenen Ich zusammengebrochen wäre. Es gibt wundervolle Beispiele, wie Krimis, die um die ermittelnde Instanz aufgebaut sind, prächtig funktionieren können. Erwähnen wir Astrid Paprottas Ina-Henkel-Romane, natürlich auch Sjöwall-Wahlöö, deren Protagonisten seismografisch auf das reagieren, was sie in der Welt des Verbrechens und der Verbrechensbekämpfung erfahren müssen und sich konsequent weiterentwickeln. In einer ganz anderen Ecke steht Keatings Inspector Ghote, dessen Tun und Denken die indische Gesellschaft geradezu emaniert.

Hier entstanden tatsächlich jene „Gesellschaftsromane“, von denen Anne Chaplet als Alternative spricht: „Ich glaube immer noch, daß Krimis heute am besten sind, wenn sie Gesellschaftsstudien sind, allerdings anders als es die Gesellschaftskritiker unter den Krimiautoren konzipierten.“*

Vollkommen richtig; aber interpretationsbedürftig. Denn was „die Gesellschaftskritiker unter den Krimiautoren konzipierten“, ist so einfach nicht zu sagen. Hammett etwa, dessen Konzept der Überwindung der tradierten Dichotomie von Gut und Böse wegweisend war (und dessen Ermittler übrigens meistens als biografische Personen so karg sein mussten, dass ihnen der Autor manchmal nicht einmal einen Namen zugestanden hat), schrieb nicht nur „studienhalber“. Er fungierte sehr wohl als Kritiker, wenn man Kritik als im eigentlichen Wortsinn „Analyse“ versteht. Auf ihn trifft explizit NICHT zu, was Anne Chaplet so formuliert:

„Mord ist kein stellvertretender gesellschaftlicher Akt, sondern eine hochpersönliche Angelegenheit, nicht anders als ein Scheidungsverfahren, in dem es ebenfalls oft keine klaren und eindeutigen Kategorien von Schuld, Opfer und Täter gibt.“

Chandlers inzwischen geflügeltes Wort, Hammett habe den Mord denjenigen zurückgegeben, die Grund haben zu morden, bedeutet gerade nicht eine „Individualisierung von Verbrechen“, sondern im Gegenteil ihre „Vergesellschaftung“. Wer einen Grund hat, verweist damit auf die Umstände, die diesen Grund hervorbrachten. Die aber bewegen sich nicht nur innerhalb des Privaten, sie weisen weit darüber hinaus ins Gesellschaftliche.

Anne Chaplet hat aber dort Recht, wo Mord lediglich als Vehikel für wohlfeile Gesellschaftskritik missbraucht wird, also immerhin in ca. 95 von 100 Fällen. Hier agiert der Ermittler als Fremdenführer, was er uns erzählt, ist aufbereitete Information. Gravierender jedoch: Während uns dieser Führer etwas über die Räume eines interessanten Gebäudes und ihre Geschichte erzählt, können wir unseren Blick nicht von ihm – oder ihr lassen. Was für ein interessanter Mensch! Ob er wohl Probleme hat? Was isst sie zum Frühstück? Wo kauft er seine Kleidung? Ob ich sie nachher zum Essen einladen sollte? Derweil rauschen die Fakten ungebremst durch die Ohröffnungen, und wenn wir das Gebäude verlassen, wissen wir nur: Aha, ein Schloss war das. Irgendwas ist dort in den letzten 300 Jahren passiert. Und jetzt weiter zum Dom.

Natürlich sind Krimis „Gesellschaftsromane“. Sie sind es vielleicht so, wie „Buddenbrocks“ ein Gesellschaftsroman ist oder „Der Zauberberg“, in denen auch ermittelt wird – durch den Leser. In Krimis hilft uns dabei der von Anne Chaplet genannte „existentielle Druck“, die Fassaden zum Einsturz zu bringen, hinter denen sich die Gesichter und Mechanismen der Gesellschaft verbergen. So gesehen ist auch „Der Zauberberg“ ein Gesellschaftsroman, der mit den Mitteln des Krimis arbeitet, ohne nach den Genrekonventionen auch nur in den vagen Verdacht zu geraten, einer zu sein. Hans Castorp, der „Zauberberg“-Protagonist ist existentiell bedroht – durch Krankheit. Es ist also eine sehr intime, private Bedrohung, die aber im Verlauf des Romans, wenn andere bedrohte Existenzen auftauchen, immer mehr aus diesem privaten Ruder läuft. Am Ende ist das bedrohte Individuum Castorp Teil der großen Masse und verschwindet in der größten existentiellen Bedrohung überhaupt: dem Ersten Weltkrieg. Das ist, noch einmal, kein Krimi. Aber einen Krimi, der mir genau diese Ermittlung plausibel machen würde, könnte man nicht laut genug preisen.

Krimis ohne Ermittler. Und jetzt die bittere Wahrheit: Krimis ohne Ermittler kann es gar nicht geben. Denn selbst wo er oder sie denn fehlen würde, hätten wir ihn oder sie auf jeden Fall: den Autor, die Autorin. Sie führen uns durch die Geschichte, sie lenken uns, sie schließen Räume auf oder lassen Räume verschlossen, sie legen Spuren, falsche und richtige. Literatur ist immer das Ergebnis von Ermittlungen, Autoren mithin Ermittler, und manchmal geistern sie sogar durch den Text. Bei den dominierenden fiktiven Ermittlerinstanzen, diesen mit allerlei Fleisch behängten „guides“ handelt es sich zwar nicht immer über Reproduktionen der Autoreninstanz, meistens aber vollenden sie deren Werk – und das ist entscheiden zuviel des Guten, das ist die Aufgabe der Leserinstanz.

Bei Glauser, dem Heim- und Anstaltszögling, der Gefängnisse und „psychiatrische Anstalten“ kannte, identifizieren wir sofort das autobiografische Fundament seiner Romane. Aber Glauser ist nicht Studer. Er ist noch nicht einmal „Schlumpf, Erwin“, der arme Gesell, obwohl der ein Porträt des Autors als junger Mann sein könnte, teilweise wenigstens. Glauser hat ein Szenario ermittelt, in dem man sich bewegen kann, so wie sich der Autor wahrscheinlich in ihm bewegt hat. Eine Reminiszenz an die Vergangenheit, eine Wunschvorstellung vielleicht, die aber letztlich nicht in Erfüllung geht. Die Rolle des Ermittlers ist eindeutig. Er zeigt uns etwas, ohne es groß zu erklären. Ein wortkarger Cicerone, der die Gesellschaft zum Reden zwingt. Und uns zum Denken.

* zum Thema „Krimi = Gesellschaftsroman“ sei auch auf →Gabriele Wolffs Aufsatz „Das hässliche kleine Entlein der Literatur? – Warum der Krimi die Idealform des Gesellschaftsromans ist“ verwiesen. Zitat: „Der überforderte Detektiv, der wie in einem Roadmovie von Station zu Station, von Bedrohung zu Bedrohung geschickt wird, der im Kampf gegen die Gefahren einer undurchschaubaren komplexen Welt fast untergeht, der nur sich selbst treu bleibt und loyal nur gegenüber seinem Auftraggeber, ist ein Topos, den restlose und logische Aufklärung geradezu widerlegen würde. „ Was einen schönen Übergang zur Frage schafft, ob in Krimis immer „alles aufgeklärt“ werden muss – und von wem.

9 Gedanken zu „Vorbild Studer oder Der ideale Ermittler“

  1. Bravo!

    Nur: „Bei Glauser, dem Heim- und Anstaltszögling, der Gefängnisse und „psychiatrische Anstalten“ kannte, identifizieren wir sofort das autobiografische Fundament seiner Romane.“ Das können wir ja nicht aus den Romanen. Sondern nur, weil wir seine Biografie kennen.

  2. Hast Recht, Schorsch. Ich gehe inzwischen aber davon aus, dass so gut wieder jeder Leser diese Biografie in Umrissen kennt. Wird ja auch meistens im Anhang seiner Romane erwähnt.

    bye
    dpr

  3. Welch grausiger Zustand geistiger Umnachtung zwang mich, o teure Freunde, just zu dieser Tat? Wars pures Mitleid? Höhere Gewalt? Ein Hauch von Einsicht gar, dass diese Kreatur nicht nur geprügelt durch ihr irdisch Dasein ziehen solle, nein, einen Augenblick des Glückes zu genießen ihr nicht für alle Zeit verwehrt sein möge – ein kurzes Wort nur – „DU HAST RECHT“ – schon windet sich die Kreatur in Wonnen. Oh Götter, welch ein Bild!
    @Anobella: Du hast auch Recht!

    bye
    dpr

  4. „entwickelt väterliche Gefühle, kann aber auch mächtig mit der Faust auf den Tisch hauen“: ‚und‘, nicht ‚aber‘, lieber dpr! (Aber ich bin halt Nachkriegskind und mittlerweile Vollwaise.)

    Beste Grüße!

  5. @dpr: sehn se, lieber dpr, drum wär ich (aber nur auf ernsthaftes Befragen hin) eher Hesse- als Glauserfan.

    Aber was soll’s (ein Apostroph muß sein, dann verschwinde ich wieder in das Schweigen).

    Beste Grüße!

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