Krimijahr 2008: ein Rückblick

1. Der Mimikrymi

Welch erhebender Moment! So müssen sich die großen Entdecker gefühlt haben, als sie zum ersten Male ihre Füße auf noch nicht erforschten Boden setzten! – Vor Monaten schon hat wtd eine Expedition ausgerüstet und auf die Suche nach neuen kriminalliterarischen Kontinenten und Subgenres geschickt. Jetzt ist die Mannschaft, entkräftet aber glücklich, zurückgekehrt und präsentiert stolz die Frucht ihres unermüdlichen Forschens in einer rauen und lebensfeindlichen Umwelt: den Mimikrymi!

Was aber ist das für ein exotisches Eiland, auf das unser Schiffchen in den unendlichen Weiten der literarischen Ozeane stieß? Nun, Mimikrymis sind all jene Krimis, die etwas zu sein vortäuschen, das sie gar nicht sind. Wir reden von astreiner Spannungsliteratur, die uns scheinbar geradlinige Geschichten erzählt und hinter deren offenkundiger Gestalt sich eine gänzlich andere, nicht weniger spannende Geschichte entwickelt. Mimikry also.

Mimikry? Das ist, so belehrt uns Wikipedia, „eine angeborene Form der Tarnung, die zur Täuschung eines Signalempfängers durch ein nachgeahmtes − gleichsam „gefälschtes“ − Signal führt, das für den Empfänger eine bestimmte Bedeutung hat.“ – hinter einem Mimikrymi verbirgt sich ergo nicht die bevorzugte Bettlektüre ansonsten gewiss reizender Damen, sondern ein Text, der auf seiner inhaltlichen, kompositorischen oder sprachlichen Seite so daherkommt, als sei er genau das, was Genreleser von Krimi erwarten. Und bevor man sich versieht, ist man düpiert. Mit „mehr als Krimi“ hat das nichts zu tun. Eher schon damit, dass solche Mimikrymis beweisen, wie literarisch flexibel das Genre sein kann.

Unsere Expedition hat einige Ureinwohner des bis dato völlig ignorierten Subgenres angetroffen, mit billigen Perlen behängt und ausgefragt. Als erstes Matt Ruff, dessen „Bad Monkeys“ 2008 erschienen ist. Das Buch gibt vor, ein dröhnend witziger Roman um eine junge, sehr phantasiebegabte Frau zu sein, die vorgibt, einer Organisation zur Bekämpfung des Bösen („schlechte Affen“) anzugehören. Hinter der Fassade jedoch verbirgt sich eine sehr traurige Geschichte um Traumata und ihre Verdrängung.

Ein weiterer Bewohner von Mimikrymi ist der Schwede Mikael Niemi. Er hat mit „Der Mann, der starb wie ein Lachs“ einen prototypischen Schwedenkrimi produziert. Ein alter Menschenschinder und Rassist wird bestialisch ermordet, eine junge Kommissarin mit existentiellen Problemen wird eingeflogen – und schwupps entwickelt sich das Unvermeidliche… Denn wir befinden uns bei einer finnischstämmigen Minderheit im Norden Schwedens, es werden gar schröckliche Dinge staatlicherseits getan, die Story plätschert irgendwie dahin – und dahin – und dahin – und plötzlich befinden wir uns in einer Allegorie, die Menschen und Dinge und Zeiten verwirren sich, Wirklichkeit taucht in Übersinnliches, Übersinnliches wird wirklich – und am Ende haben wir einen faszinierenden Text über Identität und Nichtidentität.

Auf Mimikrymi (so heißt die Insel übrigens in der merkwürdigen Sprache ihrer Ureinwohner; Käptn dpr hat sie sofort in „König-Anobella-Insel“ umgetauft) trafen wir auch Mister Rex Miller. Sein „Fettsack“ ist ein Serienkiller-Kracher comme il faut, der Titelheld ein riesiger, mordlüsterner Fleischberg… So jedenfalls haben uns all jene berichtet, die bislang an der Insel vorbeisegelten, nicht aber auf ihr landeten. Hätten sie es getan, wäre ihnen nicht entgangen, dass „Fettsack“ auch eine Liebesgeschichte erzählt. Der Ermittler trifft auf die Frau eines der Opfer, die auf das Konto des Fettsacks gehen. Sie verlieben sich ineinander. OHNE das Bestialische, das durch und durch Schlechte hätten sie sich nicht gefunden. Das Gute entspringt also einer Laune des Bösen, und das ist in seiner Banalität nun wirklich abgründiger als jeder deviante Monsterdarsteller.

Doch, es sind sehr absonderliche Exemplare der Gattung Kriminalliteratur, die unsere Expedition da entdeckt hat. Bücher, die uns mit Lustigem, Konventionellem oder Blutrünstigem ködern und peu à peu in ganz andere Geschichten hineinziehen. Tarnung. Mimikry. Weitere Beispiele? Nun, Jerome Charyns „Citizen Sidel“. Wird als „Krimi zum US-amerikanischen Präsidentenwahlkampf“ vermarktet. Und ist: eine Typographie des all-american hero, ein Sprung in die Seele eines Mythos, in dem alle Zeiten ineinander verwoben sind. Oder Ross Thomas, „Am Rand der Welt“. Turbulentes Gaunertreiben? Auch. Aber eigentlich: Eine luzide Geschichte darüber, wie große Politik funktioniert.

So schleichen sie sich an. Harmlos. Eindeutig. Wir nähern uns ihnen arglos. Krimifutter. Und dann werfen sie ihre zum Zwecke der Täuschung angelegte Kleidung plötzlich ab, zum Vorschein kommt die Fratze der Literatur und packt uns. Verschlingt uns…

4 Gedanken zu „Krimijahr 2008: ein Rückblick“

  1. aber „fettsack“ ist kein splatter oder so … gell … also nicht nur so eine ekelorgie … um der ekelorgie willen … die alles an ekelorgie noch mal überbieten will … was bisher dagewesen ist?

    *vorsichtig
    **sex, lügen und videos auf arte
    ***“was gefällt dir an der ehe?“

  2. Keine Ekelorgie um der Ekelorgie willen. An der „Ehe“ (? Du meinst die Lovestory in „Fettsack“,nehme ich an), gefällt mir, wie sie eigentlich zustandekommt. Aber kannst du bald selbst nachlesen. Morgen, allerspätestens übermorgen geht ein RIESENWEIHNACHTSBÜCHERPAKET auf den Weg!

    bye
    dpr

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