Aus der Werkstatt, 1

Ein Krimi ist mehr als ein Plot. Mehr als geschickte Dramaturgie, mehr als ein sympathischer Protagonist, mehr als dosierter Thrill. Er ist manchmal richtige Denkarbeit. Wie funktioniert das genau? Es gibt viele Herangehensweisen, und eine soll in dieser kleinen Reihe der Werkstattbetrachtungen näher erläutert werden. Und zwar „live“.

Denn mein neues Opus existiert bisher nur im Kopf. Nein, nicht ganz exakt. Es gibt bereits Schreibproben, etwa zwanzig Seiten, die allein dazu dienen, eine stilistische Form zu entwickeln. Aber das ist nicht der erste Schritt. Der findet, wie gesagt, im Kopf statt, und ist alles andere als eine spontane Idee. Schon vor Jahren habe ich mir die Umrisse eines Plots notiert, der Grundlage eines „SF-Krimis“ der besonderen Art werden sollte. Die Geschichte spielt in der Zukunft, in der Zukunft jedoch geht es zu wie in der Vergangenheit. Und weil sich Zukunft und Vergangenheit irgendwo verbinden müssen, sollte es im Resultat ein Text über die Gegenwart sein.

Ziemlich theoretisch, hm? Und erste praktische Versuche endeten immer mit der Erkenntnis, dass irgend etwas fehlte, die Geschichte einfach nicht Fahrt aufnahm. Neu ist das nicht. Auch der Roman, den ich gerade fertig geschrieben habe, „Arme Leute“, hat ein ähnliches Schicksal hinter sich. Es existieren Fragmente, zumeist zwischen 30 und 80 Seiten, die irgend wann versandeten. Ganz nett, aber beileibe nicht das, was ich mir vorgestellt hatte. Die entscheidenden Hinweise kamen von zwei netten Damen, beide Kolleginnen, beide Meisterinnen des perspektivischen Schreibens. Versuch doch mal die Ich-Perspektive, die streng subjektive, meinten sie, ohne die mißlungenen Fragmente zu kennen. Und das wars. Plötzlich schrieb sich die Geschichte von alleine. Na ja, fast.

Beim neuen Text (der noch keinen richtigen Titel hat; wir wollen ihn deshalb vorläufig N.N. nennen) kam mir die – hoffentlich – entscheidende Idee selbst. Das heißt: Es waren eigentlich zwei. Am Anfang stand die Überlegung, dass dort, wo es um Zukünftiges und Vergangenes geht, man von einem „historischen Roman“ sprechen kann. Der im Jahre 2108 spielt und eine Welt zeigt, die auf den Stand des 19. Jahrhunderts zurückgefallen ist. Und weil ich mich mit letzterem nicht nur in kriminalliteraturgeschichtlicher Hinsicht bekanntlich intensiv beschäftige, sollte dieser Hauptstrang der Erzählung akkurat im Stil des 19. Jahrhunderts geschrieben werden.

Ja, das sagt sich so leicht. Aber auch das19. Jahrhundert hatte nicht nur EINEN Stil. Welchen nehmen wir also? Den besten, natürlich, den von Herrn Temme. Vor allem seine Fähigkeit, Dialoge zu schreiben, haut mich bis heute, da ich doch einige tausend Seiten von ihm aufmerksam gelesen habe, immer noch um. Also, Entscheidung: Wir schreiben wie Herr Temme.

Na ja, nicht ganz. Die ersten 15 Seiten, die ich nun zu schreiben begann, waren eine Fingerübung, die Aufschluss darüber geben sollte, ob ich wirklich wie Herr Temme schreiben kann. Ja, konnte ich, ist auch nicht so schwer, der Mann und seine Stil sind unverwechselbar. Und so beginnt die Geschichte damit, dass ein „Criminalrichter“ in ein Kaff kommt, in dem ein Mord geschehen ist. Er kommt, natürlich, mit der Postkutsche. Er beginnt zu ermitteln, er lernt das Kaff und seine Bewohner kennen, er klärt den Fall auf. So hätte Temme das gemacht.

Aber das wollte ich nicht, das durfte ich nicht. Ich brauchte eine zweite Ebene, eine, auf der sich Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart begegnen sollten. Also brauchte ich einen zweiten Protagonisten, einen, der „ich“ sagt… eine Überlegung, die dazu führte, den „Criminalrichter“ DOCH in die 3. Person Singular zu versetzen, obwohl auch er im Probiertext zunächst als „Ich“ daherkommt. Doch zweimal „Ich“? Könnte man machen, aber im Moment neige ich nicht dazu.

Was passiert nun auf dieser zweiten Ebene? – Genau das kann ich jetzt nicht verraten, es würde die Spannung wegnehmen, bevor der Roman auch nur ernsthaft begonnen wurde. ICH weiß natürlich, was dort passiert, wie die Dinge zusammenhängen, wie sich die Fäden endlich miteinander verknüpfen. Der Leser weiß es lange Zeit nicht. Jedenfalls nicht exakt. Er darf seine Vermutungen anstellen, er muss es sogar, denn dieser zweite Strang ist sehr mysteriös, allein deshalb, weil er augenscheinlich nicht im 19. Jahrhundert spielt. Es beginnt damit, dass ein Mann seinen Laptop hochfährt und seine Emails abruft…

Mit diesen beiden Strängen hätten wir sie also zusammen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das sind die formalen Voraussetzungen. – Und gleich werden sie auch schon wieder infrage gestellt. Hätte das Doppel-Ich wirklich seine Vorzüge? – Und gleich fallen mir etliche ein- Beginne ich nicht besser als Temme-Imitator und entwickle diesen Stil dann, quasi „historisch“ weiter, sozusagen als einen Querschnitt durch die Geschichte des Kriminalromans? Würde mich reizen, sehr sogar, würde auch zum Vergangenheits-Gegenwarts-Zukunfts-Konstrukt passen… Andererseits: zu gewollt? Zu künstlich? Und: Will ich wirklich auf Temmes Spuren wandeln? Nicht meine eigene Form des eher distanzierten, sehr ökonomischen Erzählens entwickeln?

Man sieht also: Ich bin noch mittendrin in den Formalitäten. Die Story selbst spielt sich als Endlosbank aber schon in meinem Kopf rauf und runter. Mit ständigen kleinen Veränderungen…

8 Gedanken zu „Aus der Werkstatt, 1“

  1. ist das nicht gefährlich, hochgezüchtete Konstruktion im Kopf meine ich, falls sich plötzlich Kreuzungen auftun, bei denen man partout nicht mehr weiß, welcher Weg der richtige, geschweige denn der beste ist. Außerhalb des Kopfes, also wenn man real vor der Kreuzung auf dem Papier steht, gibt es ja Inspirationsquellen wie ein Lichtschein am Ende einer Straße, ferne Geräusche, ein unwirtliches oder einladendes Pflaster. Oder die eigene Stimmung. Oder schlichte „Sachzwänge“, Zufälle und Widrigkeiten. Im Kopf ist hingegen eine perfekte Kreuzung möglich und könnte dazu führen, wie gelähmt auf der Verkehrsinsel zu verharren. Oder aber eine vermeintlich optimale Entscheidung zu treffen, der man später quasi blind wie einem Navigationssystem folgt ohne Rücksicht auf die reale Welt, die sich schließlich beim Schreiben auftut.

  2. Ach, gefährlich ist alles, mein Lieber. Kopfkreuzungen haben im Gegensatz zu realen den Vorteil, dass man sie sofort und bequem ohne umständliche Baugenehmigung verändern kann. Nicht das Schreiben beherrsche den Kopf, sondern umgekehrt.

    bye
    dpr

  3. na ja. Aber erinnert mich an Glaubensfragen a la Designerwein-Terroirwein. Exakt kalkuliertes Produkt gegen eines, das unter ständiger Berücksichtigung gewachsener (natürlicher&kreativer) Bedingungen entsteht. Kann beides genial sein, Glaube nicht nötig.

  4. Nein, Missverständnis. Erst einmal glaube ich nicht an Literatur, die „unter natürlich gewachsenen Bedingungen“ entsteht. Okay, Glaubenssache. Ich glaube auch nicht an Designerliteratur. Ich WEISS – für mich – aber, dass Schreiben ohne Denken nícht funktionieren kann. Andererseits schätze ich durchaus den spontanen Einfall. Manchmal geht das so weit, dass dadurch ein ganzes Denkkonstrukt ins Wanken geraten kann. Kurz: Ich denke beim Schreiben und schreibe beim Denken. Bis zum Schluss. Das ist keine willkürliche Methode. Um mir die zu erarbeiten, habe ich JAHRZEHNTE gebraucht.

    bye
    dpr

  5. natürlich gewachsen etc. bezog sich auf den Wein und ich meinte es im im übertragenen Sinne. Aber nicht einfach als spontane Einfälle, sondern als Situation „bei den Dingen“, die möglicherweise eine überlegenere Logik oder auch Tiefe provoziert, als es das abgeschottete Hirn vermag. Eben so: „Ich denke beim Schreiben und schreibe beim Denken.“ So dialektisch eben.
    Die Kehrseite ist – und damit meine ich selbstverständlich nicht Ihre Methode, sondern was mir zu dem Thema einfällt – wenn sich ein Plan verdinglicht und der Text zwanghaft dem Plan folgen muss. Dieses Problem ist gar nicht so harmlos oder akademisch, da in manchen Verlagen Eposees eine Art Fetisch zu sein scheinen.

  6. Dein Konzept überzeugt mich auch marketingtechnisch:

    Ein Plagiatsprozess gegen die Erben des Herrn Temme wird öffentliche Aufmerksamkeit nach sich ziehen. Das Problem wird darin liegen, ihn einerseits ausreichend zu kopieren, damit es zu dem Prozess kommt, aber nicht zu sehr, um den Prozess nicht zu verlieren. Schwierig. Vielleicht fragst du mal bei der Schenkel nach, wie man das hinbekommt.

    Interessantes Thema übrigens.

  7. Respekt, Thomas, du schaust mitten in meine finstere Seele! Beim nächsten Krimi, den „Armen Leuten“, werd ich mir übrigens vor Publikum ein Ohr abschneiden, weil der Roman damit beginnt, dass ein Ohr abgeschnitten wird. Und ich hab ja zwei. Also… Wo ich dich gerade hier so schön antreffe: Du bist dabei? Den Tex? Der mit dem vielen Blut? Bis 15. April?

    bye
    dpr

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert