Machen wir uns nichts vor. Der gemeine Leser von erzählender Literatur sucht das Affirmative. Wenn ich ans Meer fahre, sollen gefälligst die Wellen rauschen, wenn man mir Tide bis zum Abwinken verspricht, dann aber bitte Ebbe und Flut vom Feinsten. So ist das Leben eben: eine einzige Bestätigung dessen, was ich irgendwann einmal zu meinem Ideal erkoren habe, damals, als ich noch jung und dumm war (gar nicht negativ gemeint; wer jung ist und nicht dumm, der kann nicht jung sein. Aber Dummheit definiert sich hier als der Zustand vor dem Lernen aus Erfahren und Denken und Schlüsse ziehen).
Als ich, kommen wir mal zur Kriminalliteratur, die Weiten der Wörter und Worte ausloten musste und mir langsam aufging, ein Verweilen in den garstigen Welten der Herrschaften Hammett, Himes, Simenon (doch, auch garstig) et al sei meinem geistigen Wohlbefinden bekömmlicher als ständiges Pauschalreisen mit REGIOTOURS oder NORDLAND-EXPEDITION.
So kam man also zu seinem, nun ja: Geschmack. Und der Lebensrest gestaltet sich fortan als ein Hinterherhecheln, immer diesem Geschmack auf der Spur, die Genießerzunge hängt aus dem Maul, das sich – Fehlgriff! – sofort vexiert, wenn man wieder mal in Kreis gelaufen ist und die alte Spur aufgenommen hat, die von damals, als man – siehe oben – jung und dumm durch die Kriminalliteraturgeschichte gewetzt ist und – ich wage es kaum zu sagen – Agatha Christie für den Höhepunkt des Genres hielt.
Oder plötzlich eine neue Spur erschnüffelt. Eine, die weitab von der Bestätigung all dessen liegt, was man so erwartet. Darf nicht sein. Krimi ist Unterhaltung und Unterhaltung eine Einbahnstraße. Ich fahre ans Meer, weil ich das Meer verdammt noch mal LIEBE, also fahre ich immer ans Meer und nicht in die Berge, auch wenn’s beim 40. Male langweilig wird, immer diese Wellen, dieses Ebbe und Flut, diese in den Sand scheißenden Hunde. Egal. Meer. Immer. Was muss ich früher blöd gewesen sein, als mir die Berge als Ziel erstrebenswert erschienen! Und wie sehr verblödet, wenn sie mich heute, wo ich doch ein Kenner bin, wieder reizen könnten!
Doch. Die Dummheit der Jugend war Segen und Fluch zugleich. Ein Segen, weil man sich noch außerhalb der Endlosschleife befand, diesem „Ich mag alle Krimis, die irgendwie… äh… kritisch sind, nicht wahr?“. Ein Fluch, weil man, um seine Dummheit abzulegen, ja doch in diese Schleife geraten musste. „Also hören Sie mal, ich ziehe mir gerne einen Landhauskrimi rein und anschließend einen Noir und dann lese ich den neuesten Saarlandkrimi und wenn dann noch Zeit ist gleich alle 75 Maigrets hintereinander.“ Das kann man doch keinem sagen, oder? Das zerstört doch die Fassade der Kennerschaft, die man sich in all den Jahren mühsam aufgebaut hat und jetzt permanent neu anstreichen muss, damit sie wieder so aussieht wie am Anfang, also in den guten alten Zeiten, als ähem ziemlich alt…
Überhaupt: Ich lese Krimis nicht nur zur Unterhaltung. Gut; es lässt sich manchmal nicht vermeiden, dass einen ein Buch gut unterhält. Aber laut sagen darf man das nicht. Wer würde denn pausaunen, es ergehe ihm bei der Lektüre von Kafkas „Schloss“ immer ganz prächtig gutlaunig, so richtig schön heimelig und spannend? Kein Mensch, jedenfalls kein Kenner. Der Kenner liest keine Bücher, er arbeitet sich an ihnen ab. Um am Ende – Affirmation, Affirmation! – sagen zu können: Genau. So sehe ich das auch seit 1958, als ich den Zustand jugendlicher Dummheit und vergnügungsgesteuerten Querlesens endlich hinter mir ließ. Ich bin inzwischen so weit zu glauben, dass nirgendwo sonst die denkresistenten Bestätigungsautomaten so zahlreich und saturiert Erkenntnis produzieren wie in der „Hochliteratur“ und ihrem Genrependant, dem „Hochkrimi“. Du fährst nicht ans Meer, weil das dich immer wieder aufs Neue überrascht, du fährst nur noch ans Meer, damit du das Überraschende sofort als eine Bestätigung dessen vereinnahmen kannst, was du immer schon gewusst hast. Ein Hund, der plötzlich auf einem Surfbrett auf der Gischt reitet? Ja, ja. Der wird genauso wie alle anderen Hunde gleich am Strand anlanden und in den Sand scheißen. Na, prima! Wusst ich’s doch!
Manchmal denke ich, es wäre das Beste, man hätte von allem keine Ahnung. Keine Ahnung von Literatur, von Krimis, vom Leben. Man könnte noch einmal neu anfangen. Wollüstig Landhauskrimis lesen, sich atemlos fragen: Wer wars? Okay, vorbei. Man hat schließlich Ahnung. Und bekommt es doch immer wieder bestätigt, ja? Vielleicht ist es aber auch so, dass, wer Ahnung hat, am Ende überhaupt keine Ahnung mehr haben kann, was das eigentlich ist: Lesen. Literatur. Da hockst du glotzend am Meer und plötzlich türmen sich die Wellen zu Bergen und auf dem Gipfel erscheint ein Gamsbock und tut, was Gamsböcke tun, er miaut oder bellt und scheißt auf die Fische, die das Wasser unter ihm in die Höhe gehoben haben. Völlig irrwitzig, nein, ich hab keine Ahnung, was das soll und wo ich gerade bin und wie ich da wieder rauskomme, und es bestätigt mir nur, dass wer liest und nach der Lektüre seinen Geschmack nicht geändert hat, eigentlich gar nicht gelesen hat, sondern nur, höchstens: die Zeit totgeschlagen.
dpr
*nach Selbstdiktat bis Donnerstag oder Freitag anderweitig beschäftigt