Es wird Zeit, mal wieder auf Jean Amila hinzuweisen, jenen hierzulande allzu lange unbekannten und unübersetzten Vertreter der französischen série noire. Seit einigen Jahren hat sich der Conte Verlag Amilas angenommen und nun mit „Die Abreibung“ den fünften Band vorgelegt – einen besonders guten obendrein.
Die ganze Story spielt sich in einer einzigen Nacht ab. Irgendwo in Paris abseits der Sehenswürdigkeiten, in der schäbig-trostlosen Vorstadt mit einem Krankenhaus hinter einer schier endlosen grauen Mauer. Gegenüber eine Werkstatt, und dort hat René Lecomte, der große Gangsterboss, noch eine Rechnung offen. Gerade erst aus dem unfreiwilligen überseeischen Exil heimgekehrt, will er Schulden eintreiben, doch die Sache geht schief. Lecomte erwischt es schwer, er schleppt sich auf die andere Straßenseite ins Krankenhaus – und jetzt fangen die Probleme erst richtig an.
In diesem Krankenhaus hat gerade der Nachtdienst begonnen. Assistenzärzte, Helferinnen und drei Krankenpflegeschülerinnen sind zugegen. Derweil gerät die Pariser Unterwelt in Aufruhr. Ist Lecomte tot? Wer wird sein Nachfolger? Allmählich sammeln sich die interessierten Parteien rund um das Krankenhaus. Lecomte ist NICHT tot, er hat die erste Notoperation überlebt. Was passieren muss, passiert: Das Verbrechen hält Einzug in die Welt der aufopfernden Krankenpflege…
Ein hübsches Setting, gar keine Frage. Zwei Welten treffen aufeinander, doch Amila wäre nicht Amila und die série noire nicht die série noire, wenn es bei dieser simplen Konfrontation bliebe. In beiden Welten nämlich machen die kleinen Leute die Drecksarbeit, darin unterscheiden sie sich kaum. Und die Kleinen mucken auf. Die junge und noch idealistische Thérèse, zum ersten Mal im Nachteinsatz, schwankt zwischen gutem Willen und panischer Angst, Aline, die auf der Neugeborenenstation arbeitet, ist angewidert von all diesen Gebärmuttern und was aus ihnen rauskommt. Derweil sich Sylvie den Annäherungsversuchen des Assistenzarztes zu erwehren hat. Nein, gar so nett und sauber ist das wirklich nicht. Die Patienten nerven oder werden frech, ein Fehler kann verhängnisvoll sein und alle hoffen, dass die Schicht bald zu Ende sein wird.
Ganz allmählich merkt man, dass hier keine zwei Welten aufeinandertreffen, sondern zwei verblüffend ähnliche Manifestationen ein und derselben. Auch die Gangster da draußen müssen irgendwie klarkommen, wollen „Karriere“ machen, haben ihr Dasein als Befehlsempfänger dicke, schwanken zwischen Treue und Eigennutz, man verbündet sich und pumpt sich im nächsten Moment gegenseitig mit Blei voll, ganz zu schweigen von den Bullen und den Ärzten und den Schwestern…
Am Ende überschlagen sich die Ereignisse. Das Krankenhaus wird zum Schlachtfeld, unsere drei Lernschwestern haben an Lebenserfahrung gewonnen und die LeserInnen einen Text kennengelernt, der ihnen skandalöse 54 Jahre lang vorenthalten worden ist. Schnell und mit viel Witz erzählt, ohne gleich witzig zu sein, ökonomisch hingetuschte Charakterbilder, die aus Gangstermilieu und Krankenhausatmosphäre eine verblüffend homogene Welt machen, die uns merkwürdig bekannt vorkommt. Und obwohl nach 184 Seiten alles gesagt ist, was gesagt werden sollte, hätte man gerne noch weitergelesen. Danken wir Gott und Conte, dass die Amila-Reihe fortgesetzt wird.
(Hinweis: Der Rezensent ist Autor des Conte Verlags.)
Jean Amila: Die Abreibung.
Conte 2009
(La bonne tisane, 1955. Übersetzt von Helm S. Germer).
184 Seiten. 10 €