Dem Himmel sei dank, ich bin eine Erstgeborene. Für Erstgeborene ist die ganze Welt ein Abenteuerland, denn sie haben keine älteren Geschwister, die sie ihnen erklären. So können sie entdecken und immerzu entdecken und dabei viele kuriose Erfahrungen machen: lots of stuff, mit dem sich später Kolumnen füllen lassen. Man sieht: es ist nicht unwichtig, an welcher Stelle man in der Geschwisterchronologie steht. Langjährige Forschungen ergaben, daß Rebellen und Rädelsführer (Che Guevara und Konsorten) meist jüngere Geschwister sind, die sich gegen alles, aber auch einfach alles auflehnen. Anders werden sie nämlich nicht beachtet, denn die angesehenste, verantwortungsvollste Position haben ja schon die Erstgeborenen inne. Die sind in der Regel damit beschäftigt, jüngeren Geschwistern Vorschriften zu machen und die Delegationswünsche der Eltern zu erfüllen. Viele von ihnen werden Kolumnisten. In der Tat ist es Zeit für eine empirische Untersuchung, die klärt, wieviele aller Kolumnisten Erstgeborene sind. Ich wette, eine ganze Menge. Gott schütze uns Erstgeborene.
Über all dem hätte ich beinah die mittleren Geschwister vergessen, und genau das ist ihr Schicksal: sie sind zu unspezifisch, verschwinden förmlich zwischen den Extremen „Erstgeborene“ und „Nesthäkchen“. Lisa Simpson ist so ein „Sandwich-Kind“, nicht ohne Grund singt sie in ihrem Geburtstagsständchen: „Happy birthday, armes mittleres Kind“. Nicht ohne Grund singt sie sich ihr Geburtstagsständchen selbst!
Und all dies nur, um auf ein Thema zu kommen, dem ich schon länger auszuweichen versuche, aber es dringt nunmal durch alle Ritzen in mein Nähkästchen: die 80er Jahre. Sie liegen momentan förmlich in der Luft, so wie vor hundert Jahren Marx und Freud in der Luft lagen. (Das heißt nicht, daß sich die Leute damals wirklich die Mühe gemacht hätten, ihre Schriften zu lesen: sie lagen halt in der Luft.) Und jetzt liegen die 80er in der Luft. Vergangenheit entsteht dann, wenn die Songs der eigenen Jugend in Frank Laufenbergs Oldie-Sendung als Tages-Hit von vor 10 Jahren laufen. Heute macht das, glaub ich, Klaus Schürholz: Frank Laufenberg ist selbst schon Vergangenheit! Und SWF 3 überhaupt jetzt auch…
Jüngst las ich, daß mein Lieblingskolumnist Max Goldt in seiner Jugend jede Woche im Radio die Hitparade hörte und alle Plätze fein säuberlich in ein Schulheft eintrug, sogar mit den Plazierungen der Vorwoche in Klammern. Er äußerte den Plan, mit weiteren Artgenossen in punkto jugendlicher Listenführung eine Selbsthilfegrupppe zu gründen. Da sollte ich mich vielleicht mal melden, ich hab das nämlich auch gemacht – original! – sogar mit den Plazierungen der Vorwoche in Klammern, Tatsache!!!
In der Hauptsache aber hab ich aufgenommen! Aufgenommen, aufgenommen und aufgenommen. Ich war so süchtig, daß ich sogar die Spots für Hit-Sampler aus der Radio-Werbung aufgenommen hab! 20 K-Tel-Superhits. Nur bei Arkade… Mein Kassettenrecorder war immer auf „Aufnehmen“ plus „Pause“ geschaltet, und die Pause-Taste hab ich schon Sekunden vor den Songs runtergedrückt, damit ich sie pünktlich zum ersten Ton raufschnellen lassen konnte. Meine Lieblingslieder hab ich doppelt und dreifach aufgenommen – zur Sicherheit, falls mal ´ner Kassette was passiert. Dabei muß ich oft den Überblick verloren haben (meist kam ich auch mit dem Beschriften nicht nach), denn ich hab jede Menge Kassetten, auf denen das gleiche Lied fünfmal drauf ist, und das ist unlogisch, denn wäre der Kassette was passiert, wären ja alle fünf Aufnahmen weg gewesen!
Auch meine Klassenkameraden haben viel aufgenommen, und immer nur das Neueste. Aber in einem Punkt haben wir uns unterschieden, darüber komm ich bis heute nicht hinweg: parallel zur Song-Fluktuation in den Charts haben meine Klassenkameraden ihre Kassetten immer wieder überspielt und hatten so jeweils nur die aktuelle Top-Ten zur Hand. Was aus den Charts draußen war, hat nicht weiter interessiert. Ex und hopp. Nicht zu fassen. Ich dagegen hab jeden neuen Charts-Rush archiviert, was mir enorme Probleme in Sachen Leerkassetten-Beschaffungskriminalität bescherte, aber dazu später.
Gestern hab ich in meinen Kassetten-Kartons gewühlt und tatsächlich mal wieder alte Tapes aus den 80ern angehört. Ich kann mir das leisten, denn ich hab ja meine Kassetten nicht immer wieder überspielt! Jedenfalls hab ich irgendwann beim x-ten Zurückspulen desselben Songs eine interessante Entdeckung gemacht: das wahre Faszinosum war gar nicht das Lied selbst, sondern die Stimme nach dem Lied, die sagte „Platz 20 in den deutschen Single-Charts, letzte Woche noch Platz sowieso…“! Kaum zu glauben, aber diese Sätze sind für mich Heimat, Geborgenheit, Mutterliebe… Mit diesen Fetzen bin ich abends ins Bett gegangen, morgens aufgestanden, mittags mit dem Walkman radgefahren. Ich hab Tausende davon, denn aus Angst, neue Titel und Interpreten nicht schnell genug mitschreiben zu können oder den Namen nicht zu verstehen, hab ich die Absagen vorsichtshalber immer mitgeschnitten. Ich hab sogar einen Mitschnitt, wo der Moderator sagt: „Wenn Sie jetzt nicht nachgeblendet haben, sind Sie selber schuld, dann haben Sie meine Stimme nämlich mit drauf“.
Vielleicht schneid ich mal lauter solche Abmoderationen zusammen und mach mir daraus eine ganze Kassette. Die kann ich dann zur Beruhigung vor Prüfungen hören oder wenn ich demnächst im Flieger nach New York sitz, klein und mickrig vor Flugangst. Die anderen hören dann ihre teuren Autogenes-Training-Tapes oder Englisch-Schnellkurse – und ich meine Charts-Notierungen.
Viele Leser werden sich jetzt fragen: Wo hatte das Mädchen nur all die vielen Leerkassetten her, denn Leerkassetten waren doch teuer, und so wie wir die Eltern der Kolumnistin kennen, bekam sie Anfang der 80er höchstens 5 Mark Taschengeld im Monat?!! Stimmt. Und zumal ich auch gar nicht wußte, wo man Leerkassetten kauft. Ich wußte auch nicht, wo es die Vinyl-Singles gab, aus denen sich meine geliebten Hitparaden zusammensetzten. Das meine ich, wenn ich sage, Erstgeborene können die Welt noch selbst entdecken!
Zu den Leerkassetten: wenn man Eltern hat, die als Eheberater arbeiten, hat man auch Leerkassetten. Das heißt, man hat jede Menge Kassetten im Haus, auf denen sich Menschen über Eheprobleme unterhalten („Herr Schneider, verstehen Sie, daß ihre Frau sich dadurch verletzt fühlt?“…) und im Hintergrund die Straßenbahn einer großen Rhein-Neckar-Metropole rauscht. Wenn man diese Kassetten überspielt, macht man sie rückwirkend zu Leerkassetten.
Zu den Singles, dem Stoff, aus dem die Charts sind: sie entdeckte ich erstmals in einer großen, wenn nicht sogar der größten Ruhrgebiets-Metropole überhaupt. Damals war ich elf, mit den Taschen voller Geld, zugesteckt von gutmütigen älteren, weiblichen Verwandten. Davon hätte ich mir viele Leerkassetten kaufen können, doch in der Musikalien-Abteilung eines großen Kaufhauses stieß ich auf eine ganze Wand mit kleinen Schallplatten – und siehe da: es waren all die Songs und Interpreten, die sich in meiner geliebten Hitparade tummelten! Also hab ich mich erstmal eingedeckt – und jetzt kommt etwas, das wirklich wichtige Leute dank Marcel Proust in ihrem Leben immer mal wieder in Fragebögen einsetzen müssen (ich tu´s ungefragt in meiner eigenen Kolumne): die erste selbstgekaufte Schallplatte, ein Topos der biographischen Musiksoziologie! Bei mir war´s „Codo“ von Döf. Und gleich einen Tag später bin ich nochmal hin und hab mir „Leuchtturm“ von Nena und „Comment ca va“ von den Shorts gekauft. Zählt das auch noch?
Das waren also die Initialzündungen meiner Obsession: Charts, Leerkassetten und Singles. Und „Bravo“ nicht zu vergessen! Und die „Top-Hefte“ mit den Texten der aktuellen Hits!! Das mußten nicht immer englische Hits sein, ich war mitunter auch für den Abdruck deutscher Texte dankbar. Bis heute sind diverse Liedzeilen in meiner Muttersprache für mich Quell´ nicht abreißender Spekulationen! Ich hab mir mal die Mühe gemacht, ein paar rauszusuchen, vielleicht kann man sich übers Internet austauschen und Abhilfe schaffen:
Da ist z. B. eines meiner liebsten Lieblingslieder: „Rosemarie“ von Hubert Kah. Den Refrain verstehe ich bis heute nicht ganz. „Aaaah, ich bin jetzt König dieser Stadt“, soweit, so gut. Aber dann? Ich versteh nur sowas wie „Prinz Charles für eine Nacht“. Abgesehen davon, daß da zwischendrin was fehlt – ist das korrekt?
Oder „Berlin“ von Ideal: irgendwo in der circa dritten Strophe versteh ich noch: „Ein Taxi fährt zu Romy Haag, Flasche Sekt hundertfünfzig Mark“. Aber dann: „In Westdeutschland lernt man Geld ???, mal seh´n was im Dschungel läuft.“ Wer kann helfen?
Mein persönliches Lieblingsjahr ist übrigens 1983. Bin ich die einzige, die ein Lieblingsjahr hat? Wenn ja, ist das Anlaß zu Hoffnung oder zu Verzweiflung? Warum 1983, weiß ich auch nicht. Ich war mir dessen allerdings schon 1983 bewußt – nicht erst aus einer rückwirkend nostalgischen Verklärung heraus! Vor kurzem war alle Welt im prä-apokalyptischen Titanic-Fieber. Klar, die Jahrtausendwende steht vor der Tür, und da kriegen viele Menschen Muffensausen. Anfang der 80er gab´s „Das Boot“, quasi die Vorhut der Titanic, und auch ´83 herrschte schon eine Art verfrühter fin-de-siècle-Stimmung, denn viele große Bands lösten sich auf, z. B. Police, Supertramp etc., und alle haben geschrien, nur mir war das wurscht. (Hätte ich allerdings die Solokarriere von Sting vorhergesehen, hätte ich am lautesten von allen geschrien…!) Stattdessen hab ich Ideal, UKW und Yazoo hinterhergetrauert.
Wenn ich so zurückdenk, muß ich sagen, daß sich die Gruppen damals noch mit viel Stil trennten und dies vor allem immer lange vorher bekanntgaben. Old-school-Splits! Im Fall von Supertramp konnte man schon von der Chronik eines angekündigten Todes sprechen. (Wahrscheinlich, damit nochmal so richtig viele Fans in die Konzerte kamen. Hinterher konnte man die Trennung ja immer noch abblasen und neu ankündigen, wenn wieder Ebbe in der Kasse war. Oder man trennte sich tatsächlich und kam erst wieder zusammen, wenn die Solokarrieren im Sande verlaufen waren. Übrigens galt Rod Stewarts Welthit „Baby Jane“ damals als sein Comeback, das muß man sich mal vorstellen!).
Aber nochmal zurück zu Supertramp: hier in Deutschland hatten sie ihren letzten Fernsehauftritt in Fuchsbergers „Auf los geht´s los“. Ich fand´s, wie gesagt, nicht weiter schade um die Band mit dem nervigen Fistelstimmensänger, ich hab auch Jon Anderson, Peter Cetera und Philip Bailey gehaßt. Außerdem hasse ich klavierspielende Sänger wie Elton John, Billy Joel, Joe Jackson etc. Man kann sich mein Entsetzen vorstellen, als ich letztes Jahr von einer gemeinsamen Elton-John-und-Billy-Joel-Tour las… Aber ich will hier jetzt kein Faß aufmachen. Obwohl – wenn ich schon mal dabei bin: wie kommt es, daß momentan wieder alle Welt so tut, als wäre Dieter Bohlen der schlimmste Fließband-Produzent aller Zeiten? Erinnert sich niemand mehr an Jeff Lynne??? Hat wirklich niemand mehr die widerlichen Wah-Wah-Songs von ELO im Ohr? Oder handelt es sich um eine kollektive Verdrängungsleistung? Müßte ich Jeff Lynne, Frank Farian, Peter Neuruhrer und Tony Marshall mit verbundenen Augen (Bata weiß, was ich meine…), nur mit den Händen tastend anhand ihrer Frisuren unterscheiden, sähe ich ziemlich alt aus. Vielleicht hätte ich doch nicht in meinen 80er-Jahre-Kassetten wühlen sollen (die Büchse der Pandora…), jetzt ist manch alte Wunde wieder aufgerissen.
A propos Jeff Lynne: was ist eigentlich aus den ganzen Keyboardern geworden, die mit dem Ende der Dekade aus ihren Bands entrümpelt wurden? Keine 80er-Jahre-Band war denkbar ohne Keyboarder. Selbst Hardrock-Combos wie Saga, Loverboy oder Van Halen hielten sich einen Tastenman, der zu ihrem Sound flächige Synthie-Fanfaren beisteuerte. Wenn ich heute Film-Aufnahmen mit 80er-Rock-Gruppen live on stage sehe, muß ich lachen. Und doch stimmt es mich melancholisch: Sag mir, wo die Keyboarder sind, wo sind sie geblieben? Irgendwo sitzen Heerscharen arbeitsloser Keyboarder und grämen sich. Oder sie sinnen auf Rache und führen Finsteres im Schilde, angeführt von den Herren Emerson, Lake und Palmer. Das möge Gott verhüten.
Aber mit den Saxophonisten ist es doch das gleiche. Saxophonisten sind das Insignium ausgeprägter Dekadenz, nur Dandy-Gruppen wie Spandau Ballet oder Supertramp konnten sich einen Saxophonisten leisten. Und heute, wo sind die einstigen Quälgeister? Abgetaucht in den Jazz-Underground, wo sie aufgrund ihrer Pop-Vergangenheit so verfehmt sind wie Fernsehschauspieler am Theater? Wir werden es nie erfahren, und auch mein Büchlein „Zitate von A bis Z“ weiß keinen Rat. Aber ein Bonmot, mit dem ich dieses Dokument des Hasses beschließen will: „Können wir nicht alle dichten, so wollen wir doch alle richten“. Genau! In zwei Wochen mehr davon.