Schule der Rezensenten -5-

rezensent1.GIF

Der Chirurg öffnet die Bauchdecke des Patienten, um den Zustand der inneren Organe zu untersuchen. Danach befinden sich im Körper des Patienten: ein Skalpell, das Glasauge des Chirurgen, ein dem Anästhesisten verlorengegangenes Hustenbonbon, ein Stückchen Mull und zwei Papiertaschentücher unbekannter Herkunft. Da der Patient über Schmerzen klagt, öffnet der Chirurg kurz darauf die Wunde noch einmal – und schreibt einen hochkompetenten Bericht über all die merkwürdigen Dinge, die er da gefunden hat und die er der ungesunden Lebensweise des Patienten anlastet.

Auch der Rezensent inspiziert das Innere eines Buches wenigstens zweimal. Er liest und sammelt Informationen, er denkt über diese Informationen nach, gewichtet sie, wertet sie, fasst zusammen, schreibt auf. Aber so wie bei unserem etwas zerstreuten Chirurgen etwas schiefgelaufen ist, so ist auch der Rezensent nicht vor dem Kunstfehler aller Kunstfehler gefeit. Etwas zu interpretieren, was er selbst im zu kritisierenden Text deponiert hat.

Kommen wir noch einmal zu meiner →Rezension von Jeff Lindsays „Des Todes dunkler Bruder“.

„Eigentlich, so denkt man, hat Lindsay einen Roman über die Obsession des Schreibens geschrieben, einen Roman über das Ungeheuerliche, das da jeder, der zu schreiben anfängt, ins kulturell Wertvolle überhohen mag. Vielleicht auch eine Hommage an Ellroy (nicht zu beweisen) und oder de Quincey (noch weniger zu beweisen).“

Dass wir es hier mit einem „Roman über die Obsession des Schreibens“ zu tun haben, ist eine Hypothese, die der Rezensent selbst aus einer Hypothese entwickelt hat. Er beschreibt es als eine Art „Eingebung“, unter der wir nichts weiter verstehen wollen als einen Weg, der sich ihm plötzlich in diesem Textgestrüpp geöffnet hat. Der Rezensent begründet den Bezug zu de Quincey durch des Romanhelden offenkundige Vorliebe für die Ästhetik des Mordens, den zu Ellroy durch das Romanende, die „Auflösung“, die sich rasch als ein innerfamiliäres, frühkindliches Trauma des Helden als Kind erahnen lässt.

Diese Hypothese mag naheliegend sein; es könnte sich jedoch auch um das Ergebnis einer „Nachoperation“ handeln, deren Vorgängerin verpfuscht wurde. Hat der Rezensent die Bedeutung, die er dem Text beimisst, dort selbst abgelegt? Ist seine Beweisführung stichhaltig? Ist es nicht vielmehr so, dass er es so lesen mag, weil die Lektüre bestimmte, an Vorbildung gebundene Assoziationen ausgelöst hat, dass aber jeder andere Leser (oder sagen wir: die meisten) es niemals so lesen würden?

Ohne Zweifel. Aber wäre es nicht eher ein Argument für die Vorgehensweise des Rezensenten, wenn er dem Leser eine Interpretation schenkt, die dieser wohl ohne die Kritik nicht gehabt hätte? Schön; das führt uns etwas vom Thema weg. Sicher ist auch die Organsammlung samt unseres unglücklichen Patienten samt der unfreiwilligen Beigaben für jeden Interessierten etwas, das er so noch nicht erlebt hat. Die Frage ist aber: Kann das legitim sein?

Gehen wir kurz zur Eingangsszene zurück. Der Arzt öffnet die Bauchdecke des Patienten. Er prüft Beschaffenheit und Funktion der inneren Organe. Mag sein, dass er vieles auf den ersten Blick erkennt, manchmal jedoch bleibt auch ihm nichts weiter übrig, als zu interpretieren, Schlussfolgerungen zu ziehen, von deren Richtigkeit er nicht unbedingt überzeugt sein kann, die ihm indes hinreichend erscheinen, gezogen zu werden. Dann näht der Arzt die Bauchdecke seines Patienten wieder zu. Und so wie der Patient zu jammern beginnt, so kann auch ein Buch, das man falsch behandelt hat, in Wehklage ausbrechen. Entscheidend ist, dass man dieses Jammern hört und richtig deutet. Für den Rezensenten heißt das: Mach dir von dem, was du gerade gelesen hast, dadurch ein Bild, das du es aus den Informationen in deiner Rezension nachvollziehst. Erinnern dich die Gedanken, die Gefühle, die du jetzt hast, immer noch an die Gedanken, die Gefühle, die du beim Lesen hattest? Bist du immer noch davon überzeugt, dem Buch „gerecht“ geworden zu sein?

Das ist leicht gesagt; angesichts der Tatsache, dass immer, wenn ich 400 Seiten Buch in eine Seite Rezension bannen möchte, irgend etwas auf der Strecke bleiben muss, genügt es schon, mir sagen zu können: In Ordnung. Das ist eine Lesart des Textes. Eine auch, die dem Leser nicht direkt entgegenspringt, die er auch ohne meine Rezension entdeckt hätte. Ich liefere dem Leser Informationen über das Faktische hinaus, es ist ein Angebot, weiter nichts, es ist ein seriöses Angebot, wozu auch gehört, dass es der Leser nicht annehmen muss.

Als Rezensent läuft man hier immer auf dünnem Eis, und die Last der eigenen Referenzsysteme aus Bildung und Vorlieben, aus Annahmen und Erfahrungen drückt schwer auf den Schultern. Das muss man aber aushalten. Und wenn man dann doch einmal einbricht? Raus und weiterlaufen.

dpr

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert