Manchmal, da sitzt man bräsig vor dem flimmernden Fernseher, schaut sich irgendein Wissenschaftsmagazin oder einfach die Nachrichten an und stellt fest, daß wieder ein Roman über Nacht von fiction zu faction geworden ist. Vielleicht liegt das daran, daß den Erzählern solcher Zukunftsprognosen die weitreichenden Visionen fehlen, wie sie beispielsweise Karl Marx hatte. Jules Vernes Visionen vom 20. Jahrhundert haben wir heute bereits hinter uns gelassen. Karl Marx‘ Vision von der klassenlosen Gesellschaft ist heute utopischer denn je. Noch ein Beispiel: Marini und Smolderen entwerfen ein Szenario für einen Comic, der im postkommunistischen Rußland angesiedelt ist. Es zeigt ein Weltreich in Entropie: Mongolen, Zaristen, Kapitalisten, Freischärler und Separatisten, sie alle prügeln sich um die Macht.
Zurück zu den Nachrichten: Putsch in Moskau. Teile der Roten Armee, Kommunisten und KGB machen Front gegen die gewählte Regierung. Der Generalsekretär der KPDSU wird entführt. Der Putsch scheitert. Dennoch, die Sowjetunion zerfällt, Staaten verlassen die Union, übrig bleibt die GUS. Doch das neue antikommunistischen Rußland kommt nicht zur Ruhe: das Land ist marode, die Verwaltung korrupt, die ethnischen und politischen Konflikte nehmen zu. 1995 sagt sich ein Staat von der Größe Schleswig Holsteins los aus dem russischen Staatenbund. Truppen marschieren ein und es beginnt der Krieg in Tschetschenien. Im Laufe eines Jahres wird er zu einem zweiten Afghanistan.
Im dritten Band von Marini und Smolderens Reihe GIPSY beginnt die Schlacht um den sibirischen Posten Zigansk. Die Zaristen, denen auch die Hauptfigur wider Willen angehört, nehmen die Stadt ein. Das kapitalistische Entsatzkommando wird niedergemacht und für einen kurzen Augenblick scheint sich ein neues zaristisches Zeitalter für Rußland anzubahnen. Aber eben nur für einen kurzen Augenblick, denn auch die Zaristen sind gespalten. Hinter den Fassaden ziehen Geheimbündler die Fäden, die versuchen an die Macht zu gelangen. . .
Marini und Smolderens postmoderne Vision des russischen Weltreiches hat auch im dritten Band dieser Reihe nichts von ihrer Faszination eingebüßt, zumal jedes einzelne Album eine hermetische Episode bringt, die sich ohne Kenntnis der bereits erschienenen Bände lesen läßt. Ganz besonders herauszustreichen ist die Kolorierung dieses Comics. Das Spiel mit warmen und kalten Farbtönen unterstreicht meisterhaft die Stimmung der Erzählung, die sich bedeutungsschwanger zwischen opulenter Sinnlichkeit und harter Action vorwärtsbewegt.
Marini/Smolderen
GIPSY
Bd. 3: DER TAG DES ZAREN
Feest Comics 19,80 DM
ISBN 3-89343-379-1