Uff, die Wahl ist rum. Obwohl ich es jedesmal wieder liebe, diese Stimmabgabe so richtig live und vor Ort, diese Zeitreise ins Wahllokal (das immer in einer Schule sein muß!) mit seinem vorsintflutlichem Retro-Charme, der nichtmal durch ein einziges winziges Bit Hightech gemindert wird! Dies war meine dritte Bundestagswahl, und jedesmal in einer anderen Stadt. Aber mit Wahllokalen ist es dasselbe wie mit McDonalds-Filialen: sie sehen alle gleich aus und sind deshalb an jedem Ort ein Stück Heimat. Da sind die häßlichen, nackten Sperrholzkabinen, die mausgraue Plastikurne – wie immer herrlich improvisiert mit dem obligatorischen Schnellhefter abgdeckt -, in die man mit betont harmloser Miene seine demokratische Briefbome fallen läßt. Da sind die freundlichen, wie immer geschäftig mit zahlreichen Listen raschelnden Wahlleiter, denen man gern noch mahnend zurufen möchte: Schön aufpassen nachher beim Auszählen!
Und jetzt weiß ich auch, warum mein Stadtteil „Alt-Saarbrücken“ heißt. Das war mir bisher nicht so klar, die Saarbrücker Altstadt (oder das, was man hier dafür hält) liegt nämlich in einem ganz anderen Bezirk. Gut, ich wußte, daß ich nicht grad im Studentenviertel wohn, aber nur selten hab ich mich altersmäßig so deplaziert gefühlt wie am 27. September in meinem Wahllokal morgens um zehn. Vielleicht haben um diese Zeit auch nur ein paar Kirchen, von denen es hier mehr als Supermärkte und stümperhafte Bäcker zusammen gibt, ihre Klientel ausgespuckt; jedenfalls kam ich mir vor wie in der geriatrischen Abteilung Saarbrückens. Das war toll, denn zwar waren viele Menschen vor mir am Eingang und im Foyer der Wahllokal-Schule, fielen aber spätestens an der Treppe weit hinter mir zurück, und so sparte ich etliche Minuten und sammelte wertvolle Punkte fürs dunkelrote Trikot. Die Formulierung „wertvolle Punkte“ hab ich mir bei Herbert Watterott geklaut, der sie sich eigens für seine Live-Kommentare der Tour de France zurechtgelegt hat, da sammelte etwa Jan Ullrich „wertvolle Punkte für´s gelbe Trikot“ oder Eric Zabel „wertvolle Punkte für´s grüne Trikot“ oder irgendwer „wertvolle Punkte für´s Bergtrikot“ usw. – egal wer und egal welches Trikot: es waren immer wertvolle Punkte, so daß irgendwann auch der letzte Tour-Laie kapiert hatte, daß es sich nicht um Minus-Punkte handelte. Nochmals vielen herzlichen Dank für diese umsichtige Betreuung, Herbert Watterott!
Wo ich grad dabei bin: hat noch jemand außer mir den Balanceakt des ARD-Kommentatorengespanns Emig/Watterott mitbekommen, der sich vor circa zweieinhalb Monaten ereignete, als der legendäre Berg Tourmalet Teil der Tages-Etappe der Tour de France war? Sicher eines meiner diesjährigen TV-Highlights!!! Also: es begab sich aber, daß neben der sportlichen Berichterstattung als kleines Bonbon für die Zuschauer auch ein tägliches Gewinnspiel angeboten wurde, dessen Lösung an diesem Tag in der Angabe des Jahres bestand, in dem der Tourmalet erstmals Bestandteil der Tour war.
Verfolgte man die Sendung bereits von Anbeginn an, also noch vor der eigentlichen Live-Übertragung der Tour selbst, war die Beantwortung der schweren, schweren Quizfrage ein Leichtes, denn ungefähr 20 Beiträge zur Erläuterung der anstehenden Etappe wiesen auf das Jahr 1910 hin, als der Tourmalet zum erstenmal bla bla… Auch die Herren Emig und Watterott hätten jenes Jahr während der Live-Übertragung gern genannt, wurden jedoch vom stündlich ausgestrahlten Gewinnspiel immer wieder daran erinnert, es vielleicht doch besser zu lassen. Vor allem Herbert Watterott vollführte einige bewundernswerte Kapriolen, immer haarscharf an des Rätsels Lösung vorbei, und ließ dem Zuschauer mehrfach den Atem stocken und das Blut gefrieren. Kollege Emig dagegen reagierte zunehmend gereizt und ließ seinen Co-Kommentator wissen, man bräuche ja wohl kein Gewinnspiel zu veranstalten, wenn man die Lösung gleich mitliefere. Das fand Herbert Watterott auch und setzte noch ein allerletztes Mal zu einem seiner lebensgefährlichen Verbal-Kunststücke an, d. h. er gab ein paar wertvolle Tips zum Lösungsjahr, ohne dieses direkt zu nennen, etwa daß im selben Jahr der Rotkreuz-Gründer Dunant das Zeitliche segnete etc. Und ups! – jetzt sei ihm die Jahreszahl beinah rausgerutscht, so Watterott. Und weiter: „Das ist ja in der Tat auch schon ganz schön lange her, genauer gesagt 88 Jahre! Ääh, ääh…“ Dann herrschte eine lange Minute Stille, und vor meinem geistigen Auge würgte ein aufgebrachter Jürgen Emig einen zerknirschten Herbert Watterott…
Aber nochmal zurück zur Wahl, einem extrem dankbaren Ereignis für schreibblockadengeplagte Kolumnisten. Eigentlich war es wie ja immer, nur zum allerersten Mal haben mich die Wahlwerbespots im Fernsehen nicht genervt! Kein Wunder, denn diesmal gab es etwas noch viel Nervigeres, nämlich das „Wahl-Lexikon“ im ZDF-Morgenmagazin, ein politisches ABC für kleine Dummis unter den Zuschauern. Auch von anderen Programmen wurde man noch schnell vorm Urnengang gebrieft und lernte, was Legislaturperioden, Zweitstimmen und Direktkandidaten sind. Der Schlager eines jeden Wahl-Lexikons aber heißt „Überhangmandate“! Das sind -, ähm, tja… Jawohl, ich gestehe: ich kann´s noch immer nicht erklären. „Überhangmandate“ sind in der Politik ungefähr das gleiche wie „Abseits“ im Sport. Man weiß es so dunkel, aber im Grunde… Und das mir, Gemeinschaftskunde Leistungskurs! Aber das war noch fast in den 80ern, und da gab´s wahrscheinlich noch keine Überhangmandate, denn sonst wüßte ich bestimmt, was das ist… Naja, ich hab auch mal als Neuntkläßlerin im Sozialkundeunterricht behauptet, in Deutschland gäbe es Wahlzwang, also jeder Wähler würde notfalls an den Füßen ins Wahllokal geschleift. Das kam, weil ich meine Mutter mal gefagt hab, ob man eigentlich wählen muß, und da passierte wohl ein kleines Mißverständnis. Wie peinlich! Außerdem hab ich in meiner mündlichen Soziologie-Zwischenprüfung behauptet, der Bundeskanzler würde direkt gewählt, wo doch jedes Kind weiß, daß der Bundeskanzler nicht direkt gewählt wird. Mir fiel es angesichts des entsetzten Gesichts meines Professors auch augenblicklich wieder ein. Aber ich hatte halt am selben Tag noch mittags zu meinem damaligen Freund gesagt: „Den Scharping wähl ich nicht!“ Deshalb ein solcher Kurzschluß. Okay okay, es war dieselbe Prüfung, in der mich mein Professor nach einem wichtigen, ziemlich prägenden Ereignis in der französischen Geschichte fragte, das wir Deutschen hingegen so nicht vorzuweisen hätten, was das wohl sei? Nun, ich konnte jede Menge Spitzfindigkeiten über die Nachkriegszeit (mein Thema!) aufzählen, die alle bewiesen, daß da jemand wirklich gelernt hatte – doch von dem Drama, daß sich unterdessen in meinem Kopf abspielte, ahnte ich nichts: in einer Haarnadelkurve meines Kleinhirns stand die Französische Revolution, verzweifelt winkend. Aber die Verbindungssynapsen zum Großhirn hatten schon Dienstschluß, und so war mein Prof gezwungen, sich seine Frage selbst zu beantworten.
Du liebe Güte, wie komm ich denn dazu, hier lauter unangenehme Intimitäten auszuplaudern? So war das eigentlich nicht gedacht!!! Wurde mir ein Wahrheitsserum injiziert? Schreib ich am Ende gar unter Hypnose? Wußten Sie, daß Kolumnisten neben Talkshowgästen die Hauptklientel von Psychotherapeuten sind? Uns unterscheidet nur eines: bei den Talkshowgästen ist klar, daß sie schon vorher nicht ganz dicht gewesen sein können, aber wir Kolumnisten werden erst durch unseren kräftezehrenden Job zu nervlichen Wracks. Wir sind die vergessenen Vorruheständler, die Ende September ein zusätzliches 3-Millardenloch in den Bundeshaushalt rissen. Mein Makler sucht mir bereits ein Türmchen in Tübingen…
Bald flieg ich übrigens nach New York (juhu!), und introspektiv, wie ich nun mal bin, entdecke ich momentan an mir selbst zahlreiche Nebeneffekte meiner Reiseplanung, die ich so noch gar nicht kannte. Punkt eins: normalerweise hab ich im Jahr zwei „Kauflöcher“ von jeweils drei Monaten. Eins zieht sich von Januar bis März, und das andere von Juni bis September („Ja, mit Sonnenschein von Juni bis September…“). Ab September fang ich jedes Jahr an, mir selbst Dinge zu Weihnachten zu schenken, denn das ist Grund genug, was zu kaufen. Das gleiche gilt für die Zeit von März bis Juni: da schenk ich mir schonmal Sachen zum Geburtstag. Das ist immer Klasse, wenn jemand zum Beispiel sagt: hey, diese Gummi-Mickey-Maus ist aber toll. Dann sag ich: ja, hab ich schon im voraus zum Geburtstag bekommen, und die Person fragt dann: von wem?, und dann sag ich: von mir. Wie gesagt, von Juni bis September ist normalerweise nix (eigentlich würde es jetzt so langsam wieder losgehn), aber wenn man eine Flugreise im Herbst plant, sieht die Sache natürlich ganz anders aus. Was ist zum Beispiel, wenn ich abstürze? Wenn, dann jedenfalls nicht, ohne die neue „Faithless“ gehört zu haben, die ich mir infolgedessen sofort kaufen muß. Und warum mir den „Lola rennt„-Soundtrack zu Weihnachten wünschen, wenn ich da vielleicht schon bei die Fische bin? Nee, der muß gleich her.
Punkt zwei: leidige Erledigungen. Toll ist so´ne Flugreisen-Planung nämlich auch in bezug auf anstehende Prüfungen. Denn warum mir meine vielleicht letzten Lebenswochen mit Lernen verderben?!! Da würde ich mich sicher im freien Fall noch mächtig drüber ärgern… Hhm, eins ist aber schon komisch: wieso noch ´ne neue Winterjacke, wenn ich dann doch vielleicht gar nicht mehr da bin? Oder hätt ich besser ´ne Schwimmweste gekauft? Fragen über Fragen.
Heute war ich übrigens bei Schlecker einkaufen, und seitdem seh ich klarer. Bisher dachte ich immer, Menschen nehmen ab, um irgendwem zu gefallen oder weil die Badesaison ansteht oder so. Mitnichten! Menschen nehmen ab, um bei Schlecker einkaufen zu können! Denn nur Fliegengewichte vermögen sich durch die irrwitzig engen Gänge zwischen den Regalen zu winden! Allein das Tragen eines Rucksacks läßt das Durchstreifen dieser Nadelöhre zum Höllentrip werden. Ich zieh mir zwar zur Sicherheit immer noch schnell ein Extra-Päckchen „Nerven“ am Automaten, bevor ich einen dieser Läden betrete, aber es hilft nichts: Schlecker-Besuche treiben mich in den Wahnsinn! Sicher war Herr Schlecker, der Erfinder der Schlecker-Märkte, als Kind jahrelang in einem Brunnenschacht eingeklemmt oder er mußte sich das einzige Bett mit zwölf Geschwistern teilen. Und weil er es nicht anders kennt, legt er eben auch seine Geschäfte als Sardinenbüchsen an. Das ist Platzangst im eigentlichen Sinn: Angst vor zuviel Platz!
Mit den Strohhalm-Gängen allein ist es aber nicht getan, nein, auf den wenigen Zentimetern zwischen den Regalen ist zwar kein Platz für Kunden, wohl aber – oh Wunder – für unzählige 2 m hohe blecherne Transportwägen mit Produktpaletten, denn bei Schlecker ist immer, immer, immer Entladezeit!!! Das ist komisch, denn oft, sehr oft, geh ich unverrichteter Dinge, aber zermürbt, wieder aus dem Laden, weil´s genau die Sachen, die ich brauch, grad nicht gibt… Ja, bei Schlecker wird das Einkaufen zur Odyssee, denn man kann natürlich nicht einfach so zwischen den Gängen hin- und herhuschen, da stehen ja schon die Blechkarren. Nein, man muß exakt denselben langen Zick-Zack-Weg, den man gekommen ist, auch wieder zurück nehmen. Wären Wälder wie Schlecker-Läden konstruiert, könnten Hänsel und Gretel heute noch leben. Rotkäppchen auch, denn niemand kommt hier vom Wege ab, so sehr er auch möchte. Schlecker-Grundrisse inspirierten einst diverse Freizeitpark-Gründer zur Schöpfung vertracker Labyrinthe, in denen Menschen, die sich gern thrillen lassen, die schönsten Szenen ihrer nächtlichen Alpträume nachspielen können. Kommt zu Schlecker, da gibt´s das umsonst, aber bringt viel Zeit mit!
Und noch was, wo ich grad da– Moment, Augenblick mal, ich muß mir nur gerade ein Taschentuch holen gehen, denn im Fernsehen läuft eine Reportage über die schlimme Not deutscher Ärzte, die so unglaublich gut und selbstlos sind, aber der böse, böse (Ex-)Gesundheitsminister Seehofer…, und da muß ich immer weinen. Am ärgsten hat es die Gynäkologen getroffen: die sind sowas von arm, daß sie sich nicht mal ordentliche Poster für die Praxiswände leisten können. Deshalb schenken ihnen die Patientinnen immer Photos von ihren Kindern, und die Gynäkologen basteln sich daraus dann ganz tolle große Photowände.
Es ist Zeit für einen neuen Teil von „Frl. Katjas Warenkörbchen“. Diesmal hat mich mein Chefredakteur mit einem bunten Tütchen aus einer Wundertüte bestückt, und auch ich halte natürlich die Augen offen, ob´s irgendwo was Blödes für mein neues Verbrauchermagazin gibt. Oder auch was besonders Gutes. Die richtig ekligen Sachen kommen erst in zwei Wochen dran, dann ist mein Bruder zu Besuch bei mir, und da muß ich mir sozusagen nicht selbst die Zunge schmutzig machen. Nein nein, war nur Spaß, ich bin doch kein Geschwisterschinder. Fragt meinen Bruder! Oder nein, fragt besser mich…
Heinerle „Knusper-Reis“
Als ich noch klein war, bin ich am letzten August-Wochenende immer auf die Dorf-Kirmes gegangen, hab den Autoscootern zugeguckt und mir sehr sorgfältig überlegt, wie ich meine 50 Pfennig anlege, die ich in monatelanger Selbstüberwindung angespart hatte. Viel mehr als ein Tütchen wie dieses war selten drin. Ein paar fossile Puffreiskörner, entdeckt bei den Ausgrabungen einer antiken Wasserfarben-Fabrik. Jaaa, die Togen waren weiß, aber Snacks waren auch damals schon bunt! Das mit der „Zunge schmutzig machen“ war übrigens keineswegs metaphorisch gemeint, sondern bitterernst. Ich hab als pflichtbewußte Verbraucherschützerin natürlich den Zungen-Test gemacht, denn für schlechtinformierte Konsumenten kann sowas peinlich werden, wenn man zum Beispiel auf einer Party anmutig lachen will und die Mundhöhle dabei schillert wie eine Farbpalette, noch dazu in den Trend-Farben der frühen 80er: Neongelb, Neongrün, Grellorange und Pink. Ja, in der Tat: von „Heinerle Knusper-Reis“ nur vor Licht-aus-Partys kosten oder wenn´s alle machen, dann fällts nicht so auf. By the way: es gibt da diese Plastikfolie mit eingeschweißten Luftkammern, mit der man fragile Fracht auspolstert. Die eigentliche Attraktion daran aber ist das penible Aufknacken jeder einzelnen Luftkammer mit Daumen und Zeigefinger. Das kann Stunden dauern, weil es süchtig macht. (Ich erkläre mir dieses Spielchen mit dem menschlichen Erledigungstrieb, der den Homo sapiens auch in der Freizeit nicht zur Ruhe kommen läßt und unter anderem für das Bauen von Sandburgen verantwortlich ist.) Jedenfalls: das klappt auch mit „Heinerle Knusper-Reis“ und ist weniger gesundheitsschädlich als der Verzehr.
A-Note: 6
B-Note: 1 (man kann beim Knacken das Tütchen drum lassen)
Zum Schluß schnell noch ein Dankeschön an Herrn König aus Wien von der Zeitschrift „Die Presse“, der an einem Tag Ende September im ZDF-ach so…-Morgenmagazin den Presseschau-Job machte. Dabei erwähnte er eine Zeitung, die dem damaligen SPD-Schatten-Wirtschaftsminister Jost Stollmann zwar eine Titelgeschichte widmete, dort allerdings mit keinem Wort eine höchst umstrittene Passage aus dessen Rede vom Vortag erwähnte, die so kurz vor der Bundestagswahl nochmal für Furore sorgte. O-Ton Herr König: „Den Namen der Zeitung nenne ich jetzt nicht, der zuständige Redakteur wird es heute sowieso schwer genug haben.“ Find ich gut! Ich guck doch keine Presseschau, um informiert zu werden! Presseorgane sind ohnehin vollkommen austauschbar und spielen in Politik und Meinungsbildung keinerlei Rolle, oder? Außerdem zieh ich meinen Hut vor so viel journalistischer Solidarität! Mich stört einzig, daß überhaupt noch auf Inhalte von Presse-Artikeln eingegangen wird, wo es doch auch reichen würde, einfach nur darauf hinzuweisen, daß in irgendeiner Zeitung irgendwas steht, und dabei ein paar geschwärzte Titelseiten in die Kamera zu halten. Um mal vorzumachen, welchen Effekt ich mir davon erhoffe, sag ich jetzt gar nichts mehr.