Frl. Katjas Nähkästchen, Folge 22

Vielleicht ist es nur eine ganz normale Häutung. Vielleicht stimmt es aber auch, was mein Ausweis sagt: ich werde 30.

Indizien gibt es genug. Ich fange zum Beispiel an, merkwürdige Musik zu mögen. Normalerweise, sagt man, fangen Menschen ab 30 an, Country zu hören. In dem Punkt bin ich bekanntlich frühvergreist. Nein, ich fange gerade an, Sinatra zu mögen. Hat man Töne? Ich dachte, Sinatras Ruhm würde mir bis zum Ende des Lebens ein Rätsel bleiben. Stimmlich fand ich ihn ungefähr so potent wie Bob Dylan oder Tom Waits. Mit anderen Worten: ich fand, er kann nicht singen. Und jetzt?

 

Jetzt lausche ich atemlos und ergriffen seinen Interpretationen. Gemerkt? „Interpretationen“ ist nur ein anderer Begriff für Nicht-singen-können. Aber eleganter. Und intellektuell-argumentatorisch auf ganz anderem Niveau. Dem Niveau einer Fast-30-Jährigen. Zeigt mir den ersten Jugendlichen, der Sinatra mag, und ich bin bereit, sofort das Jugendamt einzuschalten. Nein, Sinatra ist was für erwachsene Ohren. Kinder können mit der Lebenserfahrung, mit dem Schmerz und der Verbitterung, den Hochseilakten in Sinatras Stimme noch gar nichts anfangen. 30-Jährige aber beginnen eine Ahnung vom süßen Geruch der Verwesung zu haben. Zum ersten Mal in ihrem Leben. Sinatra ist für sie genau das Richtige.

Punkt zwei ist schon lange latent, mittlerweile aber manifest: ich schaue mit Hingabe Meisterschaften im Eistanzen. Und nicht nur das: ich guck sogar Langlauf und Curling! Das ist doch nun wirklich was für 40-Jährige, oder?

Früher gab´s für mich bei Wintersport-Events nur Eiskunstlauf und Ski-Abfahrt. Schnell, mit Thrill und viel Verletzungsgefahr. Da stehen wir jungen Dinger drauf. Aber gottlob – eine Sache gibt´s noch im Programm, die ist selbst mir zu lasch: das Schaulaufen im Eiskunstlauf. Da kann ich mir ja gleich ne Karte für Holiday on Ice kaufen. Pure Ornamentalik mit rosa Kleidchen und Null Wettbewerb. Also, wenn ich anfang, für´s Schaulaufen spät wachzubleiben, bin ich hoffentlich schon 60. Und brauch sowieso nur noch vier Stunden Schlaf pro Nacht.

Noch einen dritten Fingerzeig gefällig? Bitte. Ich denk neuerdings ernstlich drüber nach, wieder mit Stricken anzufangen! Das konnte ich noch nie richtig. Nur mit 12 hab ich mal einen roten Kissenbezug gestrickt und mit weißem Tüll ein großes Kreuz draufgenäht. Und drunter die Aufschrift „Die Ärzte“.

Und jetzt träum ich auf einmal vom Stricken! Ich – die lebenslang „Textiles Gestalten“-Geschädigte. Sicher kann ich mit ein paar ehemaligen Grundschul-Kameraden mühelos eine Selbsthilfegruppe aufmachen. Meine „Textiles Gestalten“-Lehrerin war sicher eine der zwanghaftesten Personen, die mir je begegnet ist. Nach der Mathelehrerin, bei der wir kollektiv den Füller in die Mitte des Heftes und die Hände in den Schoß legen mußten. Und nach meiner Kunst-Lehrerin, die mir einen Stempel mit schwarzen Händen auf´s Bild gedrückt hatte. Weil ich mein Elternhaus nicht mit dem Lineal gezeichnet hatte, sondern freihändig. Und der Wind durch die Ritzen pfiff, wie sich meine Lehrerin ausdrückte. Dabei hatte ich aufwendig Recherche betrieben und mir von der Straße aus angesehen, wie sich unsere Gardinen von außen machen… Gut, bisschen schief war´s wirklich, das Haus. Aber meine Eltern hatten mir versichert, die echten Künstler würden auch ohne Lineal malen. Das sei völlig okay. Ich wähnte mich in Sicherheit. Und dann das! Da war dann umgehend ein Anruf meiner Mutter bei der Lehrerin fällig. Worauf die Hände mit Kuli durchgekreuzt wurden. Und von einem lustigen Käfer-Druck flankiert… Also, vielleicht sollte ich lieber mal recherchieren, ob das wirklich ´ne Grundschule war, wo mir all das passiert ist. Wo mein Bruder geschlagen wurde und man der Englisch-Lehrerin synchron den Guten-Morgen-Gruß entgegenschmettern mußte. Vielleicht war´s auch ´ne Anstalt. Oder eine Waldorfschule.

Wollt Ihr vielleicht noch ´ne Anekdote aus meiner Kindheit hören? Es ist nämlich mal wieder Zeit, mich selbst zu blamieren. Gut.

Dazu muss man wissen, dass mein Vater damals Sozialarbeiter war. Ja, schon ´ne gute Pointe. Aber das war mir eigentlich gar nicht peinlich. Die Geschichte geht noch weiter.

Sozialarbeiter – was ist das? Hab ich mich damals auch gefragt. Alles, was ich wusste, war, dass er ein schickes Büro in der Stadt hatte. Aber was macht man in einem Büro? Zumal als Sozialarbeiter? Für mich war das jedenfalls alles ziemlich abstrakt. Als der Tag kam, wo wir in der ersten Klasse den Beruf unseres Vaters malen sollten, war ich ganz schön in der Bredouille. Bei derselben Lehrerin übrigens wie oben, mit dem Haus. „Mein Haus! Mein Vater! Mein Auto!“

Schlau, wie ich war, wußte ich mir zu helfen. Und malte meinen Vater als – Eismann! So richtig, mit weißem Kittel und VW-Bus. Großes Hallo in der Klasse! Ob ich dann auch immer umsonst Eis bekäm und so. Na klar. Hätte auch toll so weitergehen können. Bis mich in der Woche drauf eine Klassenkameradin verpetzte. Mein Vater sei gar nicht Eismann und so… War mächtig peinlich. Vor allem bekamen jetzt auch meine Eltern Wind von der Sache. Die fanden das ziemlich lustig. Ein bisschen zu lustig, für meinen Geschmack. Haben versucht, mir den Beruf des Sozialarbeiters zu erklären. Und fanden auch mein neues Bild ganz toll. Das von meinem Vater in seinem Büro.

Epilog: Am darauffolgenden Fasching hat sich mein Vater als Eismann verkleidet. Mit weißem Kittel und bunter Mütze. Meine Mutter wollte noch einen draufsetzen und ging als „Diätköchin“. Mit einem Bauch, der drauf schließen ließ, dass meine Tage als Einzelkind gezählt waren.

Ja, so war das damals. Glaubt Ihr nun, dass ich 30 werde? Nicht, bevor Ihr meinen letzten Beweis zur Kenntnis genommen habt.

Ob Ihr´s glaubt oder nicht, aber ich ziehe einen jungen Plüschbären groß. Er ist sehr schüchtern, ziemlich kapriziös und immer hungrig. Außerdem ist er hochbegabt. Mit seinen fast drei Jahren kommt er jetzt schon in die fünfte Klasse. Er ist super in Mathe und Quantenphysik, und zum Duschen nimmt er statt eines Quietsche-Entchens ein Atom-Modell mit. Wenn ich am Computer „Wer wird Millionär“spiele, möchte er immer als Telefon-Joker angerufen werden.

Ihr glaubt, das funktioniert nicht? Das macht doch viel Arbeit, so´n Bär? Nö, geht eigentlich. Vor allem im Winter. Da hat er ein halbes Jahr schulfrei und pennt den ganzen Tag. Nur die Elternabende sind stressig. Und der Kindergeburtstag im Mai. Da klebt dann hinterher alles. Vom Honig…

Freunde kommen den Bären allerdings selten besuchen. Er ist nicht sehr gesellig. Nur ein kleiner Osterhase aus Holz lässt sich davon nicht abschrecken. Übrigens: das kleine Wohnhaus von IKEA, das wir dem Bären gekauft haben, hat er mittlerweile vermietet. An ein schwules Vogelpaar aus Plüsch.

Ihr glaubt also, ich spinne? Dann fragt mal meinen Mann. Der kreuzt bei Umfragen an: „Haushalt mit drei Personen, davon einer unter 18“. Fragt den doch mal, ob er spinnt.

Und mir wünscht am besten Glück. Für den 30sten. Das ist schon ein bisschen unheimlich, das alles.

Naja, werdet Ihr schon auch noch merken. In zehn Jahren. Geliebte junge Zielgruppe!

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